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ASIEN/668: NATO-Schutzgelder für die Taliban werden zum Politikum (SB)


NATO-Schutzgelder für die Taliban werden zum Politikum

In Afghanistan ist die "Sicherheitsindustrie" die große Gewinnerin


Mehr als ein halbes Jahr, nachdem im letzten Oktober Kelly Beaucar Vlahos in der Zeitschrift American Conservative und im letzten November Aram Roston in der linksliberalen Zeitschrift The Nation das Phänomen der Finanzierung des Aufstands in Afghanistan durch Schutzgeldzahlungen der NATO ausführlich beleuchtet hatten, haben Amerikas regierungsnahe Zeitungen jenes Thema, das den ganzen Widersinn des Kriegseinsatzes der nordatlantischen Allianz am Hindukusch deutlich macht, endlich entdeckt. An einem einzigen Tag, dem 22. Juni, konnten man darüber in der New York Times den Artikel "U.S. Said to Fund Afghan Warlords to Protect Convoys" ("USA bezahlen angeblich afghanische Kriegsherrn zum Schutz von Konvois") von Dexter Filkins und in der Washington Post den Bericht "U.S. indirectly paying Afghan warlords as part of security contract" ("USA bezahlen afghanische Kriegsherren als Teil eines Sicherheitsvertrags") von Karen DeYoung lesen.

Anlaß für das plötzliche Interesse von Amerikas Konzernmedien an den Geschäftsgepflogenheiten im afghanischen Transportsektor war die Veröffentlichung des 79seitigen Kongreßberichts "Warlord, Inc., Extortion and Corruption Along the U.S. Supply Chain in Afghanistan" ("Kriegsherr AG - Erpressung und Korruption entlang der US-Versorgungslinie in Afghanistan"), der am 21. Juni in Washington veröffentlicht worden war. Unter der Leitung von John Tierney, einem demokratischen Kongreßabgeordneten aus Massachusetts, haben sich die Mitglieder des Unterausschusses nationale Sicherheit des House Committee on Oversight and Government Reform und ihre Mitarbeiter ein halbes Jahr lang mit den Rahmenbedingungen der NATO-Logistik in Afghanistan auseinandergesetzt. Dabei sind sie zu einem erschreckenden Ergebnis gekommen. Ein nicht geringer Teil der Schutzgelder, die dafür sorgen, daß die Soldaten auf den rund 200 NATO-Stützpunkten in Afghanistan von Bagram im Norden und Kandahar im Süden aus auf dem Landweg mit Lebensmitteln, Trinkwasser, Treibstoff, Munition und vielem mehr versorgt werden, fließt in die Taschen der Taliban und anderer aufständischer Gruppen.

Im Mittelpunkt der Untersuchung des Kongreßauschusses stand der Host Nation Trucking Contract (HNT) des Pentagons zur Belieferung der NATO-Basen in Afghanistan, der jährlich 2,2 Milliarden Dollar verschlingt. An dem Vertrag zur Versorgung der ausländischen Streitkräfte sind drei Speditionsunternehmen aus den USA, drei aus dem Nahen Osten und zwei aus Afghanistan beteiligt, die im Jahr rund 8000 Lastwagenkonvois auf die Straße schicken. Zum Schutz dieser Konvois werden afghanische Sicherheitsfirmen engagiert, deren Inhaber Schutzgelder an örtliche Warlords, Großkriminelle, korrupte Polizeibeamte oder die Taliban zahlen, um die Lastwagen, ohne irgendwelche unangenehmen Überraschungen unterwegs wie einen Überfall, eine Minenexplosion oder eine Entführung zu erleben, durchgelassen zu bekommen. Dies überrascht wenig. Schießlich stehen ungeachtet der NATO-Präsenz weite Landstriche Afghanistans insbesondere im Süden und Osten nach wie vor unter der Kontrolle der Taliban und ihrer Verbündeten.

Im Bericht heißt es: "Die Kriegsherrn stellen Wachleute zur Verfügung und koordinieren die Sicherheit. Die Auftragsunternehmen haben kaum eine andere Wahl, als sie zu nutzen - was auf einen gigantischen Schutzgeldschwindel hinausläuft. Die Konsequenzen sind eindeutig: Die Speditionsunternehmen, die die Kriegsherren der Straße für Sicherheit bezahlen, erhalten Schutz; Speditionsfirmen, die nicht bezahlen, glauben, daß sie mit um so größerer Wahrscheinlichkeit angegriffen werden. In der Folge bezahlt fast jeder." Im Bericht wird die Summe, welche die Aufständischen auf diese Weise verdienen, auf 1,6 bis 2 Millionen Dollar pro Woche geschätzt - das ergibt zwischen 80 Millionen und 100 Millionen Dollar im Jahr. Dafür kann man sich im bettelarmen, kriegsgeschundenen Afghanistan einen ganz ordentlichen Aufstand leisten.

Dabei liegt diese Schätzung vermutlich zu niedrig. In einem Interview mit CBS News, das am 22. Juni auf deren Website erschienen ist, erklärte Tierney die genannte Summe zur "Spitze des Eisberges" und verwies auf "andere Aufträge" des US-Militärs in Afghanistan zum Beispiel für das Telefonieren oder die Basensicherung, wo ein hoher Prozentsatz der bezahlten Summe an Leute ging, die vermutlich mit den Aufständischen unter einer Decke steckten. Unter Anspielung auf den Titel des Berichts erklärte Tierney: "Das Geschäft ist Krieg, und Krieg ist das Geschäft. Dort drüben herrscht die Kriegsherr AG." Wenn man bedenkt, daß sich seit dem Amtsantritt von Barack Obama als US-Präsident die Anzahl der ausländischen Streitkräfte in Afghanistan von rund 60.000 auf etwa 120.000 verdoppelt hat und daß diese alle rund um die Uhr versorgt werden müssen, so kann man davon ausgehen, daß in der selben Zeit die Einnahmen der Taliban und anderer aus der Schutzgelderpressung ebenfalls stark zugenommen haben.

Angesichts dieser Entwicklung erscheint die Zunahme der Kampfhandlungen - mit inzwischen 80 gefallenen Soldaten ist der Juni 2010 der verlustreichste Monat für die NATO in Afghanistan seit dem Einmarsch im Oktober 2001 - nur logisch, wenn auch zutiefst bedauerlich. Nicht umsonst wurde Tierney im bereits erwähnten Artikel Karen DeYoungs in der Washington Post mit den Worten zitiert, er hoffe, der Bericht seines Unterausschusses werde die Kongreßabgeordneten in Washington mit der Frage konfrontieren, "ob sie glauben", daß der Krieg in Afghanistan tatsächlich "der effektivste, bzw. der kosteneffektivste Weg" sei "den Terrorismus zu bekämpfen".

Während man sich im Kongreß über die korrupten Geschäftspraktiken der Afghanen aufregt, werden dubiose Praktiken im eigenen Land fast ignoriert. Am Tag der Veröffentlichung des Berichts des Tierney-Unterausschusses über Schutzgelderpressungen am Hindukusch meldete Jeff Stein auf seinem Blog SpyTalk für die Washington Post, das von Hillary Clinton geleitete US-Außenministerium habe überraschenderweise dem Sicherheitsunternehmen Xe Services, das unter seinem ursprünglichen Namen Blackwater weltberühmt wurde, einen 120 Millionen Dollar schweren Auftrag zum Schutz zweier noch im Bau befindlicher Konsulate in Afghanistan für 18 Monate erteilt. Erst vor vier Monaten war Xe Services, das die größte Privatarmee der Welt unterhält, dessen Personal zum guten Teil aus ehemaligen Mitgliedern der US-Spezialstreitkräfte besteht, und das eng mit Pentagon und State Department zusammenarbeitet, aus dem Irak verbannt worden.

Gegen das Unternehmen laufen bis heute mehrere Klagen in den USA und im Irak wegen einer Schießerei, die aufgebrachte Blackwater-Mitarbeiter, die ein Autokonvoi des US-Außenministeriums begleiteten, im September 2007 bei einem Verkehrstau auf einer Kreuzung in Bagdad veranstalteten. Dabei töteten sie 17 unbewaffnete Zivilisten und verletzten 24. Am 23. Juni meldete die Washington Post in ihrer Printausgabe, die CIA habe einen 100-Millionen-Dollar-Vertrag mit Xe Services zum Schutz ihrer "Anlagen" in Afghanistan und anderswo unterzeichnet. Inwieweit Erpressung bei der Vergabe der beiden Verträge an Xe Services, dessen Mitarbeiter und Firmenleitung über eine Fülle von Insiderinformationen über die geheimen Aktivitäten der CIA und der US-Spezialstreitkräfte im Ausland verfügen dürften, eine Rolle spielte, ist nicht bekannt.

25. Juni 2010