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DILJA/1427: Hungerstod in Afrika - Schweigen zum Dessert ... (SB)



Wir erinnern uns: Mitte Februar hatte UN-Generalsekretär António Guterres Alarm geschlagen wegen der Hungerkatastrophen im Nordosten Nigerias, in Somalia, im Südsudan und im Jemen und die Weltgemeinschaft aufgefordert, 4,4 Milliarden US-Dollar für die über 20 Millionen in diesen Ländern hungernden Menschen bereitzustellen. Jens Laerke, Sprecher des UN-Büros zur Koordinierung der humanitären Hilfe, erklärte im März, daß erst 422 Millionen US-Dollar eingegangen seien. Bis Ende des Monats bräuchten die UN-Hilfsorganisationen das Geld, um die notleidenden Menschen mit Lebensmitteln, Wasser und Medikamenten zu versorgen. [1] Der UN-Nothilfekoordinator Stephen O'Brien bat den Weltsicherheitsrat im März um Hilfe und erklärte, die Vereinten Nationen stünden vor der größten humanitären Katastrophe seit ihrer Gründung, bis Juli werden 4,4 Milliarden US-Dollar benötigt. [2]


Keine Rettung in Sicht

Wer sich auf der Webseite des Welternährungsprogramms darüber informieren möchte, ob dieser so dringend erbetene Milliardenbetrag in den zurückliegenden Monaten gezahlt wurde, sucht vergeblich nach Pressemitteilungen, die über diese Frage Auskunft geben. In den drei aktuellsten Meldungen wurde über wenn auch keineswegs als ausreichend bezeichnete Erfolge im Kampf gegen die Hungersnot im Südsudan berichtet, die Unterstützung Deutschlands für Iraker auf der Flucht mit 28 Millionen Euro oder auch die deutsche Finanzhilfe für notleidende Familien im Tschadsee-Becken in Höhe von 25,5 Millionen Euro. [3]

Läßt sich aus dieser Desinformationspolitik eine andere Schlußfolgerung ziehen als die, daß inzwischen längst geschehen sein muß und weiterhin Tag für Tag geschieht, wovor UN-Offizielle vor wenigen Monaten in so dringenden Worten gewarnt haben? Eine weltweite, alle bisherigen vorgeblichen Bemühungen, den Hunger zu bekämpfen, überragende Rettungsaktion hat jedenfalls nicht stattgefunden und war möglicherweise zu keinem Zeitpunkt ernsthaft beabsichtigt. Sollten UN-Generalsekretär Guterres und andere Offizielle zum Zeitpunkt ihrer Hilfsappelle längst gewußt haben, was niemand offen aussprechen würde, nämlich daß Nahrungsmittel, die erforderlich wären, um Tag für Tag 20 Millionen Menschen, wenn nicht mehr, am Leben zu erhalten, gar nicht aufgebracht werden könnten, selbst wenn die angegebenen Hilfsgelder eingegangen wären, müßten ihre Aufrufe als Bestandteile eines weltweiten Täuschungsmanövers aufgefaßt werden.

Die jetzige Öffentlichkeitsarbeit des Welternährungsprogramm, das Detailmeldungen als Erfolge zu präsentieren sucht, sich aber zur Gesamtlage komplett ausschweigt, verträgt sich bestens mit der Haltung der sogenannten internationalen Gemeinschaft, die längst zur Tagesordnung übergegangen zu sein scheint. Auf der Afrikakonferenz der G20 am 12. Juni, die als Vorläufer des bevorstehenden Gipfels in Hamburg gelten kann, waren die Dringlichkeitsappelle wegen der 20 Millionen in den genannten Ländern vor dem Hungertod stehenden Menschen jedenfalls kein Thema. Unter deutscher Präsidentschaft propagieren die G20 eine "neue Partnerschaft mit Afrika", worunter eine Verbesserung der Investitionsanreize für westliche Privatanleger verstanden wird, steckt doch Merkel zufolge in den "aufstrebenden Ökonomien" Afrikas ein "enormes Potential". [4]


Fortschreibung der Schuldverhältnisse

Offenbar sieht die Kanzlerin in dem Nachbarkontinent ein El Dorado für die ökonomischen Interessen der Kernstaaten Europas. Nicht zu vergessen, daß die EU mit afrikanischen Staaten längst sogenannte Wirtschaftspartnerschaftsabkommen (WPA), besser bekannt unter der englischen Bezeichnung Economic Partnership Agreement (EPA), abgeschlossen hat, die ebenfalls "Partnerschaft" versprechen, wo sie die Interessen der EU-Staaten gegenüber ihrem früheren Kolonialreich und heutigen Hinterhof durchsetzen. Die Hungersnöte Afrikas, die vielfach schon besonders verheerende Ausmaße angenommen haben, mögen durch Kampf- und Bürgerkriegshandlungen oder auch Dürren in katastrophaler Weise noch verstärkt werden; sie jedoch erklären zu wollen, ohne auch nur die Frage aufzuwerfen, inwiefern die sogenannte wirtschaftliche Rückständigkeit eines zwar entkolonialisierten, aber in Schuldabhängigkeit gehaltenen Kontinents von der EU nicht sogar immer wieder hergestellt wird, läßt nur eine bestimmte Sicht auf den Hunger in Afrika zu. [5]

Diese Abkommen seien bewußt so genannt worden, um die Partnerschaft in den Vordergrund zu rücken, dabei seien sie "klassische Freihandelsabkommen", stellte Günter Nooke, der Afrika-Beauftragte der Bundeskanzlerin, im Januar klar. Francisco Marí, Referent für Handelspolitik beim evangelischen Hilfswerk Brot für die Welt, erklärte, daß das Verbot von Exportsubventionen für die europäische Landwirtschaft in diesen Abkommen Augenwischerei sei, weil sie längst nicht mehr notwendig seien, da die EU ihre eigene Landwirtschaft jährlich mit rund 70 Milliarden Euro subventioniert. [6] Eine Beendigung der Agrarsubventionen ist für die EU selbstverständlich kein Thema; und wie sie die seit der Präsidentschaft Deutschlands auch von den G20 proklamierte "Partnerschaft" mit Afrika handhabt, liegt in ihrer Definitionshoheit.


Reduzierte Nahrungshilfen

Den äußerst geringfügigen Meldungen nach zu schließen, die über die Hungerkatastrophe vorliegen und eine systematische Desinformation vermuten lassen, werden die erbetenen Hilfsgelder nicht nur bzw. zu einem sehr geringen Bruchteil gezahlt. Die beschworene internationale Kraftanstrengung zur Rettung der Millionen vom Hungertod bedrohten Menschen ist nicht nur ausgeblieben, inzwischen mußte sogar der vorherige Stand der Nahrungshilfen reduziert werden.

Wie der stellvertretende UN-Hilfskoordinator für Nigeria, Peter Lundberg, am 20. Juni erklärte, mußten die Vereinten Nationen wegen fehlender Hilfsgelder für 400.000 Menschen im Nordosten Nigerias die Unterstützung einstellen. Noch im April sei in dieser Region 2,3 Millionen Menschen geholfen worden. Nun werde versucht, wie Lundberg ankündigte, die Rationen dort zu kürzen, "wo die Menschen widerstandsfähiger sind". Wie dieses Wort überhaupt mit Menschen in Verbindung gebracht werden kann, die vom Hungertod bedroht sind, erklärte der UN-Offizielle nicht, wohl aber merkte er an, was sich ohnehin jeder denken kann: "Die Menschen werden in schrecklicher Not sein." [7] Überraschend oder für die Beteiligten der Hilfsprogramme unerwartet kann die Einstellung der Nahrungshilfen für 400.000 Menschen nicht gekommen sein. Als im April erst 15 Prozent der zugesagten Spenden der internationalen Gemeinschaft eingegangen waren, hatte Lundberg bereits vor solchen Konsequenzen gewarnt. [8]


Ursachenforschung hoch im Kurs

Ergänzend zu der wohl am häufigsten kolportierten Erklärung, es könne wegen ausbleibender Zahlungen nicht bzw. nicht ausreichend geholfen werden, werden häufig noch weitere Begründungszusammenhänge geltend gemacht. Als im Februar bekannt wurde, daß dem Hungersnot- Frühwarnsystem FEWSNET der US-amerikanischen Internationalen Entwicklungsbehörde USAID zufolge bereits seit Ende 2016 in einigen entlegenen Regionen des nigerianischen Bundesstaats Borno von einer Hungersnot auszugehen sei, die sich immer mehr verschlimmere, wurde dies damit begründet, daß die Hilfsorganisationen nicht in die besonders gefährdeten Gebiete vordringen könnten. [9]

Dies mag zutreffen, kann jedoch keineswegs erklären, warum immer und immer wieder mehr Gelder versprochen als tatsächlich gezahlt bzw. ohnehin nur Zusagen gemacht werden, die weit unter dem von den Hilfsorganisationen veranschlagten Bedarf liegen. Auf einer Geber-Konferenz für die Tschadsee-Region in Zentralafrika am 24. Februar in Oslo beispielsweise wurden für die geschätzt 10,7 Millionen notleidenden Menschen in den von Boko Haram kontrollierten Gebieten in Nigeria, Niger, Kamerun und dem Tschad Hilfsgelder in Höhe von 634 Millionen Euro zugesagt, von denen allerdings nur 430 Millionen Euro für 2017 geplant sind. Damit wurde nur ein Drittel der Summe von 1,4 Milliarden Euro, die für das laufende Jahr hätte zusammenkommen sollen, in Aussicht gestellt. Wie Nigerias Außenminister Geoffrey Onyeama dazu erklärte, sei das "nur die Spitze des Eisbergs", doch zugleich sah er sich offenbar veranlaßt bzw. genötigt zu betonen: "Aber wir sind sehr dankbar." [10]


Gibt es überhaupt genügend Nahrungsmittel?

Gesetzt den Fall, die sogenannten Geber-Staaten würden in vollem Umfang und in den seitens der UN-Hilfsorganisationen gewünschten Fristen die benötigten Finanzmittel zur Verfügung stellen, was wäre dann? Anders gefragt: Muß es nicht Gründe geben dafür, daß dieser Fall nie eintritt, obwohl die erbetenen Beträge keineswegs die finanziellen Spielräume der reichsten Industriestaaten übersteigen? Deutschland beispielsweise beteiligt sich an den von den 14 Staaten der Oslo-Konferenz gemeinsam versprochenen 634 Millionen Euro mit 120 Millionen Euro. Ins Verhältnis gesetzt beispielsweise mit dem Haushaltsüberschuß von 19,2 Milliarden Euro, den in Deutschland Bund, Länder, Kommunen und Sozialversicherungen im Jahr 2016 gemeinsam erzielt haben, stellt dies einen eher geringfügigen Betrag dar. Der Überschuß des Bundes in Höhe von 6,2 Milliarden Euro wäre ein Mehrfaches dessen, was für Zentralafrika in diesem Jahr als ausreichend angesehen wird, um die Hungernden zu versorgen, soll jedoch zu Zwecken der vorzeitigen Schuldentilgung genutzt werden.

Die zugegeben naive Frage, warum die Bundesregierung in diesem Fall nicht im Alleingang die Finanzierung sicherstellt, was ihr weltweit einen enormen Prestigegewinn einbrächte, könnte, würde sie nur mit einigem Nachdruck gestellt und verfolgt werden, an den Rand einer noch weitaus entsetzlicheren Lage führen. Solange sich auch die Solidaritätsbemühungen und Appelle der engagiertesten Hilfsorganisationen darauf beschränken, die vollständige Zahlung der versprochenen Hilfsgelder einzufordern, bleibt das mit der Strategie einer marginal geleisteten, aber zunehmend unzureichenden Hungerhilfe begründete Versprechen auf Mehr aufrechterhalten und damit auch die unausgesprochen kolportierte Annahme, im Prinzip seien genügend Nahrungsmittel vorhanden, um alle Hungernden versorgen zu können, wenn nur endlich die dafür erforderlichen Bedingungen erfüllt wären.

Die Behauptung, daß es auch im 21. Jahrhundert vor allem in Afrika nach wie vor Hungersnöte gäbe, "obwohl rechnerisch genügend Nahrungsmittel für die gesamte Weltbevölkerung vorhanden wären" [11], läßt sich schon aufgrund ihrer spekulativen Natur weder bestätigen noch widerlegen. Daß sie sich so hartnäckig hält und nicht einmal angesichts der längst angekündigten "größten humanitären Katastrophe seit Bestehen der Vereinten Nationen" in Frage gestellt wird, deutet auf ein übergreifendes und fundamentales Interesse aller Beteiligten hin, den weltweiten Nahrungsmangel als ein im Prinzip lösbares Problem darzustellen.

Dabei scheint die Menschheit im Begriff zu stehen, in ihrer Entwicklung einen im Grunde kannibalistischen Charakter anzunehmen, der die Mär einer solidarischen Weltgemeinschaft, die sich nach besten Kräften auch um ihre schwächsten Mitglieder bemüht, ins Reich zielgerichtetster Desinformation und substanzlosester Lösungsperspektiven verweist. Der Hungertod Hunderttausender, wenn nicht von Millionen Menschen wird nach Lage der Dinge von den Staatenlenkern und allen weiteren Beteiligten stillschweigend hingenommen, sieht man von sporadischen Entsetzensbekundungen, marginalen Hilfsleistungen und nur wenig größeren Versprechen einmal ab.

Sich in diesem Interessenbündnis einzufinden und das eigene Überleben in dem Krieg aller gegen alle sichern zu wollen, kann selbstverständlich nur auf Kosten anderer und in einem befristeten Rahmen möglich sein. Eine wirksame Gegenwehr - das liegt wohl auf der Hand - würde im ersten Schritt auf jeden Fall voraussetzen, sich von den mit den Beteiligungsinteressen gesellschaftlich isolierter Individuen an dem großen Raub zu Lasten der eigenen Art engverwobenen Täuschungsstrategien zu verabschieden.


Fußnoten:

[1] https://www.tagesschau.de/ausland/hunger-105.html

[2] https://www.tagesschau.de/ausland/un-aufruf-hungerhilfe-101.html

[3] http://de.wfp.org/news

[4] http://www.tagesspiegel.de/politik/g20-afrika-konferenz-die-welt-wird-vom-afrikanischen-wachstum-profitieren/19920158.html

[5] Zur wirtschaftlichen Drangsalierung der afrikanischen Staaten durch die EU siehe im Schattenblick unter:
www.schattenblick.de → INFOPOOL → BUERGER → REPORT:
BERICHT/072: Das Anti-TTIP-Bündnis - Erhalt marktregulierter Vorherrschaft ... (SB)

[6] http://www.dw.com/de/eu-freihandel-mit-afrika-unfairer-deal/a-37073640

[7] https://www.sat1.de/news/politik/geldmangel-hilfe-fuer-hungernde-in-nigeria-gekuerzt-101919

[8] http://www.zeit.de/gesellschaft/zeitgeschehen/2017-04/hunger-hungerhilfe-rotes-kreuz-vereinte-nationen

[9] http://www.nachrichten.at/nachrichten/weltspiegel/Hungersnot-in-Afrika-Fuer-mehr-als-eine-Million-Kinder-laeuft-die-Zeit-ab;art17,2491450

[10] http://www.rp-online.de/politik/ausland/geberkonferenz-in-oslo-sagt-634-millionen-euro-fuer-zentralafrika-zu-aid-1.6631341

[11] https://de.wikipedia.org/wiki/Hungersnot

4. Juli 2017


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