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AFRIKA/2189: Algerien - Scheinkompromisse ... (SB)


Algerien - Scheinkompromisse ...


Was sich derzeit in Algerien abspielt, erinnert an den Roman "Der Herbst des Patriarchen" aus der Feder des Literaturnobelpreisträgers Gabriel García Márquez nur mit dem Unterschied, daß sich all das nicht im lateinamerikanischen Kulturraum der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, sondern im nordafrikanischen zu Anfang des 21. abspielt. Die letzten Tage des 82jährigen Abd Al Aziz Bouteflika als algerischer Präsident weisen skurrile Züge auf, wie sie sich der kolumbianische Meister des "magischen Realismus" besser nicht hätte ausdenken können. Wie bei García Márquez' in seinem Mausoleum liegenden Caudillo weiß niemand außer auserwählten Eingeweihten, ob Bouteflika überhaupt noch lebt. So oder so macht er als politische Leiche eine erstaunliche Karriere.

2013 hat Bouteflika, der 1999 per allgemeiner Wahl erstmals Präsident Algeriens geworden war, einen schweren Hirnschlag erlitten. Seitdem hat man ihn praktisch nicht mehr in der Öffentlichkeit gesehen - und wenn, dann nur im Rollstuhl. Im Wahlkampf 2014 hat er keine einzige Veranstaltung abgehalten und konnte nicht zuletzt dank kräftiger Manipulationen der Behörden 81 Prozent der abgegebenen Stimmen für sich verbuchen. Dieser vierter Wahlsieg in Serie war wie auch der dritte nur durch eine Aufhebung der in der Verfassung verankerten Beschränkung der Präsidentschaft auf zwei Amtszeiten möglich geworden. Die Nominierung Bouteflikas Mitte Februar für eine fünfte Amtszeit hat landesweite Massenproteste ausgelöst. Die meisten Algerier sahen es nicht mehr ein, von einem Staatsoberhaupt vertreten zu werden, das nicht mehr handlungsfähig ist, sondern lediglich als Galionsfigur eines Klüngels herhält, der aus seinem Bruder Said Bouteflika, Generalstabschef Ahmed Gaïd Salah und alternden Militärs, Politikern sowie gut vernetzten Oligarchen besteht.

Bouteflika hat seine Kandidatur nicht selbst bekanntgegeben. Das machte sein Wahlkampfmanager für ihn. Das Gleiche galt für die Übergabe der 60.000 Stimmen bei der Wahlkommission am 3. März. Zu diesem Pflichttermin ist der Präsident deshalb nicht persönlich erschienen, weil er sich seit Mitte Februar zur medizinischen Behandlung im Genfer Universitätskrankenhaus aufhielt. Doch in Reaktion auf die enorme Protestwelle kündigte er am 3. März an, nach der Wahl am 18. April - deren Ausgang er schlicht vorwegnahm - nur noch ein Jahr im Amt zu bleiben und in dieser Zeit dringend nötige politische Reformen auf den Weg zu bringen. Der Landesvater gab an, die Stimmen seiner Kinder gehört zu haben und deren Rufen nach Veränderung Folge leisten zu wollen.

Doch die Beschwichtigungen ihres abwesenden Präsidenten aus der Schweiz haben die algerische Jugend nicht besänftigt. Am 8. März, dem internationalen Weltfrauentag, gingen in Algerien Millionen von Menschen auf die Straße und forderten ein Ende des seit 1962 von der Front de Liberation National (FLN) - die einst die Unabhängigkeit von Frankreich erkämpfte - geführten "Regimes" in Algier. Am selben Tag wurde der Politaktivist Rachid Nekkaz, der sich seit einigen Jahren in Algerien als Reformer einen Namen macht, beim allzu hartnäckigen Versuch, von der Genfer Universitätsklinik doch noch einen glaubhaften Beweis dafür zu erhalten, daß Bouteflika noch lebt und sich dort in Behandlung befindet, von der eidgenössischen Polizei festgenommen. Gleichzeitig wurde bei einem Schweizer Gericht anonym eine gesetzliche Vormundschaft für den "sterbenskranken" Bouteflika beantragt, um diesen vor der "Ausbeutung" durch sein Umfeld zu schützen.

Am 10. März kam es in ganz Algerien zum Generalstreik. Schulen, Hochschulen, Betriebe und Läden blieben geschlossen. Auch die Bediensteten des öffentliche Nahverkehrs in Algier erschienen nicht zur Arbeit, sondern demonstrierten für den Wandel mit. Für Bouteflika wurde es eng, als 10.000 Richter erklärten, sie würden im Falle seiner erneuten Kandidatur um die Präsidentschaft nicht für eine ordentliche Durchführung der Wahl sorgen, und sich sogar Mitglieder der Organisation der Veteranen des Unabhängigkeitskriegs gegen Frankreich mit den Demonstranten solidarisierten und deren Forderung nach einer gesellschaftlichen Erneuerung anschlossen.

Am 11. März kehrte der Präsident angeblich heim. Jedenfalls strahlte an diesem Tag das algerische Staatsfernsehen Bilder aus, wie die Präsidialmaschine am Flughafen von Algier landete und Insassen des Flugzeugs das Rollfeld in schwarzen Limousinen mit verdunkelten Scheiben verließen. Am Abend folgte dann eine sensationelle Verlautbarung aus dem Präsidentenamt. Bouteflika zog die erneute Kandidatur für die Präsidentschaft zurück, beugte sich damit scheinbar dem öffentlichen Druck, lobte seine Landsleute für ihr großes Engagement und ihren friedlichen Eifer und erklärte gleichzeitig die geplante Wahl Mitte April für gestrichen. Bouteflika - oder wer auch immer die Erklärung formulierte - begründete die Aussetzung der Wahl mit dem Versprechen, eine neue Verfassung ausarbeiten zu lassen, über die innerhalb eines Jahres das Volk abstimmen dürfe. Bis die Herkulesaufgabe erledigt sei, werde er, Bouteflika, im Amt bleiben.

In Algerien wußten die meisten Menschen nicht recht, wie sie auf die Ankündigung reagieren sollten. Die Freude über den Rückzug der fünften Kandidatur Bouteflikas ist weit verbreitet, doch ebenso die Einschätzung, daß sich der unbeliebte Präsident durch die selbstherrliche Aussetzung der Wahl nicht nur ein weiteres Jahr im Amt verschaffen, sondern genau jene Willkür fortsetzen will, von der die Algerier die Nase voll haben. Während ein Teil der Demonstranten die Proteste fortsetzen will, dürfte sich der größere Teil vorerst mit der Aufnahme der Arbeit zu einer Verfassungskonvention zufriedengeben, selbst wenn diese durch die FLN und die seit Jahren mit ihr kooperierenden Kleinparteien und Gewerkschaften dominiert wird. Wer aber auf noch raschere oder grundlegendere Veränderung drängt, der dürfte es schnell mit Polizei und Armee zu tun bekommen.

12. März 2019


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