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DILJA/1379: Das stille Erbe der Apartheid - Südafrika kämpft um seine Freiheit (SB)


Südafrika - ein Land, von Widersprüchen keineswegs zerrissen


Wieso "Apartheid"? Wieso Freiheitskampf? Ist das in Südafrika nicht längst Geschichte? Die letzte Frage läßt sich am besten mit einem entschiedenen Jein beantworten. Selbstverständlich sind die Tage der Apartheid im südlichsten Staat Afrikas vorbei. Wenn heute in der Republik Südafrika des hundertjährigen Bestehens der ehemaligen Befreiungsbewegung und heutigen Regierungspartei "Afrikanischer Nationalkongreß" (ANC), der am 8. Januar 1912 in einer Kirche in Bloemfontein oder, wie es in zwei Bantu-Sprachen heißt, Mangaung, gegründet wurde, gedacht wird, ist das Dilemma des heutigen Südafrikas fast mit Händen zu greifen. In keinem anderen Staat der Welt ist die Diskrepanz zwischen arm und reich so groß wie in Südafrika. Streiks erschüttern das Land. Im vergangenen Jahr legten Hunderttausende Kumpels die Arbeit nieder, wenig später traten die Beschäftigen des Reinigungsgewerbes in den Ausstand, und schließlich streikten auch rund 200.000 Arbeitskräfte kommunaler Betriebe für Lohnerhöhungen.

Mit "Apartheid" hat all dies selbstverständlich nichts zu tun - sollte man meinen. Doch wenn man das Rad der Geschichte einmal zurückdreht, um hundert Jahre und mehr, und sich fragt, welche Rolle das Gebiet der heutigen Republik Südafrika sowohl auf dem afrikanischen Kontinent als auch in geostrategischer Hinsicht eingenommen hat bzw. einnehmen mußte, zeichnet sich ab, daß die vielfältigen Narben und Schädigungen, die dem Land und den in ihm lebenden Menschen durch die Kolonialisierung zugefügt wurden, mit dem formalen Ende der letzten Apartheidregierung weder abgeheilt noch behoben sein können.

Aus Sicht der führenden westlichen Kolonialmächte, die ungeachtet ihrer Konkurrenzfeindschaft das identische Interesse an der Versklavung und Ausbeutung der übrigen Welt miteinander teilten, hatte das Land an der Südspitze Afrikas eine Schlüsselrolle eingenommen. Es wurde zu einer Bastion und Festung einer militärisch-wirtschaftlichen Okkupation, und, geostrategisch gedacht, einem unverzichtbaren Stützpunkt für die Kontrolle und Ausplünderung all jener Staaten und Regionen, die nach ihrer formalen Dekolonisation als sogenannte "Dritte-Welt-Länder" in einen umso starreren Rang (post-)kolonialer Abhängigkeiten manövriert wurden. Der ANC, 1912 von schwarzen Intellektuellen als "South-African Native National Congress" gegründet und 1923 umbenannt in den noch heute gültigen Namen "African National Congress", stand von seiner Stunde Null an für den Kampf der schwarzen Bevölkerung gegen die (Rassen-) Diskriminierung durch die weiße Minderheit.

Die Menschen unterschiedlicher Hautfarbe wurden jedoch, lange Zeit vor dem 1948 zur offiziellen Regierungspolitik erhobenen Rassentrennungsprogramm, der Apartheid, durch weitaus mehr als ihre Hautfarbe getrennt. Die "Weißen" waren die Kolonialherren bzw. deren Nachfahren, hinter ihnen standen die alten europäischen Mächte, deren gemeinsames Interesse ganz gewiß nicht darin bestand, in der Republik Südafrika eine Entwicklung im Zeichen von Demokratie und sozialer Entwicklung zu initiieren oder auch nur zuzulassen, so wie es den politischen Ansprüchen oder vielmehr Versprechungen in den Heimatstaaten der Kolonialmächte entsprochen hätte. Wäre dem nicht so und wäre dem eigentlich jungen Apartheidstaat nicht ungeachtet seiner späteren, allerdings nur formal vollzogenen internationalen Ächtung die wirtschaftliche, politische und militärische Unterstützung seiner "weißen" Bruderstaaten, sprich der führenden westlich-kapitalistischen Staaten, sicher gewesen, wäre wohl kaum plausibel zu erklären, wie es über so viele Jahrzehnte möglich sein konnte, daß eine (schwarze) Bevölkerungsmehrheit durch eine (weiße) Minderheit nicht nur diskriminiert, sondern auf krasseste und jeder Menschenrechtsrhetorik spottende Weise unterdrückt und ausgebeutet werden konnte.

Dem ANC kann ein Mangel an Geduld nicht nachgesagt werden. Über mehrere Generationen hinweg, genauer gesagt vom Gründungsjahr 1912 bis 1961, blieb er seiner eingeschlagenen Linie friedlicher Proteste und Petitionen treu. Dies änderte sich erst, nachdem die südafrikanische Polizei am 21. März 1960 in Sharpeville 69 Menschen, die friedlich gegen die rassistischen Paßgesetze demonstriert hatten, erschoß. Über eineinhalb Jahre später, am 16. Dezember 1961, wurde im ANC offiziell die Schlußfolgerung gezogen, daß das Konzept des friedlichen Widerstands gescheitert sei. An diesem Tag wurde von der ANC-Führung um Nelson Mandela Umkhonto we Sizwe (Speer der Nation), der bewaffnete Arm der Organisation, gegründet. Damit hatte sich der ANC, das muß heute deutlich gesagt werden, auch aus Sicht der Bundesrepublik Deutschland, der USA und auch Israels ins Unrecht gesetzt. Der ANC wurde zur "terroristischen" Organisation erklärt, um die Unterstützung des Apartheidsregimes noch so lange wie möglich irgendwie gangbar zu machen, profitierte doch die genannte Staatenwelt von einem Regime, dessen Menschenrechtsverletzungen von den zuständigen internationalen Organisationen, aber auch den führenden UN-Gremien längst pflichtschuldigst verurteilt worden waren.

Es sollte weitere 30 (!) Jahre dauern, bis die (Apartheids-) Verhältnisse in Südafrika ernsthaft in Bewegung kamen. Die Kräfte-, Gewalt- und Machtverhältnisse hatten sich verändert. Aus Sicht des Regimes und seiner in immer stilleren Fahrwassern agierenden westlichen Verbündeten muß die Gefahr, die Kontrolle über das Land vollständig durch eine militärische Niederlage gegen den vom ANC angeführten Widerstand zu verlieren, in dieser Zeit konkret geworden sein. Sie leiteten einen "geordneten Übergang" ein, ließen, was zuvor über Jahrzehnte hinweg undenkbar gewesen wäre, Vorverhandlungen mit dem zu diesem Zeitpunkt bereits seit 27 Jahren inhaftierten Nelson Mandela aufnehmen. Keineswegs nahm das Regime dabei eine Haltung ein, die bedingungslose Übergabe der Macht anzubieten in Verbindung mit dem Wunsch, unter für den ANC akzeptablen Bedingungen im Land bleiben zu dürfen. Nein, es sollten und wurden Weichen gestellt, um zu gewährleisten, daß zwar die Rassentrennung fällt und aufgehoben wird, aber mehr auch nicht.

In der überschwenglichen Euphorie, die in der darauffolgenden Zeit insbesondere durch die Freilassung Mandelas in der südafrikanischen Bevölkerungsmehrheit ausgelöst werden konnte, gab es selbstverständlich politische Auseinandersetzungen über all die Fragen der Zukunftsgestaltung und Vergangenheitsbewältigung. Das Land und seine Menschen blieben von der Apartheid gezeichnet, die wie ein böser Geist fortwirkte, auch nachdem Nelson Mandela 1994 zum ersten schwarzen Präsidenten Südafrika gewählt werden konnte und der ANC zur Regierungspartei wurde. Die grausame Unterdrückung, die blutige Vergangenheit, der aufopferungsvolle Befreiungskampf, all dies wurde unter die Kategorie einer Rassenfrage, als welche die Apartheid fraglos verstanden werden konnte, subsumiert. Doch läßt sich die Rassen- von der Klassenfrage, oder, noch allgemeiner ausgedrückt, von der Herrschaft des Menschen über den Menschen tatsächlich unterscheiden?

Müssen nicht die heutigen Schwierigkeiten, in einem nach wie vor nach den ehernen Prinzipien kapitalistischer Verwertungslogik organisierten Gesellschaftssystem die soziale Frage zu stellen, in dem Kontext eines späten und eigentlich nicht existenten Apartheidserbes gesehen werden? Als der ANC sein hundertjähriges Bestehen feierlich beging, wurden die Allianzpartner entgegen der bisherigen Tradition gar nicht erst eingeladen, sämtliche Grußbotschaften wurden verbannt [1]. COSATU, der Gewerkschaftsverband, hatte der ANC-Führung wiederholt "Korruption" und "politisches Versagen" vorgeworfen. Bei den Feierlichkeiten standen die historischen Würdigungen der Freiheitskämpfer ganz im Vordergrund, ihr selbstloser Kampf wurde mit dem Respekt behandelt, der ihm fraglos gebührt. Für die jüngeren und nachfolgenden Generationen Südafrikas dürfte dies allerdings auf Dauer nicht genügen. Sie stellen Fragen und Forderungen, die die aktuelle Lage des Landes betreffen, die noch ungelösten sozialen Probleme, die der gegenwärtigen Regierung um Jacob Zuma ebenso angelastet werden wie auch deren Bemühungen um eine bessere Versorgung der vielen, noch immer in großer Armut lebenden Menschen anerkannt werden.

"Korruption" ist dabei ein Stich- und Schlagwort, das einerseits geeignet ist, die Wut vieler Menschen auf die neue, nun "schwarze" Elite, die ihre persönlichen Interessen zu Lasten anderer durchsetzen, auf einen kurzen Nenner zu bringen. Zugleich jedoch stellt dieser Begriff eine Sackgasse dar, weil er ein tiefsitzendes Problem, das systemimmanenter nicht sein könnte, auf die Ebene eines menschlichen oder auch von einer Partei vollzogenen Fehlverhaltens bringt, was zur Folge hat, daß eine weitergreifende Analyse nicht erfolgt. Denis Goldberg, ein ANC-Kämpfer der ersten Stunde zu der Zeit, als die Partei um Mandela den Schritt, den bewaffneten Kampf gegen das Apartheidsregime aufzunehmen und zu führen, vollzogen hatte, nahm auf seine Weise das hundertjährige Bestehen des ANC, dem er sich nach wie vor zutiefst verbunden fühlt, zum Anlaß, an die historischen Wurzeln des südafrikanischen Freiheitskampfes zu erinnern.

Während seines jüngsten Deutschlandaufenthaltes erinnerte der 79jährige, der Mitglied der Südafrikanischen Kommunistischen Partei (SACP) ist, dem neben COSATU dritten langjährigen Koalitionspartner des ANC, in einem jw-Interview [2] an die Freiheitscharta des ANC von 1955, derzufolge alle Südafrikaner ungeachtet ihres ethnischen Ursprungs nur gemeinsam ein neues freies Land aufbauen könnten. Es gelte zu verstehen, so Goldberg, was Rassen- und was Klassenkampf sei. Auf die Frage, wie weit die Korruption im Land verbreitet sei, entgegnete er [2]:

Das ist keine Korruption - das ist normaler Kapitalismus. Ich kämpfe dagegen. Zugleich müssen wir aber das Land entwickeln. Wir können nicht abwarten, bis wir ein reines, vollkommenes Südafrika haben. Tatsächlich ist es nicht einfach, eine solche Gesellschaft aufzubauen, wenn große Teile der Bevölkerung durch die alte Ordnung seelisch verletzt sind. Es geht um Menschen - und die wollen jetzt ein besseres Leben.

Das große Plus Südafrikas besteht darin, daß die Frage nach der Entwicklung des Landes eine noch offene ist. Nicht von ungefähr nimmt das Land mehr und mehr auf dem afrikanischen Kontinent, aber auch weltweit, eine eigenständige Rolle ein. Erinnert sei an die deutliche Kritik Pretorias am Libyen-Krieg der NATO. So wenig, wie der Freiheitskampf Südafrikas bislang tatsächlich zu einem echten Erfolg geführt werden konnte, da die Überwindung der Apartheid bestenfalls eine erste Etappe darstellt, steht doch außer Frage, daß die Gegner des einstigen Regimes, das "Apartheid" genannt wurde und doch ein Statthalter der westlichen Staatenelite war, das Potential in sich tragen, eine weltweite Entwicklung zu befördern, die dem westlichen Weltherrschaftsanspruch die Realisierungssubstanz entzieht.

Anmerkungen:

[1] Schwieriger Geburtstag. Südafrikanischer ANC zelebriert 100jähriges Bestehen in trügerischer Einigkeit. Kritiker zum Schweigen gezwungen. Von Christian Selz, Kapstadt. Junge Welt, 07.01.2012, S. 3

[2] "Wir brauchen zwei Generationen". Südafrikas Mühen der Ebene: Die Widersprüche innerhalb des ANC und mangelnde soziale Solidarität. Ein Gespräch mit Denis Goldberg. Interview: Gerd Schumann, junge Welt, 23.01.2012, S. 3


26. Januar 2012