Schattenblick →INFOPOOL →POLITIK → MEINUNGEN

DILJA/1310: Das Wahlvolk Venezuelas bestimmt das Tempo des revolutionären Prozesses (SB)


Transformationsprozeß in Venezuela durch Wahlergebnis leicht ausgebremst

Demokratie vor Sozialismus - das Wahlvolk bestimmt das Tempo der gesellschaftlichen Entwicklung


Die mit Spannung im In- und Ausland erwarteten Parlamentswahlen in Venezuela sind mit einem klaren Sieg der regierenden Linkskoalition aus PSUV, der Vereinigten Sozialistischen Partei des Präsidenten Hugo Chávez, und PCV, der Kommunistischen Partei Venezuelas, zu Ende gegangen; das regierende Bündnis konnte mit 95 der insgesamt 165 Sitze in der Nationalversammlung die absolute Mehrheit erringen. Für bundesdeutsche Verhältnisse wäre ein solcher Erfolg von einem 59prozentigen Votum für die bisherigen Regierungskräfte ein Novum in der gesamten Parlamentsgeschichte und hätte zu dammbruchartigen Euphorieausbrüchen auf der Regierungsbank geführt. In Caracas hingegen, der Hauptstadt der Bolivarischen Republik Venezuela, wie der offizielle und zugleich programmatische Name des südamerikanischen Landes lautet, ist dieses Wahlergebnis keineswegs dazu angetan, innerhalb der PSUV oder auch seitens ihrer Anhänger frenetisch gefeiert zu werden.

Dies liegt in erster Linie daran, daß das erklärte Wahlziel, nämlich eine für die weitere Gesetzgebungs- und damit gesellschaftliche Umgestaltungsarbeit komfortable Zweidrittelmehrheit zu erringen, ebenso klar verfehlt wurde. Von Enttäuschung oder gar Resignation ist gleichwohl kein Wort zu vernehmen, was einmal mehr das konsequent und selbst im Falle vermeintlicher Teilniederlagen zum Tragen kommende demokratische Bewußtsein der regierenden "Chavistas" unter Beweis stellt. Präsident Hugo Chávez etwa beglückwünschte via Twitter die Wähler und Wählerinnen seines Landes zu dieser Wahl und sprach nach der ersten Bekanntgabe der Ergebnisse durch den Nationalen Wahlrat (CNE) von einem "soliden" Erfolg für das Regierungsbündnis, der ausreiche, um den bolivarischen und demokratischen Sozialismus zu verstärken. "Wir müssen die Revolution weiter stärken" [1], so der amtierende Präsident Venezuelas, für dessen angestrebte Wiederwahl bei den Präsidentschaftswahlen 2012 die jetzigen Parlamentswahlen vielfach als "Stimmungstest" gewertet wurden.

Demnach ist "die Stimmung" für den Präsidenten und die mit ihm eng verknüpften Staatsprojekte eines "Sozialismus des 21. Jahrhunderts" wie auch der Vertiefung der "Bolivarischen Revolution" allen Unkenrufen der Chávez-Gegner zum Trotz bei einer klaren Mehrheit des venezolanischen Wahlvolkes nach wie vor gut. Nüchtern betrachtet stellt das Ergebnis von knapp 60 Prozent für den Präsidenten bzw., wie es korrekt wäre, für PSUV und PCV, schon deshalb keine Enttäuschung dar, weil dieser Stimmenanteil in etwa der seit langem in Venezuela bestehenden prozentualen Aufteilung der stark polarisierten Bevölkerung in Chávez-Gegner und -Unterstützer entspricht. Die "gefühlte" Enttäuschung, die gleichwohl bei so manchem Aktivisten und überzeugten Parteigänger auch innerhalb der Basisorganisationen anzutreffen sein mag, korrespondiert denn auch mit dem überaus hochgesteckten Ziel einer Zweidrittelmehrheit im Parlament.

Die tatsächlichen Fakten und gesetzlichen bzw. verfassungsgemäßen Rahmenbedingungen der täglichen oder auch längerfristig angelegten Regierungspolitik stehen in Venezuela mehr noch als in den meisten anderen Staaten nicht nur Lateinamerikas in dem Licht vermeintlich diktatorischer Verhältnisse. Immer und immer wieder wird der heutigen venezolanischen Regierung sowie ihrem Präsidenten unterstellt und zum Vorwurf gemacht, mit undemokratischen Mitteln zu regieren, die Verfassung zu mißachten und dergleichen mehr. Das eklatante Mißverhältnis zwischen einer solchen, den Grad einer bloßen Diskreditierung bis an den Rand der Verunglimpfung überschreitenden Fehldarstellung und der realen politischen Situation in Venezuela läßt sich erklären und plausibel machen durch den massiven Unmut, den diese Regierung mit ihrem sozialistischen und von der Bevölkerung mehrheitlich mitgetragenen Entwicklungs- bzw. Transformationsprozeß hin zu einem neugestalteten Sozialismus nicht nur im eigenen Land auf sich gezogen hat.

Unterm Strich gesehen wird die zukünftige Regierungsarbeit des Präsidenten, von dem westliche Medien durchaus behaupten, er habe sich über die Verfassung gestellt, nicht eben einfacher werden. Dies hat seine Gründe in der Verfassung des Landes, die im Abschnitt zum Gesetzgebungsverfahren in Artikel 203 für die Verabschiedung grundlegender Gesetze (Organgesetze, d.h. Gesetze mit Verfassungsrang) dem deutschen Grundgesetz nicht unähnlich eine Zweidrittelmehrheit im Parlament verlangt [2]:

Organgesetze sind Gesetze, die in dieser Verfassung als solche bezeichnet werden; die für die Organisation der öffentlichen Gewalten oder für die Konkretisierung der verfassungsmäßigen Rechte erlassen werden oder die als normativer Rahmen für andere Gesetze dienen.

Jede Vorlage für ein Organgesetz, mit Ausnahme derjenigen Vorlagen, die von dieser Verfassung als solche bezeichnet werden, wird vorab von der Nationalversammlung mit Zweidrittelmehrheit der anwesenden Mitglieder zugelassen, bevor die Debatte über die betreffende Gesetzesvorlage beginnt.
(...)

Über eine solche Zweidrittelmehrheit verfügt das Regierungsbündnis definitiv nicht mehr; ebensowenig kann es, da auch zu einer Mehrheit von drei Fünftel einige Abgeordnetensitze fehlen, problemlos, das heißt ohne Zustimmung aus dem Oppositionslager, ein "ermächtigendes Gesetz" erlassen, über das in Art. 203 der venezolanischen Verfassung festgelegt wurde [2]:

Ermächtigende Gesetze sind solche Gesetze, die die Nationalversammlung mit einer Mehrheit von drei Fünfteln ihrer Mitglieder verabschiedet, um, mit Rang und Geltung eines Gesetzes, die Richtlinien, Zielsetzungen und den Umfang derjenigen Kompetenzbereiche festzulegen, die dem Präsidenten oder der Präsidentin der Republik übertragen werden. Ermächtigende Gesetze müssen eine zeitliche Begrenzung für ihre Umsetzung enthalten.

Aus Sicht von Präsident Chávez und seiner Regierungspartei mag diese Wahl zu einer deutlichen Erschwernis in der parlamentarischen Arbeit geführt haben. Doch wie schon beim verlorenen Verfassungsrefendum, das von Chávez ebenso prompt und bedingungslos anerkannt wurde, zeigt sich auch an dieser Stelle der tiefe Respekt dieser Linksregierung vor der eigenen bzw. der Wählerschaft des ganzen Landes, die ganz offensichtlich ein anderes Tempo einschlägt oder bevorzugt als die in allen maßgeblichen Wahlen seit 1999 wiedergewählte Chávez-Regierung. Zwar können die regierenden Sozialisten die politische Radikalisierung des Landes oder vielmehr auch des von ihnen regierten Staates nun nur noch unter erschwerten Bedingungen voranbringen, doch darf dabei nicht vergessen werden, daß die politischen Gegner in Gestalt des Oppositionsbündnisses, der Plattform "Tisch der demokratischen Einheit" (MUD), mit insgesamt 64 der 165 Parlamentssitzen erst recht nicht in der Lage sein werden, den eingeschlagenen Entwicklungsprozeß durch entgegengesetzte Organgesetze bzw. die Aufhebung bestehender Organgesetze zu torpedieren.

Die von Joel Capriles, einem Basisaktivisten aus dem größten Barrio der Hauptstadt Caracas, der im Juni dieses Jahres durch Deutschland tourte, um in zahlreichen Diskussions- und Informationsveranstaltungen den Prozeß der Volksbeteiligung in seinem Land, der unter dem Stichwort "Poder popular" (Volksmacht) schon seit langem zu ebenso greif- wie vermittelbaren Ergebnissen geführt hat, gemachte Ausspruch "Wir als Volk sind ja die Regierung" wird nach dieser Parlamentswahl an Gültigkeit und Relevanz nichts einbüßen. Allen internationalen wie nationalen Verunglimpfungen zum Trotz bleiben die Repräsentanten dieser Regierung unverbrüchlich bei ihrer Linie, sich als ausführendes Organ des Wählervotums zu verstehen und nicht als eine heimliche Elite, die sich ihr Wahlvolk gefügig zu machen sucht. Nicolas Maduro etwa, der Außenminister des Landes, hatte am Wahltag, noch bevor er das Ergebnis kennen konnte, erklärt: "Die Wahl ist ein Sieg der Demokratie und des Volkes Venezuelas."

Anmerkungen

[1] Venezuela. Chávez gewinnt - und verfehlt Wahlziel. Venezuelas Präsident hat den Stimmungstest bestanden - allerdings mit einem Dämpfer: Seine Partei gewann zwar die Parlamentswahl, verfehlte aber die absolute Mehrheit. Zeit online, 27.09.2010,
http://www.zeit.de/politik/ausland/2010-09/venezuela-wahlen-chavez

[2] Verfassung der Bolivarischen Republik Venezuela vom 24. März 2000, herausgegeben vom Netzwerk Venezuela und der Botschaft der Bolivarischen Republik Venezuela in der Bundesrepublik Deutschland, 1. deutschsprachige Auflage 2005

27. September 2010