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ASIEN/665: Unruhen in Kirgistan bedrohen ganz Zentralasien (SB)


Unruhen in Kirgistan bedrohen ganz Zentralasien

Großmachtrivalität findet ihren Ausdruck in ethnischer Gewalt


In Kirgistan tobt seit mehreren Tagen eine Gewaltorgie, die nicht nur die kleine Republik auseinanderreißen könnte, sondern auch noch auf die umliegenden Länder Zentralasiens überzugreifen droht. Im Südosten Kirgistans bekämpfen sich Kirgisen und Usbeken. Agenturmeldungen zufolge sind mindestens 200 Menschen getötet und über 2000 verletzt worden. Hundertausende Usbeken sind vor randalierenden Kirgisen auf der Flucht, die zahlreiche Häuser und Geschäfte der usbekischen Minderheit in den Städten Osch und Jalalabad sowie im gesamten Südwesten Kirgistans niedergebrannt haben. An der Grenze zu Usbekistan herrscht ein humanitärer Notstand. Die Regierung des Nachbarlands wird mit dem Flüchtlingsstrom aus Kirgistan nicht fertig und hat deshalb die Grenzübergänge geschlossen.

Die Bemühungen der kirgisischen Behörden, Ordnung in Osch wiederherzustellen, sind bislang gescheitert. Nach dem Ausbruch der Gewalt am 10. Juni hatte die Regierung in Bischkek die Streitkräfte mobilisiert. Doch statt den randalierenden Kirgisen in Osch Einhalt zu gebieten und die Usbeken in Schutz zu nehmen, haben sich Polizei und Armee auf die Seite der Gewalttäter geschlagen, sie entweder gewähren lassen oder bei ihrem zerstörerischen Handwerk unterstützt. Nachrichtenbilder aus Osch vom 12. und 13. Juni zeigten zahlreiche Gebäude, nicht nur Wohnhäuser, sondern auch mehrstöckige Geschäfte in der Innenstadt, die in Flammen standen. Die Straßen wurden von gewalttätigen jungen Männern, die unter anderem mit Stöcken und Beilen bewaffnet waren und zumindest ein gepanzertes Fahrzeug der Ordnungskräfte erbeutet hatten, kontrolliert. Wegen der Unfähigkeit bzw. des fehlenden Willens der eigenen Sicherheitskräfte, das staatliche Gewaltmonopol im Süden Usbekistans durchzusetzen, hat am 12. Juni Bischkek Rußland um die Entsendung von Hilfstruppen gebeten. Die Bitte hat Moskau jedoch mit der Behauptung vorerst abgewiesen, Rußland möchte nicht in einen innerkirgisischen Konflikt hineingezogen werden.

Für die Zurückhaltung Rußlands ist eine solche Erklärung ungenügend. Wie die Russen im August 2008 mit ihrem raschen und effektiven Eingreifen in den Konflikt zwischen der Zentralregierung Georgiens und den abtrünnigen Abchasen und Südosseten bewiesen haben, wäre es für Moskau kein großer Akt, eine entsprechende Streitmacht in den Süden Kirgistans zu entsenden, welche die ethnische Gewalt dort schnell im Keim ersticken könnte. Daß sich der Kreml bislang davor gescheut hat, beweist nur, daß es sich hier mitnichten um einen rein ethnischen Konflikt, sondern um die Folgen erbitterter Konkurrenz um die Vorherrschaft in Zentralasien zwischen Rußland, den USA und China handelt. Russlands zögerliche Haltung läßt erkennen, daß hier geopolitische Kräfte am Werk sind, die allzuleicht die ganze Region zwischen Kasachstan im Norden und Tadschikistan im Süden, Usbekistan im Westen über Kirgistan bis zur westchinesichen Provinz Xingiang mit ihrer mehrheitlich muslimischen Bevölkerung der Uiguren in Chaos stürzen könnten.

Die Interimsregierung in Bischkek macht den im April gestürzten, ehemaligen Präsidenten Usbekistans, Kurmanbek Bakiyev, für die Gewalt im Süden, die nach Angaben von Rupert Colville, Sprecher des UN- Kommissariats für Menschenrechte, "orchestriert, gezielt und gut geplant" gewesen ist, verantwortlich. Zwar hat der derzeit im Exil in Weißrußland lebende Bakiyev den Vorwurf von sich gewiesen, doch gibt es glaubhafte Medienberichte aus der Region, daß es seine Familie und politischen Freunde in der Region sind, welche ethnische Ressentiments schüren und letztlich für die Übergriffe auf die Usbeken verantwortlich sind. Bakiyev stammt aus dem Süden Kirgistans. Unter den Kirgisen dort hat er die meisten seiner Anhänger. Sie finden sich mit seiner Entmachtung nicht ab und hegen einen Groll gegen die Usbeken, erstens weil diese die neue Regierung unterstützen und zweitens weil sie in der Region um Osch und Jalalabad, die an Usbekistan angrenzt, rund 50 Prozent der Bevölkerung ausmachen. In Usbekistan als ganzem stellen sie nur 15 Prozent der rund fünf Millionen Staatsbürger.

Es gibt Vermutungen, wonach Rußland hinter dem Sturz Bakiyevs steckte. Als Motiv wird Bakiyevs überraschende Entscheidung vom letztzen Jahr, entgegen anderslautenden Zusicherungen gegenüber dem Kreml, den Pachtvertrag für den US-Luftwaffenstützpunkt Manas doch noch zu verlängern, angenommen. Den Fliegerhorst in Usbekistan hatten sich die Amerikaner Ende 2001, kurz nach den Flugzeuganschlägen von New York und Arlington, eingerichtet. Über Manas läuft ein nicht geringer Teil des Nachschubs für die US-Streitkräfte, die seit fast neun Jahren in Afghanistan Krieg gegen die Taliban führen. Im Kreml empfindet man die US-Militärpräsenz in Manas als Eingriff in die traditionelle Einflußsphäre Rußlands. Nach dem Sturz Bakiyevs war der Beitritt Kirgistans zu einer Zollunion mit Rußland und Kasachstan im Gespräch.

Auch in Peking soll man über die Anwesenheit der Amerikaner in Manas nicht glücklich sein, weil von dort aus das US-Militär angeblich auf elektronischem Wege die Raketenbasen und Militärstützpunkte im Westen Chinas beobachtet, während die CIA Agenten nach Xingiang hineinschleust, um den Kontakt zu uigurischen Separatisten aufrechtzuerhalten. China und Kirgistan haben eine 530 lange Staatsgrenze gemeinsam. Rund 30.000 Chinesen leben in Kirgistan und rund 100.000 Kirgisen in der Volksrepublik, die meisten von ihnen in Xingiang. Peking will Kirgistan wirtschaftlich enger an Westchina anschließen, unter anderem durch den Bau einer Hochgeschwindigkeitstrasse, mit der bis 2025 Züge von Westeuropa über Zentralasien an die Ostküste der Volksrepublik gelangen können sollen.

Jedenfalls hat Rußland nach dem Sturz Bakiyevs die Interimsregierung von Roza Otunbayeva, der früheren Botschafterin Usbekistans in London und Washington, als erstes Land anerkannt. Darüber hinaus hatte Moskau an die kirgische Zentralbank gleich 300 Millionen Dollar aus einem Gesamtpaket von 2,15 Milliarden Dollar Hilfsgelder überwiesen, die es letztes Jahr Bakiyev versprochen, jedoch nach dessen Umentscheidung in der Manas-Frage vorerst zurückgehalten hatte. Nach dem "Regimewechsel" hatte Otunbayeva Bakiyev bezichtigt, illegale Provisionszahlungen in riesiger Höhe aus dem regen Handel mit Treibstoff zur Betankung der US-Flugzeuge in Manas in die Taschen von sich und seinem Klan geleitet zu haben. Sollte der Vorwurf der Wahrheit entsprechen, dann ist es kaum vorstellbar, daß das US-Militär, das Barack Obamas Verteidigungsminister Robert Gates untersteht, nichts davon wußte.

Interessanterweise hatte am 7. Juni - drei Tage vor dem Ausbruch der ethnischen Unruhen in Usbekistan - Craig Whitlock in einem Bericht der Washington Post über das Treffen von dem Ex-CIA-Chef Gates mit Vertretern der aserbaidschanischen Regierung in Baku berichtet, die neue Administration in Bischkek habe gerade eine Woche zuvor "die Treibstofflieferungen für den Luftwaffenstützpunkt Manas, die einzige US-Militärinstallation in Zentralasien und ein entscheidendes Drehkreuz für Truppen, die nach und von Afghanistan weg fliegen, blockiert". "Die kirgisische Regierung strebt danach, die Treibstoffverträge mit dem US-Militär neu auszuhandeln, und beschwert sich, daß die Gelder aus den früheren Deals ihren Weg in die Taschen des gestürzten Regierungschefs Kurmanbek Bakiyev und seiner Familie gefunden hätten", so Whitlock. Anlaß zum Nachdenken liefert auch die Information, die Deirdre Tynan am 8. Juni in einem Artikel für Eurasianet.org über die ehrgeizigen Baupläne des Pentagons in den zentralasiatischen Staaten Kasachstan, Kirgistan, Tadschikistan, Turkmenistan und Usbekistan publik machte. Zu den Plänen gehört laut Tynan die Errichtung eines Antiterror-Ausbildungszentrums für die kirgisischen Sicherheitskräfte in Osch. Die Wahl des Standorts läßt eine erstaunliche Weitsicht seitens des US-Militärs erkennen.

16. Juni 2010