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AFRIKA/1865: Nigerias Regierung zerschlägt Glaubensgemeinschaften (SB)


Polizeirazzia gegen Glaubensgemeinschaft Darul Islam

Fast 4000 Menschen vorübergehend festgesetzt


Nachdem die nigerianische Regierung im Juni eine Demonstration der Boko Haram-Glaubensgemeinschaft unter Schußwaffengebrauch beendet und später mehrere religiöse Führer verhaftet hat, kam es gegen Ende vergangenen Monats in mehreren nordnigerianischen Städten zu Kämpfen zwischen Sicherheitskräften und Anhängern der Gemeinschaft. Die Regierungskräfte hinterließen bei der Verfolgung der Boko Haram regelrecht verbrannte Erde, über 700 Einwohner kamen gewaltsam ums Leben. Der Boko Haram-Anführer befand sich in Polizeigewahrsam, als er erschossen wurde.

Am vergangenen Samstag rückte die Polizei erneut gegen eine muslimische Glaubensgemeinschaft vor. Mehr als 1000 Beamte suchten die Darul Islam in Mokwa, Bundesstaat Niger, heim und nahmen über 600 Personen fest. Bei der Razzia trafen die Polizisten auf keinen Widerstand, es wurden auch keine Waffen gefunden.

Darul Islam hatte sich in den frühen 1990er Jahren gebildet, seine Mitglieder leben eine strenge Form des Islam und lehnen die westliche Lebensweise ab. [1] Die Namensähnlichkeit der Organisation mit Dar-ul Islam (Haus des Islam) läßt zunächst auf ein dichotomisches Weltbild der Glaubensgemeinschaft schließen, in der die Welt zum Islam gehörig und als zu eroberndes Gebiet unterteilt wird. [2] Dieser Glaubensansatz wurzelt allerdings weder in der schiitischen noch in der sunnitischen Ausrichtung des Islam, und angesichts der augenscheinlichen Friedfertigkeit der Darul Islam-Anhänger auch nicht in dieser religiösen Gruppierung.

An der Polizeirazzia nahmen auch Mitarbeiter der Einwanderungsbehörde teil, was darauf schließen läßt, daß die Administration nach einem Vorwand gesucht haben könnte, Darul Islam aufzulösen. Wenn man schon keine Waffen findet, die solch eine Razzia rechtfertigen, dann will man wenigstens einige illegal eingereiste Personen aufspüren. Der Glaubensführer Bashir Abdullahi hat mittlerweile bei der Regierung protestiert und eine Entschädigung dafür verlangt, daß die Mitglieder der Darul Islam nicht ihrer gewohnten Arbeit nachgehen konnten. Mehr als 3500 Personen, die meisten davon Bauern, seien vertrieben worden, berichtete er. Das sei inhuman, ihre ganze wirtschaftliche Zukunft sei zerstört. Man habe die letzten 16 Jahre völlig problemlos innerhalb der Gemeinde gelebt.

Die meisten Darul Islam-Mitglieder geben an, daß sie aus Nigeria stammen. Die Einwanderungsbehörde dagegen behauptet, daß viele aus Ländern wie Sudan, Tschad, Niger und anderen Ländern der Region kommen. Deshalb sollen sie nach der erkennungsdienstlichen Erfassung dorthin abgeschoben werden. Mit solch einem Schritt würde nicht nur die Glaubensgemeinschaft an sich aufgelöst, die einzelnen Mitglieder müßten auch in den Ländern, in die sie abgeschoben werden, mit Verfolgung rechnen.

Mindestens noch bis Sonntag wurden 3950 Personen im Government Technical College in Mokwa festgehalten. Dem Police Commissioner Michael Zuokumor vom Bundesstaat Niger zufolge habe die Befürchtung bestanden, daß die Gruppe "gewalttätig" werden könnte. [3] Davon war jedoch nichts zu bemerken. Weil die Gruppe bei der Razzia keinen Widerstand ausübte, verlegte sich Zuokumor zu der Ausrede, daß die Gruppe "fähig zur Gewalt" sei.

Indirekte Rückendeckung erhielt die nigerianische Regierung für ihr Vorgehen gegen muslimische Glaubensgemeinschaften vergangene Woche Mittwoch durch US-Außenministerin Hillary Clinton. Bei ihrem Besuch in Nigeria warnte sie - offensichtlich mit Blick auf die Boko Haram, die sich auch die "nigerianischen Taliban" nennen -, daß die Organisation Al Qaida in dem Land Fuß fassen könnte. CNN zitiert Clinton mit den Worten: "Al Qaida ist in Nordafrika präsent. Wir haben keinen Zweifel daran, daß Al Qaida und ähnliche Organisationen, die Teil eines Terrorsyndikats sind, Fuß zu fassen versuchen, wo immer sie können. Ob das hier der Fall ist oder ob es sich um ein heimisch entstandenes Beispiel für extremen Fundamentalismus handelt, darüber haben die Nigerianer zu entscheiden." [4]

Clinton vermischt hier Taliban mit Al Qaida mit Boko Haram und ordnete sie pauschal einem "Terrorsyndikat" zu. Das zeugt von einer recht simplen, wenngleich eben deshalb besonders gefährlichen Denkweise. Die Boko Haram besitzen keine Verbindungen zu den afghanischen Taliban, sie nennen sich nur so. Wohingegen durchaus von einer Verbindung zwischen Al Qaida und US-Geheimdiensten ausgegangen werden kann.

Auch wenn der nigerianische Präsident Umaru Yar'Adua am vergangenen Freitag für eine Woche nach Saudi-Arabien gereist ist, um sich dort medizinisch behandeln zu lassen und an der Umra, der kleinen Pilgerfahrt nach Mekka, teilzunehmen [5], dürfte die Polizeirazzia von ihm getragen sein. Hatte er sich doch im vergangenen Monat recht kämpferisch gegeben, als die Polizei in Maiduguri und anderen Städten Nordnigerias gegen die Boko Haram vorgerückt war. Die Auflösung der Darul Islam-Gemeinschaft liegt auf der gleichen Linie. Hier geht es weniger um unterschiedliche religiöse Ansichten als vielmehr um eine soziale Auseinandersetzung. Die nigerianischen Regierungen zeichnen sich durch grobe Vernachlässigung weiter Bevölkerungsteile aus. Das westafrikanische Land verfügt über beträchtliche Einnahmen aus dem Erdölexport, dennoch lebt ein Großteil der Bevölkerung unter der Armutsgrenze von durchschnittlich 1,25 US-Dollar pro Tag.

Wenn sich angesichts der Not Menschen zusammenschließen, dann bilden sie Überlebensgemeinschaften. Die Religion sorgt für den Zusammenhalt. Religiöse Gemeinschaften bieten somit immer auch einen Überlebensschutz, den der Staat zu liefern nicht gewillt oder unfähig ist. Umgekehrt fühlt sich der Staat durch religiöse Gruppen bedroht, weil ihre bloße Existenz seinen unerfüllt bleibenden Anspruch, eine unentbehrliche Instanz zur Sicherung des Überlebens und Verbesserung der Lebensqualität aller Staatsangehörigen zu sein, offenlegt. Hätte sich Darul Islam irgendwelcher schwerwiegenden Vergehen schuldig gemacht, hätten die Behörden nicht gezögert, das propagandistisch für sich auszuschlachten. Verletzungen der Einreisebestimmungen, so es dazu überhaupt gekommen sind, rechtfertigen nicht im mindesten das rücksichtslose Vorgehen des Staatsapparats gegen eine Gemeinschaft.


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Anmerkungen:

[1] "Police in Nigeria Target Another Muslim Sect", Newstime Africa, 16. August 2009
http://www.newstimeafrica.com/archives/1733

[2] http://www.eslam.de/begriffe/d/dar-ul-islam-konzept.htm

[3] "Nigerian police: Thousands detained in raid on Islamic camp", CNN, 17. August 2009
http://edition.cnn.com/2009/WORLD/africa/08/16/nigeria.arrests/

[4] "Al Qaeda could seek 'foothold' in Nigeria, Clinton warns during trip", CNN, 12. August 2009
http://edition.cnn.com/2009/WORLD/africa/08/12/clinton.nigeria/index.html

[5] "Yar'Adua Seriously ill", Newstime Africa, 11. August 2009
http://www.newstimeafrica.com/archives/1601

17. August 2009