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AFRIKA/2029: Systemimmanent, tabuisiert - verschärfter Hunger in Ostafrika (SB)


Anmerkungen zu fortwährendem Hunger, Hilfsappellen und dem ewigen Versprechen auf eine "gerechtere Verteilung"


Jahr für Jahr werden aus Afrika ähnlich lautende Meldungen verbreitet: Äußerst geringe Niederschläge von Oktober bis Dezember haben in Äthiopien, Dschibuti, Kenia, Somalia und Uganda zu beträchtlichen Ernteverlusten, einem Rückgang der Wasserverfügbarkeit, sich verschlechternden Weidebedingungen und Verlusten an Vieh geführt; zusätzlich werde die Lage aufgrund von Konflikten, mangelndem Zugang zu Nahrung, hohen Lebensmittelpreisen sowie Erkrankungen unter Mensch und Vieh verschärft. Das berichtete Ende März das UN-Büro für die Koordination humanitärer Angelegenheiten OCHA (UN Office for the Coordination of Humanitarian Affairs) [1]. In der angegebenen Großregion habe die Zahl der Einwohner, die dringend Nahrungshilfe benötigten, zugenommen und sei auf fast 8,4 Millionen gestiegen.

Die Dürre hat zu grenzüberschreitenden Fluchtbewegungen, unter anderem von Kenia und Somalia nach Äthiopien, geführt, wo der vermehrte Nahrungsbedarf ebenfalls die Versorgungssysteme überlastet hat. OCHA warnt, daß dies die Konflikte mit der einheimischen Bevölkerung verstärken könnte. In der Region um die südsomalische Juba-Region hat die Rate an akuter Unterernährung 30 Prozent erreicht, im Nordosten Kenias liegt sie bei 25 Prozent und in den Dürregebieten von Dschibuti bei bis zu 20 Prozent.

Der Mangel an Wasser wird zum alles beherrschenden Problem. Seßhafte Bauern müssen Haus und Hof zurücklassen und nicht selten auch ihr abgemagertes Vieh verkaufen, um zu überleben. Das fördert die Landflucht und schadet der regionalen landwirtschaftlichen Struktur, so wenig entwickelt sie auch sein mag. Menschen, die längere Zeit unterernährt oder sogar akut unterernährt sind, sind krankheitsanfälliger, bekommen immungeschwächte Kinder und sterben früher. Unterernährte Menschen sind ständig intensiv mit der Suche nach Nahrung befaßt, auch über den Umweg kleiner Verdienstmöglichkeiten, damit sie sich etwas zu essen kaufen können. Leben gleicht Überleben, darüber hinaus gibt es fast nichts.

Eine der hierzulande wenig bekannten Folgen der Dürre: Seit Dezember mußten in Somalia mehr als 400 Schulen schließen, betroffen sind davon fast 55.000 Schülerinnen und Schüler. Sie wie auch die Lehrer haben keine Zeit zu lernen bzw. zu lehren, sondern müssen fliehen oder Wasser und andere Nahrung beschaffen. In Äthiopien, besonders in den Regionen Somali und Oromia, gehen aus diesem Grund 58.000 Schülerinnen und Schüler nicht mehr zur Schule.

Ostafrika zählt zu den Regionen der Erde, die regelmäßig von Dürren heimgesucht werden. Dann sind zugleich viele Millionen Menschen in mehreren Ländern betroffen. Zahlen darüber, wie viele Einwohner die Zeit des Mangels nicht lebend überstehen, werden in der Regel nicht verbreitet. Zumal sich oft gar nicht so genau bestimmen läßt, ob es an einer Hungerphase gelegen hat, wenn ein Mensch stirbt. Weil Nahrungsmangel bei vielen Todesfällen eine Rolle spielt, ohne daß Hunger die monokausale Ursache des Ablebens ist, schwankt die Zahl der jährlichen Hungertoten weltweit je nach Quelle zwischen zehn und über dreißig Millionen. Wobei gegenwärtig rund eine Milliarde Menschen nicht genügend zu essen hat - das ist jeder sechste bis siebte Einwohner.

Die regelmäßigen Spendenappelle von Hilfsorganisationen wie dem Welternährungsprogramm (WFP) sind längst als Bestandteil einer Mangeladministration etabliert, die nicht die Aufgabe hat, die Not zu beseitigen, sondern sie zu verwalten. So ist das WFP nach wie vor weitgehend auf Spendengelder der internationalen Gemeinschaft angewiesen und muß Jahr für Jahr um Unterstützung bitten. Aber die UN-Unterorganisation erhält von vornherein nicht mehr Mittel, als um rund jeden zehnten Hungernden zu versorgen. Der größte Teil fällt demnach von vornherein aus der Versorgung heraus. Das bedeutet selbstverständlich nicht, daß jedes Jahr 90 Prozent der Hungernden sterben, aber es bedeutet, daß für sie keine Versorgung vorgesehen ist und sie vermutlich früher sterben, als sie es müßten, wenn sie nur genügend zu essen erhalten hätten. Aus Sicht der Betroffenen bedeutet das nichts anderes, als daß sie von der übrigen Menschheit absichtsvoll dem Hunger überantwortet werden.

Da die Zahl der Hungernden ständig weiter zunimmt, die Staatengemeinschaft aber behauptet, den Mangel beheben zu wollen - in den Millenniumszielen zumindest für die Hälfte der Hungernden bis zum Jahr 2015-, und dieses Ziele doch niemals erreicht wird, dann sollte das irgendwann schon Fragen erlauben, die offenbar nur dem Anschein nach beantwortet wurden. Vielleicht kann oder will die Staatengemeinschaft gar nicht alle Menschen vor dem Hungertod bewahren.

Falls sie es nicht kann, versteckt sie dies recht geschickt hinter dem Versprechen, das Problem des Nahrungsmangels ernsthaft angehen zu wollen. Sogar die schärfsten Kritiker der globalen Handelspolitik und profitorientierten Wirtschaftsweise glauben, daß im Prinzip genügend Nahrung für alle Menschen produziert wird, allein es fehle am guten Willen, die Nahrung gerecht zu verteilen. Mit ihrem Gerechtigkeitsanliegen stützen sich die Kritiker allerdings ausgerechnet auf ein sehr altes Herrschaftsinstrument, das Recht, das letztlich ein Gewaltmittel in der Hand des Stärkeren ist.

Zwar können Recht und Gesetz für einen gewissen gesellschaftlichen Abgleich sorgen, da in einer Demokratie jeder Bürger vor dem Gesetz gleich ist, aber in der Praxis gilt dies nicht unbedingt. Faktisch stellt der Rechtsanspruch ein Lehen dar, das von den herrschenden Kräften auch wieder genommen werden kann, wie - um zur Veranschaulichung ein Extrembeispiel zu nennen - Guantánamo zeigt, in dem entrechtete Menschen von Staats wegen gefoltert und auf unbestimmte Zeit gefangen gehalten werden.

Vor diesem Hintergrund eine "gerechte Verteilung" zu fordern, stellt einen Appell ausgerechnet an die Interessen derjenigen dar, die Vorteile von der vorherrschenden Verteilungsordnung mit der Schere zwischen arm und reich, hungrig und satt haben. Wenn also in Ostafrika 8,4 Millionen Menschen nicht genügend zu essen haben, dann profitieren wir in den reichen Ländern davon, daß es den Menschen schlecht geht. Theoretisch denkbare Alternativen - Aufnahme der Hungernden in den klimatisch günstigeren Regionen des Nordens, massive Lebensmittellieferungen in die betroffenen Regionen oder tatkräftige Unterstützung zur langfristigen Stärkung des landwirtschaftlichen Sektors der Länder des Südens - werden nicht ernsthaft verfolgt. Weder Entwicklungshilfe noch Spenden sind so hoch bemessen, daß die Betroffenen ihre existentielle Not dauerhaft hinter sich lassen könnten.


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Quelle:
[1] "East Africa: More Than 8 Million in Need of Food Aid Due to
Drought, UN Reports", 30. März 2011

http://allafrica.com/stories/201103300901.html

5. April 2011