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DILJA/1332: Antikommunistische Beißreflexe gegen die Linksparteivorsitzende Lötzsch (SB)


Fressen Kommunisten kleine Kinder?

Mediale Mobilmachung gegen links anläßlich einer Presseveröffentlichung der Vorsitzenden der Linkspartei Gesine Lötzsch


Seit über zwei Jahrzehnten gilt die sogenannte Systemfrage zwischen Kapitalismus und Kommunismus, um die menschheitsgeschichtliche Kontroverse um die mit diesen beiden Schlagworten verknüpfbaren Gesellschaftsmodelle bzw. -utopien einmal auf dieses Begriffspaar herunterzubrechen, als entschieden und historisch überwunden. Die Sowjetunion und damit die Schutz- und Großmacht der realsozialistischen Staatenwelt hatte 1989/90 zu existieren aufgehört, die verbliebenen "roten" Inseln waren von so marginaler Größe, schwindendem Einfluß und mit eigenen Existenzkrisen befrachtet, daß die kapitalistische Staatenwelt sich als alleinige Siegerin und nun fraglos weltdominierende Hegemonialmacht empfinden konnte. Allein, Triumph und Triumphgefühl fielen etwas schal aus, so als glaubten die Repräsentanten und klügsten Köpfe der westlichen Staatenwelt selbst nicht so recht daran, der Herausforderung Sozialismus tatsächlich Herr geworden zu sein.

Bis zur Oktoberrevolution von 1917 hatten sie sich, da es bis dahin die in vielen Ländern erwachsenen Linksbewegungen noch nicht bis zur Übernahme der Regierungsgewalt geschafft hatten, in einer unanfechtbaren Position wähnen können. Auf die strategisch wie taktisch gebotene und aus ihrer Sicht sinnvolle, um nicht zu sagen zwingend notwendige Idee, ihrerseits eine "Charme-Offensive" in Gang zu setzen, um den Kampf um die "Hirne und Herzen" der Menschen nicht zu verlieren, verfielen sie erst im zweiten Schritt angesichts der realen Gefahr, daß sich, dem Beispiel Rußlands bzw. der jungen Sowjetunion folgend, die Bevölkerungen weiterer Staaten in so großer Zahl sozialistischen Ideen oder gar der Gesellschaftsutopie Kommunismus zuwenden könnten, daß die Tage ihrer Alleinherrschaft gezählt sein könnten.

Wie auch immer die weitere historische Entwicklung in der sich selbst als kommunistisch definierenden Staatenwelt zu bewerten sein mag, war doch mit der Existenz dieses Systemherausforderers eine weltpolitisch gänzlich veränderte Situation entstanden. Hätten die kapitalistische Staatenwelt und die in ihr führenden Regierungen den eigenen Demokratieanspruch ernst genommen, hätten sie an dieser Stelle geradezu freudig die Entwicklung eines Alternativmodells oder gesellschaftlichen Gegenentwurfs begrüßen müssen frei nach dem Motto, in bester demokratischer Tradition in einen Wettstreit der Ideen, ihrer Umsetzung und ihrer Akzeptanz seitens der Wähler und Wählerinnen treten zu wollen mit dem Ergebnis, daß der eigentliche Souverän eines jeden Staats, sprich seine (Wahl-) Bevölkerung, sich am Ende des Diskurses die ihm am meisten genehme Gesellschaftsordnung wählt.

In der Entstehungsgeschichte des deutschen Grundgesetzes ist dieses demokratische Selbst- und Staatsverständnis noch zu vermuten, wurde doch nicht ohne Grund darauf verzichtet, ein bestimmtes Gesellschaftsmodell in die Verfassung hineinzuschreiben und damit diese Frage der Gestaltungsmöglichkeit des Souveräns vorzuenthalten. Wären die Verfechter der alten Ordnung von der Überzeugungskraft ihres Systems, seiner Anwendbarkeit und Nützlichkeit auch für die Mehrheit der eigenen Bevölkerung, überzeugt gewesen, hätten sie den Neuling im fernen Rußland wohl kaum zu fürchten gehabt. Dieser hatte in der Stunde Null über keinerlei Erfahrung oder konkrete Ergebnisse verfügen können und stand mit nicht mehr als der bloßen Absicht, den Sozialismus aufzubauen, zu entwickeln und zu verwirklichen, vor den von dieser Idee angetanen oder auch begeisterten Menschen.

Der weitere Verlauf der historischen und schon bald von dem nächsten verheerenden Weltkrieg dominierten Entwicklung könnte entgegen der vorherrschenden Geschichtsschreibung, derzufolge Hitler der Alleinverursacher eines von keinem weiteren Staat außer den faschistischen Achsenmächten gewollten Krieges gewesen sei, auch als der wenn auch fehlgeschlagene Versuch der westlichen Alliierten aufgefaßt werden, den "verrückten" Deutschen in seinem Ostfeldzug gewähren zu lassen und dafür seine Angriffe im Westen hinzunehmen, damit die deutsche Wehrmacht den Systemherausforderer Sowjetunion militärisch zu Fall bringt, ohne daß die westlichen Demokratien sich vor ihren eigenen Bevölkerungen als Vernichter der Idee des Sozialismus hätten zu erkennen geben müssen. Doch diese Rechnung ging nicht auf. Sechs volle Kriegsjahre und Millionen Kriegstote später wurde dieselbe Auseinandersetzung als vermeintlich "Kalter Krieg" weitergeführt, ohne daß in den westlichen Staaten je die Frage ernstgenommen worden wäre, wie denn aus einem der Verbündeten der Anti-Hitler-Koalition, nämlich der Sowjetunion, in so kurzer Zeit und ohne erkennbaren Grund der neue Feind werden konnte.

Doch was haben historische Überlegungen dieser Art oder grundsätzliche Erwägungen über das Für und Wider von Kommunismus, Sozialismus oder Kapitalismus mit der gegenwärtigen politischen Situation in der Bundesrepublik Deutschland zu tun? Am 3. Januar 2011 wurde in der linken Tageszeitung "junge Welt" ein Text der Vorsitzenden der Linkspartei, Gesine Lötzsch, mit dem Titel "Wege zum Kommunismus" [1] veröffentlicht, der heftige Reaktionen in Politik und regierungsnahen Medien auslöste. Lötzsch, Bundestagsabgeordnete und seit Mai 2010 eine der beiden Vorsitzenden ihrer Partei, sieht sich Anwürfen ausgesetzt ganz so, als habe sie öffentlich zum Fressen kleiner Kinder aufgerufen. Antikommunistische Stereotype wurden mit einer Intensität und in einem erstaunlichen Tempo aus den Hüten gezaubert ganz so, als sei die Berliner Republik ein Leck geschlagenes Schiff, dessen drohender Untergang ohne heftigstes Gegenrudern nicht mehr aufzuhalten ist.

Hermann Gröhe, Generalsekretär der CDU, sprach in einer Pressemitteilung [2] von einer "skandalösen Kommunismus-Sehnsucht von Gesine Lötzsch", die "ein Schlag ins Gesicht aller Opfer dieser menschenverachtenden Ideologie" sei. Der von der Linkspolitikerin in ihrem Text als anstrebens- und umsetzungswürdiges Gesellschaftsideal behandelte Kommunismus löste Abwehrreaktionen, Pauschaldiffamierungen und persönliche Bezichtigungen aus bei denjenigen, die sich zur Verteidigung der ihrer Meinung nach in Frage gestellten vorherrschenden Gesellschaftsordnung berufen fühlen. In Gröhes Pressemitteilung hieß es zum Thema Kommunismus [2]:

Dabei gilt: Wo auch immer in der Welt man sich von der kommunistischen Ideologie hat leiten lassen, waren brutale Unterdrückung und ein wirtschaftliches, soziales und ökologisches Desaster die Folge. Zig Millionen Menschen bezahlten diesen Machtwahn mit ihrem Leben.

Wer nach 20 Jahren Deutscher Einheit immer noch von Rosa Luxemburgs Plänen der "Machteroberung" schwärmt und den Systemwechsel propagiert, der hat aus der blutigen Geschichte des Kommunismus nichts gelernt.

Wer sich die Mühe macht, Lötzschs Text mit eigenen Augen und vollständig zu lesen, wird allerdings keine einzige Passage finden, in der die Linkspolitikerin die Sowjetunion oder die DDR vorbehaltlos gutheißen bzw. deren Wiederkehr propagieren würde. Sie ist allerdings auch nicht bereit, die Erfolge und Mißerfolge der bisherigen Geschichte sich sozialistisch oder kommunistisch nennender Staaten gleichzusetzen mit einem unhinterfragbaren Scheitern bzw. der absoluten Nichtanwendbarkeit der bloßen Idee des Sozialismus bzw. Kommunismus für die Bewältigung realexistierender Probleme und gesellschaftspolitischer Herausforderungen. Dies klingt bei ihr unter anderem in folgenden Worten an [1]:

Thomas Edison soll gesagt haben: "Ich bin nicht gescheitert. Ich habe nur 10000 Wege gefunden, die nicht funktionieren." Was für ein großartiges Selbstbewußtsein! Wie viele Wege haben die Linken gefunden, die nicht funktionierten? Waren es 100 oder 1000? Es waren bestimmt nicht 10000! Das ist genau das Problem! Wir sind zu oft mit dem Finger auf der Landkarte unterwegs. Die Wege zum Kommunismus können wir nur finden, wenn wir uns auf den Weg machen und sie ausprobieren, ob in der Opposition oder in der Regierung.

"10000 Wege, die nicht funktionieren ... " - das klingt nicht gerade nach dem der Linkspolitikerin von ihren politischen Gegnern unterstellten Geschichtsbewußtsein, wohl aber danach, die Idee an sich für erforschungs- und umsetzungswürdig zu halten. In einer freiheitlichen Demokratie gehören Auffassungen dieser Art zum grundgesetzlich geschützten Kernbereich der Meinungsfreiheit, der gegenüber Politiker vom Schlage Gröhes den ihr als unumstößlichem Verfassungsbestandteil gebührenden Respekt allerdings vermissen lassen. Gröhe suchte Lötzsch in die Nähe von "Verfassungsfeinden" [2] zu rücken, die aus der blutigen Geschichte des Kommunismus, nicht etwa der des Kapitalismus, nichts gelernt hätten.

Da in einer Zeit zunehmender materieller Not und einer sozialen, durch Hartz IV noch beförderten Verelendung die Suche bzw. Frage nach gesellschaftspolitischen Alternativen und diesen zugrundeliegenden Utopien von immer mehr Menschen immer nachdrücklicher gestellt werden könnte, scheint der tatsächliche Grund für die beißreflexartigen Reaktionen auf den Text der Bundestagsabgeordneten in Sätzen wie den folgenden liegen zu können [1]:

Das Klima verändert sich dramatisch, der Golfstrom kühlt ab, die Flüchtlingsströme überrennen die "Festung Europa", und wir werden gefragt, ob wir für diesen verworrenen Problemhaufen eine Lösung haben. Wer behauptet, daß er für dieses Szenario eine Strategie in der Schublade hat, der ist ein Hochstapler. Was wir anbieten können sollten, ist eine Methode für den Umgang mit solchen Problemhaufen. Wir wissen gar nicht, ob die Mechanismen der Wohlstands- und Verteilungsdemokratie der Bundesrepublik geeignet sind, solche komplexen Aufgaben zu lösen und friedlich abzuarbeiten. Ich habe da meine Zweifel. Die Regierung verbreitet schon jetzt nur noch Kompetenzillusionen. Allerdings sehe ich auch die Linken noch nicht wirklich gut gerüstet, wenn es um die Bewältigung von Gesellschaftskrisen geht.

Mediale Schützenhilfe blieb nicht aus. Im Spiegel erschien nur einen Tag nach der Veröffentlichung des Lötzsch-Textes zum Thema "Wege zum Kommunismus" eine Replik, in der alle sattsam bekannten Stereotype antikommunistischer Diffamierung gezogen wurden, so etwa die "Blutspur" des Kommunismus [3]:

Mit der gleichen Selbstverständlichkeit, mit der Lötzsch über den Kommunismus spricht, vergisst sie dessen Blutspur. Kein Wort verliert sie über die Opfer des Kommunismus, über die Lager in der Sowjetunion, in China oder in Korea, die alle im Namen des Kommunismus errichtet wurden. Nicht einmal über die Kommunisten spricht sie, die Opfer von Kommunisten wurden. (...)

Der Wähler hingegen dürfte sich aber folgende Frage stellen: Wo bitte treibt diese Linke hin? Und wer will eigentlich in diesem Land den Kommunismus?

Die letzte Frage läßt eine gewisse Besorgnis erkennen. Was nur, wenn Ideen und Positionen, wie sie von Gesine Lötzsch und anderen vertreten und propagiert werden, tatsächlich Anklang fänden bei mehr und mehr Menschen bzw. Wählern, die mit dem traditionellen Parteiensystem und den Ergebnissen der von den Großparteien wechselweise getragenen Regierungspolitik vollkommen unzufrieden sind und deshalb ein wachsendes Interesse an demgegenüber alternativen Ansätzen entwickeln?

Doch um Fragen dieser oder ähnlicher Art geht es in der gegenwärtigen aufgeheizten Debatte nicht. In ihrem Mittelpunkt stehen Vorhaltungen gegenüber Lötzsch, wie sie beispielsweise der CSU-Generalsekretär Alexander Dobrindt auf der Klausurtagung der CSU-Landesgruppe in Wildbad Kreuth formuliert hat, als er erklärte, Frau Lötzsch habe sich "außerhalb unserer Verfassung" [4] gestellt. Wer den Kommunismus in Deutschland einführen wolle, so Dobrindt, wolle gleichzeitig das Grundgesetz abschaffen, weshalb es zwingend sei, daß die Linke "flächendeckend vom Verfassungsschutz beobachtet werde" [4].

Lötzsch ihrerseits trat den Anfeindungen inhaltlich entgegen und stellte klar, wie in der Welt zitiert, daß Die Linke "linkssozialistisch" und "keine kommunistische Partei" [5] sei. "Die Welt" ließ ihren Text mit einem Zitat aus dem Programmentwurf der Linken vom März 2010 ausklingen, so als würden die darin artikulierten Forderungen der Linkspartei die gegen sie anläßlich des Lötzsch-Textes losgetretene öffentliche Kampagne bestätigen, indem sie veranschaulichen, wie kommunistisch die Partei doch wäre. In dem Programmentwurfszitat [5] heißt es, und dies mag an dieser Stelle genügen, um das demokratische Selbstverständnis derjenigen, die dies zum Anlaß für diffamierende Vorhaltungen machen, zu dokumentieren:

Die LINKE kämpft in einem großen transformatorischen Prozess gesellschaftlicher Umgestaltung für den demokratischen Sozialismus des 21. Jahrhunderts. Dieser Prozess wird von vielen kleinen und großen Reformschritten, von Brüchen und Umwälzungen mit revolutionärer Tiefe gekennzeichnet sein.



Anmerkungen

[1] Wege zum Kommunismus. Von Gesine Lötzsch, junge Welt, 03.01.2011, S. 10,
http://www.jungewelt.de/2011/01-03/001.php

[2] Skandalöse Kommunismus-Sehnsucht der Linkspartei, Pressemitteilung Nr. 1/2011 der CDU, 05.01.2011, im Schattenblick unter -> INFOPOOL -> PARLAMENT -> CDU/CSU: INNEN/2326

[3] Programmdebatte. Linke-Chefin erklärt Kommunismus zum Ziel der Partei. Von Stefan Berg, Der Spiegel, 04.01.2011,
http://www.spiegel.de/politik/deutschland/0,1518,737780,00.html

[4] Empörung über Lötzsch-Beitrag "Wege zum Kommunismus", 05.01.2011,
http://nachrichten.t-online.de/die-linke-empoerung-ueber-loetzsch-beitrag-wege-zum-kommunismus-/id_43935356/index

[5] Lötzsch spekuliert über Wege zum Kommunismus. Die Vorsitzende der Linkspartei veröffentlichte in der "Jungen Welt" einen Text über "Wege zum Kommunismus" - und erntet heftige Kritik. Die Welt, 05.01.2011,
http://www.welt.de/politik/deutschland/article11986899/Loetzsch-spekuliert-ueber-Wege-zum-Kommunismus.html

6. Januar 2011