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DILJA/1305: Chile - Hungerstreik gegen "Antiterrorgesetze" aus der Pinochet-Zeit (SB)


Politische Gefangene in Chile seit acht Wochen im Hungerstreik

Kurz vor den Unabhängigkeitsfeiern lenkt der rechtskonservative Präsident Piñera dem Anschein nach ein


Als der chilenische Milliardär und Rechtsaußen-Politiker Sebastián Piñera am 17. Januar die Stichwahl um das Präsidentenamt des Landes gewann und damit das seit dem Ende der Diktatur regierende Parteienbündnis der politischen Mitte, die "Concertación" (Absprache), ablöste, befürchteten viele Menschen Chiles ein Wiedererstarken der äußersten Rechten, um nicht zu sagen einen deutlichen Rechtsruck in einem keineswegs als links geltenden Staat. Im offiziellen Chile wie auch in Hinsicht auf die internationale Wahrnehmung des Landes hat der neue Präsident, der noch im Wahlkampf durch seine in einem Interview gemachte Andeutung, ehemalige Funktionäre der Pinochet-Diktatur in seine Regierung aufnehmen zu wollen, für erbitterte Diskussionen gesorgt hatte, es tunlichst vermieden, seinem Negativ-Image als ehemaliger Pinochet-Anhänger neue Nahrung zuzuführen.

Verbergen konnte er allerdings nicht, wes Geistes Kind er ist. Als am vergangenen Samstag, dem 11. September, der in Chile eine gänzlich andere historische Bedeutung hat als in vielen anderen Teilen der Welt, rund 10.000 Menschen auf die Straßen gingen, um an die Machtergreifung der Faschisten vor 37 Jahren und den gewaltsamen Sturz der gewählten sozialistischen Regierung der "Unidad Popular" (Vereintes Volk) des damaligen Präsidenten Salvador Allende zu erinnern, blieb Präsident Piñera den Gedenkfeierlichkeiten demonstrativ fern. Zahlreiche Menschenrechtsorganisationen und Opfervereinigungen, aber auch die Gewerkschaftszentrale CUT hatten zu diesem Marsch sowie einer anschließenden Kundgebung auf dem Zentralfriedhof aufgerufen. Viele Menschen trugen, da auch so viele Jahre nach dem offiziellen Ende der Pinochet-Herrschaft das Schickal vieler Diktaturopfer und "Verschwundenen" noch immer nicht aufgeklärt ist, Fotos und Namen ihrer verschollenen Freunde und Verwandten mit sich.

Auf der Abschlußkundgebung mischten sich in die vielen Wortbeiträge, mit denen des damaligen Präsidenten Allende sowie der vielen Diktaturopfer gedacht wurde, auch kritische Töne gegenüber der neuen Rechtsregierung Piñeras und seiner "Partei der nationalen Erneuerung". Mireya Garcia beispielsweise, die Vizepräsidentin der "Vereinigung von Familienangehörigen der Verschwundenen" erhob den Vorwurf, daß Piñera seine umstrittene Wahlkampfäußerung inzwischen wahrgemacht und ehemaligen Funktionären aus der Zeit der Militärdiktatur zu hohen Regierungsämtern verholfen habe. Alvia Lira, die Präsidentin der "Vereinigung der ermordeten Politiker", schlug einen direkten Bogen zur Gegenwart und erklärte auf dieser Kundgebung ihre Solidarität mit dem größten Volk in Chile lebender Ureinwohner, den Mapuche und den von vielen ihrer politischen Gefangenen geführten Hungerstreik. "Sie kämpfen für ihre Rechte, ihre Würde und gegen den Raub des Landes ihrer Vorfahren, während die Regierung sich taub stellt", so Lira [1].

Inzwischen dauert dieser Hungerstreik bereits acht Wochen an und wird nach wie vor in der internationalen Öffentlichkeit und Medienwelt kaum wahrgenommen. 32 der 34 hungerstreikenden Mapuche-Gefangenen nehmen bereits seit 60 Tagen keine Nahrung mehr zu sich und befinden sich in einem kritischen Gesundheitszustand. Sollte die Regierung auch weiterhin auf die Forderungen der Gefangenen nicht eingehen, stehen sogar Todesfälle zu befürchten. Nach Angaben von Nicole Hantzsche von der Gesellschaft für bedrohte Völker e.V. (GfbV) haben viele der Hungerstreikenden "bis zu 15 Kilogramm Gewicht verloren, leiden an Krämpfen, Ohnmachtsanfällen und Dehydrierung" [2]. Da ein Ende des Streiks nicht abzusehen ist, wird es Hantzsche zufolge "extrem kritisch" werden können, da einige der Gefangenen angekündigt hätten, "in den trockenen Hungerstreik zu treten, also auch nichts mehr zu trinken" [2].

Am 8. September hat Präsident Piñera die Hungerstreik-Gefangenen aufgefordert, ihren Kampf aufzugeben und erklärt, ein solcher Streik sei "kein legitimes Mittel in einem Rechtsstaat und in einer Demokratie". Nun gibt es nicht einmal in Chile und damit einem Land, in dem Gesetze aus der Pinochet-Diktatur - zum Teil von der nationalen und mehr noch der internationalen Öffentlichkeit unbeachtet - überdauert haben und fortbestehen, obwohl sie westlichen Demokratieanforderungen nicht annäherungsweise entsprechen, ein Gesetz, das einen Hungerstreik unter Strafe stellt. Zu behaupten, daß ein Hungerstreik inhaftierter Menschen "kein legitimes Mittel" sei, wirft nicht gerade ein günstiges Licht auf den chilenischen Präsidenten und dessen Demokratieverständnis, auf das er selbst einen weiteren Hinweis gab durch eine Bemerkung anläßlich des Jahrestages des Militärputsches von 1973, den er als eine "absehbare, wenn auch vermeidbare Lösung einer bereits kranken Demokratie" [1] bezeichnete.

Die Forderungen der Mapuche-Gefangenen, deren Gesamtzahl sich im vergangenen Jahr verdoppelt hat und mittlerweile bei 106 liegt, richten sich in erster Linie gegen das sogenannte "Antiterrorgesetz" aus Diktatur-Zeiten, das noch immer besteht und die juristische Grundlage für ihre Kriminalisierung geliefert hat und weiterhin liefern wird, so die Regierung sich weiterhin weigert, es abzuschaffen. Doch nicht nur die Mapuche-Indianer, auch andere Oppositionelle sind durch dieses im Jahre 1984 erlassene Gesetz in ihrer politischen Arbeit bedroht. Das Gesetz ermöglicht eine bis auf zwei Jahre ausgedehnte Untersuchungshaft und erlaubt die Aburteilung von zivilen Angeklagten vor Militärgerichten. Den Anwälten der nach diesem Gesetz Inhaftierten kann der Zugang zu den Ermittlungsakten verwehrt werden.

Sobald es in dem im Süden Chiles gelegenen Siedlungsgebiet der Mapuche nahe des Flusses Bío-Bío zu Auseinandersetzungen zwischen indianischen Aktivisten und den Sicherheitskräften kommt, werden die Mapuche als "Terroristen" verfolgt, angeklagt und abgeurteilt, oft zu sehr langen Haftstrafen. Einer von ihnen ist der 34jährige Luis Tralcal Quidel, der ein Jahr in Beugehaft verbringen mußte und beschuldigt wurde, im Jahr 2006 einen Brandanschlag auf den Maschinenpark einer Holzfirma in Chol Chol verübt zu haben. Als er vor kurzem vor Gericht kam, wurde er zwar aus Mangel an Beweisen freigesprochen, doch freigelassen wurde er nicht, da das Antiterrorgesetz von 1984 in Verbindung mit dem zur Anwendung kommenden Militärrecht dies verhinderte [3].

Inzwischen scheint die Regierung entgegen aller bisherigen Bekundungen einlenken zu wollen. So brachte sie Mitte vergangener Woche ein Dringlichkeitsgesetz auf den Weg zur Überprüfung und Abänderung des umstrittenen Antiterrorgesetzes der Pinochet-Ära. Aus Sicht der Regierungskritiker ist dies allerdings keineswegs ein überzeugender Schritt, werfen sie ihr doch vor, nur dem Schein nach einzulenken, damit die Gefangenen im Vertrauen auf diese Zusagen ihren Hungerstreik abbrechen. Dieser würde, so die Argumentation der Kritiker, die Feierlichkeiten zur 200. Jahresfeier der nationalen Unabhängigkeit am 18. September stören. Inzwischen haben sich sogar vier Abgeordnete und Mitglieder des Menschenrechtsausschusses des chilenischen Parlaments mit den Hungerstreik-Gefangenen solidarisiert. Da ihr Besuch in der 670 Kilometer von der Hauptstadt Santiago de Chile entfernt liegenden Haftanstalt jedoch abrupt von den Gefängnisbehörden beendet wurde, ist nicht anzunehmen, daß die Kritiker der beabsichtigten Gesetzesänderung falsch liegen, wenn sie diesen Winkelzug Piñeras als Maskerade bezeichnen.

Anmerkungen:

[1] Chile 37 Jahre danach: Tausendfaches Gedenken an Salvador Allende, junge Welt 13.09.2010, S. 7

[2] Mapuche-Indianer hungern seit 60 Tagen, von Marco Müller, Deutsche Welle - DW-World.de, 10.9.2010,
http://www.dw-world.de/dw/article/0,,5993278,00.html

[3] Mapuche in Hungerstreik. Indigene Aktivisten in Chile fordern Freilassung politischer Gefangener. Medien des Landes informieren nicht. Von Benjamin Beutler, amerika21.de, 7.8.2010

14. September 2010