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DILJA/1411: Der Verschärfung zugespielt? (SB)


Drohender Tabubruch

Eskalationsstrategien bei Demonstrationen und ihr möglicher Kollateralnutzen



Bekanntlich strebt die Bundesrepublik Deutschland einen ständigen Sitz im Weltsicherheitsrat an. Sie sieht sich offenbar als eine angehende Führungsmacht an, deren Kapital nicht allein in militärischer Potenz oder wirtschaftlicher Stärke liegt, sondern in einer spezifischen Moralität und Integrität, so als hätte gerade sie ihre historischen Lektionen aus Weltkriegen und Hitler-Faschismus besonders gut gelernt und sei deshalb nun in besonderer Weise prädestiniert im Kampf um Menschenwürde, Frieden und Freiheit. Aus der historischen Last von einst scheint ungeachtet dessen, daß (auch) von deutschem Boden längst wieder Krieg ausgeht, eine Qualifizierung zur Weltführungsmacht geworden zu sein. Noch bei der Gründung der Bundesrepublik war an eine Wiederbewaffnung des westlichen Teilstaats nicht zu denken gewesen, viel zu tief war die Parole "Nie wieder Krieg, nie wieder Faschismus" in der Nachkriegsbevölkerung verwurzelt. Um der Errichtung der Bundeswehr und der Integration der Bundesrepublik in die NATO den Weg zu ebnen, mußte zunächst einmal mit der KPD der vehementeste innenpolitische Gegner per Parteienverbot ausgeschaltet werden.

Dabei blieb es allerdings nicht. Die Möglichkeit, deutsche Soldaten im eigenen Lande einzusetzen, um gegen die einheimische Bevölkerung im Falle eines Aufruhrs vorzugehen, stellte den aus Sicht herrschender Eliten folgerichtigen nächsten Schritt dar, wußten sie doch offenbar nur zu gut, daß die von ihnen favorisierte und durchgesetzte Sozial- und Wirtschaftspolitik sowie die ihr zugrundeliegende Grundpositionierung zugunsten einer Armut schaffenden Verwertungsordnung im Extremfall nur mit militärischer Gewalt würde aufrechterhalten werden können. Die sogenannte Notstandsverfassung, die den Einsatz der Bundeswehr in Fällen eines sogenannten inneren Notstands unter wenn auch engen Grenzen ermöglichte, konnte in der Zeit der ersten Großen Koalition (1966 bis 1969) nur gegen den entschiedenen Widerstand einer Studenten- und Protestbewegung durchgesetzt werden, die unter dem Label "68" in die bundesdeutsche Nachkriegsgeschichtsschreibung einging.

Doch damit noch immer nicht genug. Bundeswehrsoldaten bei Demonstrationen, Kundgebungen, Streiks oder anderweitigen Protestveranstaltungen einzusetzen, ist nach herrschender Rechtslage nicht (so ohne weiteres) möglich. Nach Art. 87a Abs. 4 des Grundgesetzes kann die Bundesregierung, wenn bestimmte weitere Voraussetzungen erfüllt sind, die Streitkräfte im eigenen Land einsetzen "zur Abwehr einer drohenden Gefahr für den Bestand oder die freiheitliche demokratische Grundordnung des Bundes oder eines Landes". Eine Demonstration wie die am 21. Dezember in Hamburg für den Erhalt des linken Kulturzentrums "Rote Flora", die mit den seit Jahren größten Auseinandersetzungen in der Stadt zwischen Polizei und Demonstranten endete, wobei allerdings noch zu untersuchen wäre, ob und in welchem Umfang eine Provokations- und Eskalationsstrategie staatlicher Stellen zu ihrer Entfaltung beigetragen haben könnte, wird nicht als Gefahr für den Bestand der Bundesrepublik oder des Stadtstaates angesehen werden können; ebensowenig wird von Ereignissen dieser Art behauptet werden können, sie gefährdeten die "freiheitlich demokratische Grundordnung".

Seit mindestens zwei Jahrzehnten gibt es Bestrebungen, die Einsatzschwelle für die Bundeswehr im Innern deutlich herabzusenken und aus ihr so etwas wie eine Bürgerbekämpfungsarmee zu machen. Mit der Notstandsverfassung von 1968 wurde ihr möglicher Einsatz im Falle eines inneren Aufruhrs oder Massenprotestes mit dem Potential, die staatliche Ordnung des Gesamtstaates oder eines Bundeslandes in Gefahr zu bringen, bereits ermöglicht. Eine weitere Herabsenkung der Einsatzschwelle kann insofern eigentlich nur bedeuten, daß die Protagonisten dieser massiven Repressionsverschärfung die Bundeswehr für Kampfeinsätze innerhalb Deutschlands in Situationen zum Einsatz bringen wollen, deren Bewältigung bislang in der ausschließlichen Kompetenz der Polizei lag, schließlich obliegt ihr die Abwehr von Gefahren für die öffentliche Sicherheit und Ordnung. In seiner Grundsatzentscheidung vom 3. Juli 2012 stellte das Bundesverfassungsgericht, wiewohl es den Einsatz der Bundeswehr im Innern im Falle eines Ereignisses "katastrophischen Ausmaßes" und damit über die Notstandskriterien hinaus erweitert hat, klar, daß ein Einsatz der Streitkräfte bei Demonstrationen weiterhin nicht erlaubt sein wird. [1]

Wolfgang Schäuble, ehemaliger Bundesinnenminister und inzwischen frisch im Amt bestätigter Bundesfinanzminister, hatte schon 1993 von "größeren Sicherheitsbedrohungen im Innern durch den internationalen Terrorismus" [2] als einem Fall gesprochen, in dem die Bundeswehr im Innern eingesetzt werden können sollte. 2007 erklärte er dann als Bundesinnenminister [3]:

Wir wollen einen umfassenden Sicherheitsbegriff zu Grunde legen, daher werden wir über die völlig überkommene Trennung von innerer und äußerer Sicherheit zu reden haben und die Frage eines Einsatzes der Bundeswehr im Inneren.

2011 forderte Bundesinnenminister Hans-Peter Friedrich (CSU) den Bundeswehreinsatz im Innern ungeachtet dessen, daß die Bundesregierung seinerzeit nicht über die für die Umsetzung eines solchen Vorschlags erforderliche Zwei-Drittel-Mehrheit im Bundestag verfügte. Friedrich behauptete, für bestimmte Bedrohungslagen würden die polizeilichen Mittel nicht ausreichen, weshalb die Möglichkeit eines Einsatzes der Streitkräfte nicht nur bei Naturkatastrophen oder schweren Unglücksfällen geschaffen werden sollte. [4] Die SPD hatte in den zurückliegenden Jahren wiederholt den Standpunkt vertreten, daß die Bundeswehr keineswegs mit Polizeiaufgaben betraut werden sollte und daß das Prinzip der Zuständigkeit der Bundesländer für die Polizei nicht durchlöchert werden dürfe. Allerdings scheint es sich bei dem Nein der Sozialdemokraten eher um ein Jein zu handeln, ist doch dem von ihr und der CDU/CSU in der gemeinsamen Regierungszeit der zweiten Großen Koalition (2005 bis 2009) im Oktober 2006 herausgegebenen Verteidigungsweißbuch in Sachen Innenpolitik zu entnehmen [2]:

Militärische Kampfmittel dürfen bislang nicht eingesetzt werden. Hier sieht die Bundesregierung die Notwendigkeit einer Erweiterung des verfassungsrechtlichen Rahmens.

Schon 1968 hatte sich die SPD als verläßlicher Partner der damaligen Großen Koalition erwiesen, als es darum ging, die von vielen Menschen als völlig inakzeptablen Tabu- und Verfassungsbruch empfundene Notstandsverfassung durchzusetzen. Willy Brandt (SPD), damaliger Bundesaußenminister im Kabinett Kurt Georg Kiesingers, bewegte sich auf derselben Linie wie der CDU-Kanzler und bezeichnete die Notstandsgesetze als "erforderliche Vorsorgegesetzgebung", bei der man nur über das "Wie", nicht über das "Ob" streiten könne. [5] Im jüngsten Koalitionsvertrag sucht man eine Stellungnahme zu diesem ebenso kontroversen wie umstrittenen Thema vergeblich - weder wird die vornehmlich von CDU-Politikern wie Schäuble seit Jahren und Jahrzehnten erhobene Forderung aufgenommen, die verfassungsrechtlichen Schwellenkriterien für einen Bundeswehreinsatz im Innern herabzusenken, noch wird die in der Vergangenheit vielfach von der SPD bevorzugt bekundete Position, ein solcher Schritt sei mit ihr nicht zu machen, in dem Papier festgeschrieben.

Die Nichterwähnung einer so heiklen Thematik in einem Koalitionsvertrag, dem monatelange Verhandlungen zwischen den Parteien vorausgingen, läßt nicht unbedingt den Rückschluß zu, daß diese Frage nicht gleichwohl Bestandteil der Gespräche gewesen ist. Ebensowenig gibt es plausible Gründe anzunehmen, daß es für die kommende Legislaturperiode keine Initiativen oder bereits konkrete Planungen geben könnte, Schäubles bislang nicht durchsetzungsfähiges Vorhaben in die Tat umzusetzen. Mit einer komfortablen beinah sogar Dreiviertel- Mehrheit im Bundestag könnte das neugebildete großkoalitionäre Kabinett Verfassungsänderungen problemlos durchsetzen, sofern sie nicht den nach Art. 79 Abs. 3 geschützten Kernbereich der Verfassung betreffen, was bei Fragen des Streitkräfteinsatzes nicht der Fall ist. Sollte es zu einer dementsprechenden Verständigung und Interessenübereinkunft zwischen CDU/CSU und SPD kommen, würde auch die grundgesetzlich geforderte Zwei-Drittel-Zustimmung des Bundesrates keine unüberwindliche Hürde darstellen. 18 der 69 Stimmen gehören dort ebenfalls einer von einer Großen Koalition zwischen CDU und SPD gebildeten Landesregierung; in allen übrigen Landesregierungen nimmt eine der großen Parteien eine dominierende Rolle ein, so daß bei einem Schulterschluß der Großparteien aller Voraussicht nach auch hier eine Verfassungsänderung leicht durchzuwinken sein würde.

Reinhard Gaier, der Richter am Bundesverfassungsgericht, der als einziger die bereits erwähnte und mit 15:1 Stimmen getroffene Entscheidung des höchsten deutschen Gerichts zur Rechtfertigung von Bundeswehreinsätzen im Innern in einem Fall katastrophischen Ausmaßes abgelehnt hatte, hatte seine Gründe in einer veröffentlichten abweichenden Meinung dargestellt. Darin machte er deutlich, inwiefern auch ein solcher als Ausnahmefall postulierter Dammbruch die politische Realität verändert [1]:

Es handelt sich um gänzlich unbestimmte, gerichtlich kaum effektiv kontrollierbare Kategorien, die in der täglichen Anwendungspraxis viel Spielraum für subjektive Einschätzungen, persönliche Bewertungspräferenzen und unsichere, wenn nicht gar voreilige Prognosen lassen. Jedenfalls bei Inlandseinsätzen militärisch bewaffneter Streitkräfte ist das nicht hinnehmbar. Im Schatten eines Arsenals militärischer Waffen kann freie Meinungsäußerung schwerlich gedeihen.

Ein- und Widersprüche dieser Art sind allerdings, so begründet sie auch sein mögen, nicht in größerem und relevantem Umfang zu erwarten, zumal die Mitglieder dieses Gerichts nach Art. 94 Abs. 1 GG je zur Hälfte von Bundestag und Bundesrat gewählt werden, weshalb anzunehmen ist, daß die dort dominierenden Parteien Personen in dieses Amt manövrieren, die aus ihrer Sicht die beste Gewähr zur verfassungsrechtlichen Weichzeichnung und Absegnung repressiver Regierungsmaßnahmen und Gesetzesvorhaben bieten. Mahnungen und Warnungen sind eher aus dem außerparlamentarischen Bereich zu vernehmen, so beispielsweise von dem Hamburger Rechtsanwalt Dr. Heinz-Jürgen Schneider, der in einem am 20. November 2013 gehaltenen Vortrag [6] den Aufbau der deutschen Sicherheitskräfte schilderte. Bezogen auf die Polizei erläuterte er den Unterschied zwischen "kleinen" und "großen Lagen". Unter einer "kleinen Lage" sind Ereignisse - beispielsweise eine Demonstration oder Hausbesetzung - zu verstehen, die mit regionalen Polizeikräften (allein) bewältigt werden können, während eine "große Lage", etwa mehrere, zeitgleich stattfindende Demonstrationen, dadurch gekennzeichnet ist, daß zu ihrer Kontrolle Einheiten der Bereitschafts- oder auch der Bundespolizei hinzugezogen werden müssen.

Wer behaupten wolle, die Einsatzvoraussetzungen für den Bundeswehreinsatz im Innern müßten noch weiter herabgesenkt werden, müßte plausibel machen, daß es eine Sicherheitslücke zwischen dem bestehenden inneren Notstand und den bisherigen polizeilichen Einsatzmöglichkeiten inklusive der Bereitschafts- und Bundespolizei gäbe, die nur militärisch zu schließen sei - ein schwieriges Unterfangen, zumal diese Einheiten bzw. die für ihre Einsetzung Verantwortlichen das Bestreben haben werden, ihre Existenz durch Einsatzeffizienz und -notwendigkeit zu begründen. Angesichts einer solchen Gemengelage sicherheitspolitischer Erwägungen und Bestrebungen, die auf eine zunehmende Militarisierung nicht nur der deutschen Außen-, sondern auch der Innenpolitik abzielen, steht zu befürchten, daß Ereignisse wie die jüngsten, zum Teil gewaltsamen Auseinandersetzungen in Hamburg für die hier angedeuteten Zwecke instrumentalisiert werden könnten.

Kai Voet van Vormizeele, der innenpolitische Sprecher der Hamburger Bürgerschaftsfraktion der CDU, hatte die Angriffe, die am 21. Dezember im Zusammenhang mit der Demonstration um den Erhalt der Roten Flora gegen Polizisten durchgeführt worden sein sollen, als "bürgerkriegsähnliche Attacken" bezeichnet [7]. Der Bundesvorsitzende der Gewerkschaft der Polizei, Oliver Malchow, hatte in einer am 22. Dezember veröffentlichten Mitteilung von einem schweren Mißbrauch des Demonstrationsrechts gesprochen und erklärt, "politische Extremisten" trachteten in Deutschland "nach dem Leben von Polizisten" [8]. Ohne Schutzkleidung hätte es am Tag zuvor "tote Polizisten" gegeben, so Malchow, der "die Politik" aufforderte, "Gewalt zu ächten und Polizisten besser zu schützen". Wenn Polizisten, deren originärste Aufgabe gerade darin besteht, die öffentliche Sicherheit und Ordnung in Ausübung des staatlichen Gewaltmonopols zu gewährleisten und aufrechtzuerhalten, ihrerseits des Schutzes bedürfen gegenüber Gefahren, die ihnen angeblich durch widerständige Menschen auf Deutschlands Straßen drohten und denen sie ungeachtet ihres Ausbildungs- und Ausrüstungsstandes nicht gewachsen seien, können für diesen Schutz wohl nur Soldaten der Bundeswehr in Frage kommen.

In Hamburg waren für diesen Tag zunächst drei Demonstrationen angemeldet worden. Eine von ihnen hätte vor der Handelskammer unter dem Motto "Politische Räume statt Konsummeilen - Gegen die Aushebelung des Versammlungsrechts! Die Stadt gehört allen!" stattfinden sollen, wurde jedoch in einer vom Hamburger Oberverwaltungsgericht in der Nacht zuvor bestätigten Eilentscheidung des Verwaltungsgerichts untersagt bzw. an einen Ort außerhalb der Innenstadt verlegt, woraufhin der Anmelder sie absagte. Die "Gruppe Lampedusa in Hamburg", zu der sich protestierende Flüchtlinge zusammengefunden haben, um auf ihre prekäre Lage aufmerksam zu machen, hatte ursprünglich an diesem Tag wie schon an den übrigen Adventssamstagen einen Protestzug in der Innenstadt durchführen wollen, dann jedoch davon Abstand genommen und sich damit begnügt, sich mit ihren Unterstützern zu vorgezogener Zeit zu einer Kundgebung am Steindamm zu versammeln.

Die gesamte Innenstadt war nach Polizeirecht zur Gefahrenzone erklärt worden mit der rechtlichen Folge, daß die Polizei ohne Verdachtsmomente Personenkontrollen durchführen, Platzverweise erteilen und Menschen in Gewahrsam nehmen konnte, wovon sie auch regen Gebrauch machte. Wie die Frankfurter Rundschau in ihrer Online-Ausgabe meldete, hat die Polizei noch am selben Abend mitgeteilt, daß rund 300 Menschen vorübergehend in Gewahrsam genommen worden waren. 117 Polizisten seien verletzt worden, 17 hätten im Krankenhaus behandelt werden müssen. Nach Angaben einer linken Rechtshilfegruppe sind 500 Demonstranten verletzt worden, 20 von ihnen schwer. Nach Einschätzung der Frankfurter Rundschau waren die "aus dem gesamten Bundesgebiet zusammengezogenen rund 3000 Polizisten mit der Situation an vielen Stellen überfordert". [9]

Die Hamburger Bürgerschaftsabgeordnete Christiane Schneider (Die Linke) warf der Polizei eine Eskalationstaktik vor. Nach ihren Angaben hat es "eskalierende Polizeieinsätze mit ziemlich brutalen Festnahmen und Schlagstockeinsätzen gegeben". Die Abgeordnete sprach von einer heftigen Auseinandersetzung, bei der "auch Demonstranten heftig zur Sache gegangen seien". [10] Ob, wie die Linkspolitikerin annimmt, die Eskalation der Ereignisse an diesem Tag politisch gewollt war oder nicht, wird sich kaum klären lassen. Eine Vorverlagerung polizeilicher Maßnahmen in den Präventivbereich kann auf jeden Fall konstatiert werden, da die Hamburger Polizei ihre Entscheidung, die gesamte Innenstadt zum "Gefahrengebiet" zu erklären, damit begründet hat, dies sei "wegen befürchteter Krawalle" "zur vorbeugenden Bekämpfung von Straftaten" geschehen. [11]

Bei einer solchen Absichtserklärung wird allerdings leicht außer acht gelassen, daß es weder Straftat noch Straftäter oder Straftäterin gibt, solange keine Straftat begangen wurde. Da die Organisatoren der Demonstration für den Erhalt der Roten Flora erklärt hatten, "mit einer bundesweiten und internationalen Demonstration" deutlich machen zu wollen, daß "mit massivem Widerstand zu rechnen ist, sollte versucht werden, die Rote Flora zu räumen" [11], hätte die wohl effektivste Prävention in der Rücknahme der Räumungsandrohung liegen können. In einer Mitteilung des Eigentümers Klausmartin Kretschmer hatte es, wie die Hamburger Morgenpost drei Tage vor der Demonstration mitteilte, geheißen, daß dieser zwar "eigentlich" die Rote Flora "noch vor Weihnachten" habe räumen lassen wollen, daß dies aber nicht der Fall sei - "so schnell schießen die Preußen nicht". [12]

Zur Beruhigung der angespannten Lage um das seit 24 Jahren besetzte Kulturzentrum konnte diese Mitteilung kaum beitragen. Kretschmer hatte die Bewohner am 10. Dezember aufgefordert, das Gebäude noch vor Weihnachten zu verlassen. In seiner Erklärung vom 18. Dezember hatte es geheißen, daß die beendete Duldung - den Bewohnern war eine Frist für ihren Auszug bis zum 20. Dezember gesetzt und angekündigt worden, daß andernfalls eine monatliche Nutzungsgebühr von 25.000 Euro fällig werden würde - "nur die juristische Vorbereitung für eine spätere Räumung durch die zuständigen Behörden" sei. Der Eigentümer habe auch geschrieben, der 20. Dezember sei der "letzte richtige Werktag im alten Jahr, an dem man noch eine friedliche Übernahme der 'Alten Flora' von den Besetzern durchführen könnte" [12] - was kaum anders als als Androhung einer gewaltsamen Räumung aufgefaßt werden kann.

Einen Tag später, am 21. Dezember, fand die Großdemonstration statt, auf der die über sechstausend Menschen, die nach Angaben der Polizei im Schanzenviertel für den Erhalt der Roten Flora demonstrieren wollten, alsbald den Schutz des Versammlungsrechts verloren, weil die Polizei die Demonstration, kaum daß sie sich in Bewegung gesetzt hatte, für aufgelöst erklärt hatte, weil es, so die Begründung einer Polizeisprecherin, massive Angriffe auf Polizeibeamte gegeben hätte. In vom Hamburger Abendblatt veröffentlichten Tickermeldungen hieß es unter anderem auch, daß Demonstranten von der Polizei eingekesselt worden seien und daß die Polizei nach Angaben von Demonstranten wahllos Tränengas in die Menge gesprüht habe. [13] Berichtet wird auch von "starken Angriffen der Polizei", wie der Online-Ausgabe des Neuen Deutschlands zu entnehmen ist [10]:

An der Demonstration wollten sich mehr als 7000 Menschen beteiligen. Vor Ort wurde von starken Angriffen der Polizei gesprochen, Greiftrupps hätten versucht, Menschen festzunehmen. Die Polizei beschoss die Demonstration mit Wasserwerfern und setzte Pfefferspray ein. Auf einem Video im Internet ist zu sehen, wie sich Polizisten kurz nach dem Start der Demo entgegenstellen. Beobachter wiesen darauf hin, dass es ganz offenbar die Strategie der Einsatzleitung gewesen sei, die Demonstration nicht weiterlaufen zu lassen.

Bei den Demonstrationen vom 21. Dezember ging es in erster Linie um den Konflikt um die Rote Flora, auch wenn von den Demonstrantinnen und Demonstranten die eine Woche zuvor an der Reeperbahn angeblich wegen Einsturzgefahr geräumten "Esso"-Häuser ebenso zum Thema gemacht worden waren wie die Bleiberechtsforderung der Lampedusa-Flüchtlinge. Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang allerdings auch, daß die Bezirksversammlung Altona fraktionsübergreifend schon vor längerem einen neuen Bebauungsplan für das Gebiet, in dem die besetzte Rote Flora liegt, in der Absicht auf den Weg gebracht hatte, dem Eigentümer, der mit seinen Räumungsandrohungen wiederholt für Unruhe gesorgt hatte, durch eine Bestandsgarantie für das jetzige Kulturzentrum den Wind aus den Segeln zu nehmen. [14] Im Oktober 2013, kurz vor Ende der Widerspruchsfrist, stellte der Eigentümer jedoch seinerseits einen Bauvorantrag, um aus dem Flora-Gebäude ein Stadtteil- und Veranstaltungszentrum mit einer Konzerthalle für 2.500 Besucher zu machen, und kündigte an, gegen den neuen Bebauungsplan, der am 24. Oktober einstimmig vom Bezirk beschlossen wurde und zum Jahresende in Kraft treten sollte, bis vor den Europäischen Gerichtshof zu ziehen. [14]

Die Maßnahmen, mit denen angeblich der Fortbestand des Gebäudes als alternatives Kulturzentrum hätte gesichert werden sollen, scheinen allerdings ins Leere zu laufen. Der Kaufvertrag, mit dem die Stadt Hamburg als Voreigentümerin das Gebäude 2001 an Kretschmer verkaufte, hatte die Klausel enthalten, daß das Gebäude auch nach dem Verkauf ausschließlich als Stadtteilkulturzentrum genutzt werden dürfe. Der Status des als Sanierungsgebiet ausgewiesenen Gebiets wurde verlängert, um die Flora als Kulturzentrum zu erhalten, und auch der neue, von Kretschmer angefochtene Bebauungsplan enthält eine Veränderungssperre, die dessen ausschließliche Nutzung als Kultur- und Stadtteilzentrum festschreibt [15]. Der von Bezirk bzw. Stadt versprochene Bestandsschutz muß sich für die Bewohner und Bewohnerinnen der Roten Flora wie blanker Hohn ausgenommen haben, nachdem ihnen der Besitzer ungeachtet der eigentlich geklärten Rechtslage mit seiner Räumungsaufforderung die Pistole auf die Brust gesetzt hatte.

Von den Altonaer Kommunalpolitikerinnen und -politikern, die noch im Oktober alles ihnen Mögliche getan zu haben schienen, um den Fortbestand der Roten Flora in ihrer jetzigen Form aufrechtzuerhalten und insofern zur Deeskalation der Lage beizutragen, ist inzwischen kaum noch etwas zu vernehmen. In dem Konflikt geht es um mehr als um kommunale Bebauungspläne, steht doch die Eigentums- und Rechtsordnung insgesamt zur Disposition, da sie es dem Eigentümer, so er einen gerichtlichen Räumungstitel in Händen hielte, ermöglichen würde, die Rote Flora gegen den erklärten Willen und bekundeten Widerstand ihrer Nutzerinnen und Nutzer durch die Polizei räumen zu lassen.

Die Polizei ihrerseits wird nach den Ereignissen vom 21. Dezember alle juristischen Argumente für ein präventives Vorgehen, um durch massivste Vorab-Interventionen Gewalttaten und Ausschreitungen zu verhindern, scheinbar auf ihrer Seite haben. Eine Klärung der Frage, ob und inwieweit die Einsatzstrategie der Polizei zur Eskalation beigetragen oder diese womöglich erst herbeigeführt haben könnte, ist von neutraler Seite schon deshalb nicht möglich, weil es sich bei der dabei vermuteten Neutralität um eine zu dem Zweck, die verfolgten repressiven Absichten und Interessen ungreifbar zu lassen, entworfene Fiktion handelt. So haben sich auch die bislang mit dem Fall befaßten Hamburger Gerichte ungeachtet des grundgesetzlichen Postulats der Gewaltenteilung als verlängerter Arm einer Exekutive erwiesen, die mit Zuckerbrot und Peitsche auf jede Infragestellung gesellschaftlicher Werte und Normen reagiert, wie sie in ihren Augen allem Anschein nach schon durch ein Stadtteil- und Kulturzentrum gegeben ist, das eine gewisse Autonomie im Sinne einer von staatlichen Vorgaben freigehaltenen kulturellen und politischen Eigenständigkeit beansprucht.

Im Falle der angedrohten Räumung der Roten Flora, die nach wie vor im Raum steht, könnte es zu ähnlichen Auseinandersetzungen wie schon am 21. Dezember, wenn nicht gar zu einer noch weiter zugespitzten Eskalation kommen. Zu befürchten steht darüber hinaus, sozusagen als Kollateralnutzen, daß die Befürworter eines (vereinfachten) Einsatzes der Bundeswehr im Innern darin die Gunst ihrer Stunde erblicken könnten und die dann abermals medial aufgeheizte Stimmung zu instrumentalisieren suchen, um in Medien, Politik und Öffentlichkeit eine einigermaßen tragfähige und belastbare Akzeptanz zu erzeugen für den von ihnen beabsichtigten nächsten Schritt, nämlich mit Bundeswehrsoldaten weit unterhalb der Notstandsschwelle gegen eine demonstrierende, streikende oder auf andere Weise protestierende und aufbegehrende Bevölkerung vorgehen zu können.

Sieben Leichname vor einer Mauer auf dem Boden liegend - Foto: Bundesarchiv, Bild 102-00539 / Groß, Alfred / CC-BY-SA

Mahnung aus der deutschen Geschichte - Von Regierungstruppen standrechtlich erschossene Aufständische (Berlin 1919)
Foto: Bundesarchiv, Bild 102-00539 / Groß, Alfred / CC-BY-SA


Fußnoten:

[1] http://www.bverfg.de/entscheidungen/up20120703_2pbvu000111.html

[2] http://www.heise.de/tp/artikel/26/26136/1.html

[3] http://www.welt.de/politik/article811310/Schaeuble-will-Militaer-im-Innern-einsetzen.html

[4] http://www.taz.de/!71168/

[5] http://www.bundestag.de/dokumente/textarchiv/serien/24039384_debatten_serie/25458537_debatten05/index.jsp

[6] Siehe den Bericht über den Vortrag von Dr. Heinz-Jürgen Schneider im Schattenblick unter INFOPOOL → POLITIK → REPORT:
BERICHT/174: Herrschaft in der Krise - Synthese im Widerspruch (SB)
http://schattenblick.de/infopool/politik/report/prbe0174.html

[7] http://www.focus.de/politik/deutschland/demo-hamburg-rote-flora-krawalle-hamburg-rote-flora-buergerkrieg-ausschreitung-verletzte-polizei-4_id_3501064.html

[8] http://www.taz.de/Demonstration-fuer-Rote-Flora/!129842/

[9] http://www.fr-online.de/politik/-rote-flora--hamburg-strassenschlacht-im-schanzenviertel,1472596,25712254.html

[10] http://www.neues-deutschland.de/artikel/918835.rote-flora-polizei-greift-demonstration-an.html

[11] http://www.neues-deutschland.de/artikel/918830.polizei-macht-hamburg-zum-gefahrengebiet.html

[12] http://www.mopo.de/nachrichten/eigentuemer-kretschmer--rote-flora--nicht-vor-weihnachten-geraeumt,5067140,25663308.html

[13] http://www.abendblatt.de/hamburg/altona/article123201136/Krawallen-in-der-City-Mindestens-22-Polizisten-verletzt.html

[14] http://www.taz.de/Hintergruende-zur-Roten-Flora/!129866/

[15] http://www.taz.de/Neue-Plaene-des-Investors/!125031/


3. Januar 2014