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DILJA/1330: Sozialistisches Bolivien - Evo Morales mißachtet das Prinzip Staatsräson (SB)


Im Zweifel entscheidet das Volk

Boliviens Präsident Evo Morales erfüllt im Konflikt um die Streichung der Treibstoffsubventionen sein Amtsversprechen


Als Evo Morales, amtierender Präsident Boliviens, am 22. Januar 2006 zum ersten Mal sein Regierungsamt antrat, gelobte er feierlich, dem Volk "gehorchend zu regieren" [1]. Angesichts der schier endlosen Flut gebrochener und nur zu diesem Zweck zuvor gegebener Wahlversprechen, die in nahezu allen Ländern der Welt von den Kandidaten für die höchsten Regierungsämter abgesondert und nach erfolgtem Amtsantritt generalerneuert werden, um die eigene Bevölkerung noch möglichst lange still zu halten, können diese Worte kaum Aufsehen erregen. In Bolivien hingegen und damit in einem der Staaten Lateinamerikas, in dem die Menschheitsutopie Sozialismus ungeachtet ihrer bisherigen Unerfüllbarkeit auf der Tagesordnung steht, stellen diese präsidialen Worte keine Vereinnahmungs- und Vernebelungstaktik dar, sondern kennzeichnen die Selbstverpflichtung eines Präsidenten, an der dieser sich auch Jahre später noch messen läßt.

Es darf spekuliert werden, daß Evo Morales die aktuelle politische Krise in seinem Land kaum so gut überstanden hätte, wäre er dieser Maxime nicht treu geblieben, standen der von ihm geführten Regierung doch zum Jahreswechsel die größten Proteste ihrer gesamten Amtszeit bevor. Den unmittelbaren Anlaß für den landesweiten Unmut der eigenen politischen Basis, nämlich der sozialen Organisationen, die vor nun bereits über acht Jahren durch ihre Streiks und Massenproteste das Ende des traditionellen Parteiensystems herbeigeführt hatten, hatte Morales mit der am 26. Dezember erfolgten Ankündigung, die Subventionen für die Treibstoffpreise zu kürzen, selbst geliefert. Durch das am zweiten Weihnachtstag verkündete Präsidialdekret Nr. 748 sollten die Treibstoffpreise des Landes an das in den Nachbarländern Argentinien, Brasilien, Peru, Paraguay und Chile vorherrschende Preisniveu angeglichen werden, um den in Bolivien grassierenden Treibstoffschmuggel einzudämmen.

Die Motivation der Regierung Morales ist somit nicht, wie zunächst zu argwöhnen wäre, gegen die Interessen der eigenen (armen) Bevölkerung gerichtet, auch wenn diese von dieser Maßnahme so akut und massiv getroffen wurde, daß massivste Proteste nicht ausbleiben konnten. So hatten die wichtigsten Gewerkschaften des Landes, organisiert in der Arbeiterzentrale Boliviens (COB), bereits zwei Tage später einen "nationalen Marsch" und "Mobilisierungen in allen Departamentos" beschlossen und angekündigt, um ihrer Forderung an die Regierung, das "verdammte Gesetz" (Dekret Nr. 748) "unmittelbar" [2] zu annullieren, Nachdruck zu verleihen. Der Gewerkschaftsdachverband betonte, keine parteipolitischen Interessen zu verfolgen und erklärte angesichts der Gefahr, daß soziale Proteste jeder Art von der rechten Opposition des Landes instrumentalisiert und vereinnahmt werden könnten, um die Linksregierung zu schwächen und wenn möglich zu stürzen, man werde verhindern, daß regierungsfeindliche Parteien "mit anderen Interessen und Zielen" die Gewerkschaften infiltrieren, so COB-Präsident Pedro Montes [2].

Doch zunächst hatte die Regierung Morales noch versucht, ihr umstrittenes Dekret aufrechtzuerhalten, war jedoch sofort in Verhandlungen mit den Gewerkschaften getreten. Um die drastischen sozialen Folgen der Kürzung der Treibstoffsubventionen, die umgehend zu Preissteigerungen für Benzin und Diesel zwischen 57 und 82 Prozent geführt und bereits erhöhte Buspreise nach sich gezogen hatten, abzumildern, hatte die Regierung angekündigt, die Löhne im öffentlichen Dienst ab Januar zu erhöhen und die Preise für Telefon, Wasser und Strom einzufrieren. Den Zorn der Menschen, die sich durch das Dekret betrogen fühlten, vermochte dieses Entgegenkommen jedoch nicht zu besänftigen, wiewohl die Erklärung der Regierung, sie wolle die immensen Kosten der Treibstoffsubventionierung reduzieren, um die freigesetzten Gelder, wie Morales erklärte, in "soziale Entwicklungsprojekte wie Bildung, den Bau von Krankenhäusern und Straßen" zu investieren, durchaus glaubwürdig ist.

Vizepräsident Álvaro García Linera hatte das umstrittene Dekret mit den massiv gestiegenen Kosten für die Treibstoffsubventionen infolge des gestiegenen Ölpreises zu begründen versucht [3]. Demnach würden sich diese Subventionen, die 2005 noch mit rund 80 Millionen US-Dollar zu Buche geschlagen hatten, 2011, wie Linera darlegte, "nicht auf 300 oder 400, sondern auf 500 Millionen US-Dollar" [3] belaufen. Erschwerend kommt hinzu, daß diese sozialen Subventionen unfreiwillig den Treibstoffschmugglern zugute kommen, da diese durch den illegalen und durch die bisherigen Bekämpfungsmaßnahmen nicht zu verhindernden Export in die Nachbarländer große Gewinne einstreichen. All dies mag stichhaltig sein, ändert jedoch nichts daran, daß die verfügte Subventionskürzung in der großen Bevölkerung Boliviens unwillkürlich konkrete Probleme schafft und unliebsame Erinnerungen wachrufen muß an die Verhältnisse früherer Jahre und vor allen Dingen früherer Regierungen, die sich keinen Deut um die Belange der Armen gekümmert haben.

Dies jedoch kann man von Präsident Morales und seiner Regierungspartei, der "Bewegung zum Sozialismus" (MAS), nicht sagen. Angesichts der Krise, die sich zu einer echten Nagelprobe hätte auswachsen können, unternahm sie einen Schritt, den wohl keine Regierung eines westlichen Staates ungeachtet ihres Demokratieanspruchs je unternommen hätte. Am 31. Dezember, genauer gesagt in der Neujahrsnacht, erklärte Präsident Morales in einer zehnminütigen Fernsehansprache, daß das Dekret vollständig zurückgenommen werde. Es war dies nicht etwa das Eingeständnis einer politischen Niederlage oder die zähneknirschend erfolgte Erklärung eines politisch angeschlagenen Präsidenten, der angesichts drohender Massenproteste "klein beigeben" muß.

Evo Morales erklärte ohne erkennbaren Mißmut, daß sich die Regierung dem Willen des Volkes füge. "Ich bin den sozialen Bewegungen sehr dankbar" [4], so der Präsident in Hinblick auf die Proteste der Gewerkschaften und Sozialorganisationen. Morales machte keinen Hehl daraus, daß er das Dekret im Prinzip nach wie vor für richtig und notwendig halte und erklärte zugleich unumwunden, daß dieses Projekt zu einem "ungünstigen" Zeitpunkt in Angriff genommen worden wäre. Er bedankte sich beim Volk dafür, ihm klargemacht zu haben, daß es keine gute Zeit für diese an sich notwendige Maßnahme sei. Und weiter erklärte der Präsident in Anlehnung an sein bei seinem ersten Amtsantritt gegebenes Versprechen, "gehorchend zu regieren", wie "schön es ist, dem Volk zuzuhören, wie schön ist es, vom Volk zu lernen, wie schön ist es, den Volk zu gehorchen." [5]

In hiesige Verhältnisse sind solche Sätze schlicht unübersetzbar. Sie muten unweigerlich zynisch oder ironisch an. Wer würde im deutschsprachigen Raum nicht sofort einen besonders geschickten und intriganten Schachzug eines machtbesessenen Regenten vermuten? Evo Morales hingegen wird sich auch an diesen Erklärungen messen lassen. Auf einer Pressekonferenz am vergangenen Sonntag erklärte er zu diesem Thema und dem nach wie vor völlig ungelösten Problem der hohen Treibstoffsubventionen und des Treibstoffschmuggels, daß nun eine Kommission unter Beteiligung der Sozialorganisationen gebildet werde, die Alternativen erarbeiten solle. Unterm Strich gesehen läßt sich feststellen: Das Volk hat zum Plan der Regierung "nein" gesagt, die Regierung hat auf das Volk gehört und ihr Vorhaben beendet, und nun sollen neue Lösungsvorschläge erarbeitet werden. Eigentlich müßte dies in einer Demokratie ein völlig normaler und alltäglicher Vorgang sein. In welch einem europäischen oder westlichen Staat wäre eine solche Zurücknahme seitens der Regierung vorstellbar? Der umgekehrte Fall scheint hierzulande vorzuherrschen. Werden Proteste laut und drohen, sich zu Massenprotesten auszuwachsen, nehmen die meisten Regierungen westlicher Demokratien eine starre, um nicht zu sagen halsstarrige Haltung ein und setzen ihren Plan mit allen nur erdenklichen repressiven Mitteln durch.

Das Prinzip der Staatsräson, dem oberste Priorität seitens der Regierenden eingeräumt wird, greift in Bolivien jedoch nicht, und so könnte angesichts der aktuellen Ereignisse in La Paz und den übrigen Städten und Kommunen Boliviens festgestellt werden, daß in diesem Land demokratische Ansprüche erfüllt werden, die in Demokratien westlichen Zuschnitts noch fernab jeder Realisierung stehen. Hierzulande hat sich sogar ein Wandel im Begriffsverständnis vollzogen, der zu denken geben könnte: Wurde im Duden von 1966 unter "Demokratie" (Volksherrschaft) noch ausgeführt, daß dies ein Regierungssystem sei, "in dem im Gegensatz zur Diktatur der Wille des Volkes ausschlaggebend ist" [6], heißt es dreieinhalb Jahrzehnte später nur noch, daß dies eine Staatsform sei, "in der die vom Volk gewählten Vertreter die Herrschaft ausüben" [7].


Anmerkungen

[1] Bolivien behält Treibstoff-Zuschuss doch bei. Morales hält an Preiserhöhungen für Treibstoff jedoch grundsätzlich fest. Preise fallen wieder. Unternehmer unterstützen Regierung. Von Helge Buttkereit, amerika21.de, 02.01.2011,
http://amerika21.de/nachrichten/2011/01/19237/bolivien-treibstoff- subvention

[2] Gewerkschaften machen Druck, junge Welt, 30.12.2010, S. 2

[3] Gehorchend regieren. Boliviens Präsident Evo Morales zieht Streichung von Benzinsubventionen zurück. Von Benjamin Beutler, junge Welt, 03.01.2011, S. 6

[4] Boliviens Regierung behält Subventionen von Treibstoff bei, amerika21.de, 01.01.2011,
http://amerika21.de/meldung/2011/01/19187/bolivien-subvention- treibstoff

[5] Bolivien behält Treibstoff-Zuschuss doch bei. Morales hält an Preiserhöhungen für Treibstoff jedoch grundsätzlich fest. Preise fallen wieder. Unternehmer unterstützen Regierung. Von Helge Buttkereit, amerika21.de, 02.01.2011,
http://amerika21.de/nachrichten/2011/01/19237/bolivien-treibstoff- subvention

[6] Der Große Duden, Fremdwörterbuch, 1966

[7] Duden, Die deutsche Rechtschreibung, 2000


4. Januar 2011