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DILJA/1260: Venezuela - Gegner der "Bolivarischen Revolution" noch immer putschwütig (SB)


Venezuelas Präsident Hugo Chávez warnt vor Putsch- und Mordplänen

Die Gegner der "Bolivarischen Revolution" setzen ihre Bestrebungen ungeachtet ihrer Niederlage beim Umsturzversuch von 2002 fort


Vor zweieinhalb Monaten, am 4. Februar 2010, fand in der venezolanischen Hauptstadt Caracas eine Großdemonstration anläßlich des 18 Jahre zuvor vom heutigen Präsidenten Hugo Chávez mitangeführten Aufstandes gegen die damalige Regierung des in der Bevölkerung weitgehend verhaßten Präsidenten Carlos Andrés Pérez statt. In jener Zeit brodelte es in Venezuela, wo eine kleine Elite die Öleinnahmen des Landes zu ihrem Vorteil zu nutzen verstand, während drei Viertel der Bevölkerung in ärmlichen Verhältnissen lebten. 60 Prozent der Menschen mußten immer wieder hungern und verfügten nicht einmal über sauberes Trinkwasser, um von ausreichenden hygienischen Verhältnissen und einer für alle Venezolaner nutzbaren Gesundheitsversorgung gar nicht erst zu reden. Der sozialdemokratische Präsident Pérez hatte dem Land 1989 unter Bruch seiner vorherigen Wahlversprechen die vom Internationalen Währungsfond diktierten wirtschaftlichen Zwangsmaßnahmen, genannt Strukturreformen, aufgezwungen, was zu drastischen Preissteigerungen in allen Bereichen in einer für die in Armut lebende Bevölkerungsmehrheit ohnehin schon verzweifelten Lage führte.

Als dann auch noch die Transportpreise verdoppelt wurden, kam es am 26. Februar 1989 zu einer sozialen Revolte, die alle Elemente eines Armuts- und Hungeraufstandes in sich barg und von der Regierung Pérez mit brutalsten militärischen Mitteln niedergeschlagen wurde. Militär und Nationalgarde rückten gegen die Menschen in den ärmeren Stadtteilen rund um Caracas aus und richteten ein Blutbad unter ihresgleichen an, stammten doch die Angehörigen der Repressionsorgane bis in die Offiziersränge hinein aus denselben sozialen Schichten wie die Menschen, gegen die sie nun regelrecht Krieg zu führen sich gezwungen sahen.

Der Putschversuch "linker" Militärs von 1992, unter ihnen auch der heutige Präsident Hugo Chávez, weist zwar alle Attribute eines demokratisch nicht legitimierten und illegalen Staatsstreichversuchs auf, wurde jedoch in einer Situation vollzogen, in der die armen Menschen Venezuelas eben dies als einen Befreiungsversuch verstanden, durch den gerade sie von einem politischen System und keineswegs nur von einem korrupten Präsidenten oder einer obrigkeitshörigen Partei entbunden werden sollten, die das Versprechen der Armutsbekämpfung noch nie hatte einlösen können oder auch nur wollen.

Nur vor diesem historischen Hintergrund ist zu verstehen, warum für die Anhänger der späteren "bolivarischen Bewegung" und der heutigen "Bolivarischen Revolution" in Venezuela der 4. Februar 1992 ein Tag des freudigen Gedenkens ist, obwohl der Umsturzversuch seinerzeit fehlschlug und seinen Anführern mehrjährige Gefängnisstrafen einbrachte. Innerhalb des Militärs hatten sich, verstärkt durch die bitteren Erfahrungen des Jahres 1989, oppositionelle Kräfte so weit Bahn gebrochen, daß sie den Griff zur Macht im Staate wagten. Hugo Chávez wurde durch seine im Fernsehen angedeutete Fortsetzung dieses politischen Kampfes auf einen Schlag im ganzen Land bekannt. Aus dieser zunächst überwiegend von aktiven Militärangehörigen durchgeführten Konspiration sollte sich später die Bewegung MBR-200 (Movimiento Bolivariano Revolucionario 200) entwickeln, die mit Chávez als Präsidentschaftskandidat 1998 auf Anhieb die Wahlen gewann und die Regierung mit dessen Amtsantritt Anfang 1999 übernahm.

Als am 4. Februar dieses Jahres mehrere zehntausend Regierungsanhänger und Unterstützer wie Aktivisten der "Bolivarischen Revolution" in Caracas eine Großdemonstration durchführten, kam es zu Zwischenfällen, die unliebsame Erinnerungen an den Putschversuch rechter Militärs im April 2002 wachriefen. Eine unangemeldete Demonstration der rechten Opposition wurde zeitgleich durchgeführt und kreuzte sich mit der Großdemonstration der Regierungsanhänger. Bürgermeister Jorge Rodríguez warf der Opposition, die die ihr angebotenen Ausweichrouten nicht akzeptierte, vor, provozieren zu wollen. Auch am 11. April 2002 waren Demonstrationszüge der Regierungsgegner mit denen der Chávez-Anhänger in Caracas zusammengestoßen. Wie sich später herausstellen sollte, waren die Eskalationen, die zu einem allerdings nur 48 Stunden andauernden Präsidentensturz führten, von langer Hand geplant gewesen. Ihren Anfang hatte sie genommen, als die Oppositionellen von der verabredeten Demonstrationsroute abwichen, um Kurs auf den Präsidentenpalast Miraflores zu nehmen.

Sofort versammelten sich tausende Regierungsanhänger rund um den Präsidentenpalast. Als die gegnerischen Demonstrationszüge aufeinandertrafen, fielen Schüsse auf die Regierungsanhänger, abgegeben von regierungsfeindlichen Polizisten und zunächst unbekannten Scharfschützen. 19 Menschen kamen am 11. April 2002 auf diese Weise ums Leben. Es entspann sich ein Schußwechsel zwischen vereinzelt bewaffneten Regierungsanhängern und regierungsfeindlichen Polizeieinheiten, dessen Bilder in den privaten Medien so präsentiert und kommentiert wurden, als hätten Regierungsanhänger auf oppositionelle Demonstranten das Feuer eröffnet. Dies schaffte in dem vorab geplanten Szenario die Vorwandslage, um Teile der Generalität zum Aufstand gegen den Präsidenten zu verleiten bzw. um ihnen gegenüber der Öffentlichkeit eine Rechtfertigung zu verschaffen. Die damalige Umweltministerin Ana Elisa Osorio Granado stellte die von ihr miterlebte Situation in einem Interview mit der jungen Welt knapp zwei Jahre später folgendermaßen dar [1]:

Daß diese Scharfschützen eingesetzt wurden, steht außer Zweifel. Als wir aus dem Präsidentenpalast kamen, konnten wir sogar die Schüsse hören. Uns kamen Menschen entgegengelaufen, die uns noch warnten, daß von oben auf sie geschossen würde. Die Schützen hatten sich auf dem Dach eines Hotels gegenüber Miraflores postiert. Die Männer wurden zunächst festgenommen, während des Putschversuches jedoch wieder freigelassen. Bis heute existieren aber die Aussagen und Geständnisse, auf die sich die These einer US-Verstrickung stützt.

Die Generalität erhob an Präsident Chávez die Forderung, zurückzutreten, andernfalls, so die Drohung, würde der Präsidentenpalast bombardiert werden. Nach Rücksprache mit seinem Kabinett wie auch dem befreundeten Präsidenten Kubas, Fidel Castro, entschied sich Chávez dafür, sich in die Hände der Putschisten zu begeben, allerdings ohne ihrer Rücktrittsforderung nachzukommen. Wohlwissend, daß die Pro-Chávez-Bevölkerung einen gewaltsamen Sturz "ihres" Präsidenten nicht widerstandslos hinnehmen würde, wurde in der von der regierungsfeindlichen Opposition gehaltenen privaten Presse die Lüge vom erfolgten Präsidentenrücktritt verbreitet. Dadurch zunächst verunsichert, hielten sich die Anhängerschaft wie auch die loyalen Teile des Militärs zunächst in ihren Aktionen zurück, während die Usurpatoren in Miraflores die Sektkorken knallen ließen, glaubten sie sich doch am Ziel ihrer Umsturzbestrebungen. Chávez selbst befand sich auf der Insel Orchila im Gewahrsam der Putschmilitärs, die ihm jeden Kontakt zur Außenwelt abschnitten, damit er die Rücktrittslüge nicht aufdecken konnte.

Die katholische Kirche erwies sich, in schlechtester Tradition zur Putschgeschichte der lateinamerikanischen Staaten, als willige Gehilfin der Putschisten, die mit Pedro Carmona, dem Präsidenten des Unternehmerverbandes Fedecamaras, den Kandidaten ihrer Wahl ins Amt des Staatspräsidenten hievten. Carmona hatte dem Putsch in einer konzertierten Aktion mit dem rechten Gewerkschaftsdachverband CTV den Boden bereitet durch die Ausrufung eines unbefristeten Streiks kurz vor der am 11. April 2002 vom Oppositionsbündnis organisierten Massendemonstration, die in einen geschickt eingefädelten Militärputsch münden sollte und mündete. Baltazar Porras, der Erzbischof von Caracas, wurde von den Putschisten zu dem in isolierter Geiselhaft gehaltenen Präsidenten geschickt, um diesem einen Abdankungsbrief zu entlocken - "um einen Bürgerkrieg zu vermeiden", wie der Geistliche zu argumentieren suchte.

Doch Chávez "spielte auf Zeit". Da eine von ihm unterschriebene Rücktrittserklärung leicht sein Todesurteil hätte werden könnte, gab er vor, eine Abdankung vorbereiten zu wollen. Fidel Castro schilderte in einem insgesamt über einhundert Stunden langen Interview mit dem Herausgeber von Le Monde Diplomatique, Ignacio Ramonet, diese prekäre Situation später folgendermaßen [2]:

Aber es gab einen Moment, wo man Chávez die Möglichkeit zu einem Telefonat gegeben hat. Er kann mit seiner Tochter María Gabriela sprechen. Er sagt ihr, daß er nicht zurückgetreten ist, daß er sein Amt nicht niedergelegt hat. Daß er ein "gefangengehaltener Präsident" ist. Und er bittet sie, diese Meldung zu verbreiten. Daraufhin hat die Tochter die kühne Idee, mich anzurufen und mich zu informieren. Sie bestätigt mir, daß ihr Vater nicht zurückgetreten ist. Also beschlossen wir, für die Verteidigung der Demokratie in Venezuela aktiv zu werden, wobei wir ja die Bestätigung hatten, daß Länder wie die Vereinigten Staaten und Spanien - die Regierung von José Maria Aznar -, die so viel von Demokratie reden und Kuba kritisieren, den Staatsstreich unterstützten. Wir baten María Gabriela, ihre Aussage zu wiederholen und machten eine Aufzeichnung ihres Gesprächs mit Randy Alonso, dem Leiter der Sendung Mesa redonda (Runder Tisch) des kubanischen Fernsehens, die international viel gehört wird. Ferner riefen wir die ganze in Kuba vertretene ausländische Presse zusammen - es muß vier Uhr morgens gewesen sein -, informierten sie und ließen sie die Aussage der Tochter von Chávez hören. CNN brachte sie sofort, und in ganz Venezuela verbreitete sich die Meldung wie ein Lauffeuer.

Auch wenn diese Ereignisse inzwischen acht Jahre zurückliegen und bereits als "Geschichte" abgebucht werden könnten, sind die Details gleichwohl nicht irrelevant. Allzuleicht, zumal aus europäischer Sicht, könnte bei der Verwendung des Begriffspaares "Regierung" und "Opposition", das an ein parlamentarisches Wechselspiel auf der Basis einer übereinstimmenden Grundpositionierung wie beispielsweise zwischen SPD und CDU/CSU denken läßt, ein schiefes Bild der damaligen wie heutigen Konfliktlage in Venezuela entstehen. Der Versuch, den in der Opposition, also der um ihre Einfluß- und Kontrollmöglichkeiten gebrachten Oligarchie des Landes in Verbindung mit ihren ausländischen Verbündeten, so sehr verhaßten Präsidenten bei dieser Gelegenheit exekutieren zu lassen, schlug unterdessen fehl. Die einfachen Soldaten verweigerten dies und viele, die zu Chávez' Bewachung abgestellt waren, zeigten sich vielmehr gewillt, ihn gegen etwaige Angreifer zu verteidigen.

Der weitere Verlauf der Ereignisse läßt sich auf einen kurzen Nenner zusammengefaßt mit der Feststellung auf den Punkt bringen, daß loyale Truppenteile, genauer gesagt die nach Fidel Castro beste Einheit der Streitkräfte, die Fallschirmspringer des Maracay-Standortes, ihn aus seiner Geiselhaft befreiten, ohne daß die Putschisten noch nennenswerte Gegenwehr geleistet hätten. Dies hätten sie jedoch schwerlich getan, wäre nicht im ganzen Land eine Gegenmobilisierung der Regierungsanhänger angelaufen, die das Putschregime dazu veranlaßte, die absehbare Niederlage anzuerkennen und den Rückzug anzutreten. In diesen zwei Tagen einer Militärdiktatur waren alle sozialen und demokratischen Erfolge und Entwicklungsschritte der gewählten Regierung auf die Nullinie zurückgeschraubt worden, hatten doch die Putschisten die Verfassung von 2000, mit der die Regierung Chávez eines ihrer wesentlichen Wahlversprechen eingelöst hatte, außer Kraft gesetzt.

Am vergangenen Wochenende hat die venezolanische Abgeordnete Iris Varela anläßlich des Gedenkens an den vor nun acht Jahren verübten Staatsstreich daran erinnert, mit welchen Methoden die Putschregierung des Unternehmerpräsidenten das Land vor dem "Castrokommunismus" habe retten wollen. Zahlreiche Regierungsanhänger und Unterstützer des bolivarischen Prozesses in den Armenvierteln waren verhaftet worden, vielfach kam es zu Menschenrechtsverletzungen und sogar politischen Morden. "Diese Vorgänge würden die Vertreter der Opposition heute am Liebsten verschwinden lassen, so als ob nichts passiert wäre", so Varela [3].

Angesichts dessen, daß im vergangenen Jahr der Sturz des gewählten Präsidenten von Honduras, Manuel Zelaya, das mittelamerikanische Land, in dem die Entwicklung zu einer Linksdemokratisierung unverkennbare Formen angenommen, jedoch noch nicht annähernd den Stand Venezuelas, Boliviens, Ecuadors oder der übrigen Linksstaaten Lateinamerikas erreicht hatte, läßt sich rückschließen, wie bedeutsam nicht nur für Venezuela, sondern die gesamte Region die Tatsache ist, daß der Putsch vom 11. April 2002 in denkbar kürzester Zeit in einer gemeinsamen und durch nichts und niemanden zentral gesteuerten Anstrengung großer Teile der Zivilbevölkerung wie auch loyaler Militärs zurückgeschlagen werden konnte. Der Bürgerkrieg, der dem Land bevorzustehen schien und mit dessen Androhung Erzbischof Porras Präsident Chávez zu einer offiziellen Rücktrittserklärung und damit einer Kapitulation der bolivarischen Befreiungsbewegung verleiten wollte, fand nicht statt, weil die Putschisten ganz offensichtlich zu der Einschätzung gelangt waren, daß sie nicht gegen das Volk gewinnen können.

Ungewollt und mit Sicherheit unbeabsichtigt haben die Gegner des bolivarischen Prozesses und damit auch der Regierung Chávez das exakte Gegenteil von dem erreicht, was ihrer Meinung nach einer absoluten politischen Notwendigkeit gleichkam, wollte "man" nicht die Kontrolle über das erdölreiche Venezuela wie auch früher oder später die gesamte Region vollends verlieren. Es wäre verkürzt, wenn auch nicht unzutreffend zu sagen, Regierung und/oder Präsident seien "gestärkt" aus dem Putschversuch und seiner Niederschlagung hervorgegangen. Aus Sicht ihrer Gegner muß sich die Bestandsanalyse nach dem Desaster noch negativer ausgenommen haben, war doch nun der unbestreitbare Beweis erbracht, daß die Bevölkerungsmehrheit nicht nur diesen Präsidenten und dessen Politik wählte und immer wieder wählte, sondern daß sie auf die Straßen und Barrikaden zu gehen bereit war, sollte ihr die von ihr gewählte Regierung mit gewaltsamen Mitteln streitig gemacht werden.

Eine Identifikation von großen Teilen der Bevölkerung mit Staat und Regierung herzustellen und bis zu einem Grad zu führen, in dem Menschen in großer Zahl bereit sind, Angriffe gegen die Zentralregierung als Angriffe auf sich zu verstehen, ist ein Phänomen, das heutige Politologen und Soziologen kaum zu studieren Gelegenheit haben. Nicht selten sollten sich in den folgenden Jahren westliche Medienvertreter und Lateinamerika-Experten in die Barrios rund um Caracas verirren, um diesem von ihnen als ungewöhnlich eingestuften und ihrer Meinung nach erklärungsbedürftigen Phänomen auf die Schliche zu kommen. Dabei hätte die Antwort einer Bewohnerin, warum denn die Menschen in ihrem Viertel gerade diesen Präsidenten wiederwählen werden, vollkommen genügt und jede weitere Frage nach früheren Präsidenten oder der jüngeren Geschichte Venezuelas überflüssig gemacht: Noch nie habe sich ein Präsident darum gekümmert, ob wir genug zu essen haben, so die Erklärung der Anwohnerin.

Der Kampf gegen Hunger und Armut wird zwar von vielen Regierungen der Welt immer wieder als Versprechen postuliert, doch nicht geführt. In Venezuela braucht sich die Regierung nicht davor zu scheuen, an den Ergebnissen ihrer Bemühungen tatsächlich gemessen zu werden, und zwar von den Menschen, denen sie ihr Wort gegeben hat. Drei Jahre nach dem zurückgeschlagenen Staatsstreich erklärte der damalige Außenminister Venezuelas, Dr. Alí Rodríguez Araque, bei einem Besuch in Berlin, gegen welchen Feind seine Regierung kämpft [4]:

Schließlich geht es uns hauptsächlich darum, unseren wichtigsten inneren Feind zu bekämpfen, und das ist die Armut. Es ist unmöglich in einem Land, wo die große Mehrheit in Armut lebt, von Menschenrechten zu sprechen. Wir wollen den Menschen in Venezuela ihre elementarsten Rechte zurückgeben: Das Recht auf Leben, das auch die Rechte auf Nahrung, Gesundheit, Bildung sowie auf Beteiligung an den Entscheidungen des Landes beinhaltet. An der Verwirklichung dieser Ziele arbeiten wir intensiv. Das haben das Volk wie auch sehr viele Regierungen und Länder in der Welt verstanden.

Das Volk Venezuelas hatte dies ganz offensichtlich auch schon im April 2002 verstanden, gerade einmal drei Jahre nach dem Amtsantritt der Regierung Chávez. Mit den spürbaren Verbesserungen der Lebensverhältnisse auch der ärmsten Menschen allein scheint die Tatsache, daß ein von langer Hand und wohl auch mit ausländischer Unterstützung eingeleiteter und durchgeführter Staatsstreich zurückgeschlagen werden konnte, obwohl die Regierung am 11. April kalt erwischt und, wenn man so will, von engsten militärischen Beratern verraten worden war, nicht zu erklären zu sein. Blancanieve Portocarrero, die Botschafterin Venezuelas in Deutschland, stellte vor zwei Jahren in ihrem Grußwort zum 6. Jahrestag der Niederschlagung des Putsches unter anderem auch auf den Begriff "Würde" ab [5]:

Das Volk, das von seinen Rechten Besitz ergriffen hatte, nahm am frühen Morgen des 13. April die Straßen von Caracas ein, entschlossen, seine Würde, sein Leben und seine Zukunft zu verteidigen. In absoluter Bescheidenheit können wir sagen, dass dieses Ereignis einzigartig in der bekannten Geschichte ist.

Die Bedeutung der neuen venezolanischen Verfassung, die die Grundlage eines neuen, wenngleich nach wie vor bürgerlichen Staates werden sollte und wurde und die Gewähr bietet, den gesellschaftlichen Transformationsprozeß einzuleiten und zu gewährleisten, ist nach Auffassung der Botschafterin ein weiterer Grund, warum sich die Menschen in Caracas und ganz Venezuela am 13. April 2002 "ihre" bereits gestürzte Regierung zurückholten [6]:

Der Grund war die Verfassung, die 1999 in einem tiefgreifenden demokratischen Prozeß reformiert wurde. Damals haben alle Teile der Bevölkerung von der Jugend in den Schulen bis zu den Alten an der Neufassung der Konstitution mitgearbeitet. 80 Prozent haben die neue Verfassung angenommen. Und nicht nur das: Mit der neuen Verfassung ist ein neues Bewußtsein entstanden. Heute weiß jeder Venezolaner und jede Venezolanerin, welche Rechte ihnen die Verfassung zugesteht. Die Aneignung der Rechte durch die Bevölkerung hat direkt dazu geführt, daß sie im April 2002 auf die Straßen gezogen ist, um ihren Präsidenten und ihre Rechte zu verteidigen.

Nach dem gescheiterten Umsturzversuch gingen die Gegner der Bolivarischen Republik Venezuela in der Erkenntnis, daß ihnen ein Ad-hoc-Umsturz offensichtlich nicht gelingen sollte, zu längerfristig angelegten Destabilisierungs- und Destruktionsstrategien über. Nur wenige Monate später, im August 2002, eröffnete die US-Behörde für internationale Entwicklung (USAID) in Caracas ihr "Büro der Initiativen für eine Transition" OTI (Oficina para las Iniciativas hacia una Transición). Nach Angaben der US-amerikanischen Anwältin und Journalistin Eva Golinger [7] hat dieses Büro seitdem 611 oppositionelle Gruppen und Projekte in Venezuela mit insgesamt über 50 Millionen US-Dollar unterstützt, wobei seit 2005 der Schwerpunkt auf den studentischen Bereich gelegt wurde.

Diese Wühlarbeit wurde im vergangenen Jahr noch erheblich intensiviert, wurde doch das Budget dieses Büros von 7,45 Millionen Dollar für 2009 im laufenden Jahr auf fast 15 Millionen Dollar verdoppelt, um den offensichtlich auch in Washington so dringlich herbeigewünschten Regierungswechsel in Caracas herbeizuführen. Zu diesem Zweck scheint kein Mittel zu plump, kein politisches Manöver zu durchsichtig zu sein. Bei Facebook wurde im September vergangenen Jahres die Kampagne "Schluss mit Chávez" gestartet. Twitter wurde zum bevorzugten Medium junger Leute, die Behauptungen über die Verhältnisse in Venezuela aufstellen, die auch gewaltsame Mittel zu einem Regierungssturz als gerechtfertigt erscheinen lassen sollen.

Diese sozusagen auf "ziviler" Ebene angelegten Destabilisierungsbestrebungen sind jedoch nicht die einzigen Mittel der Wahl, um einen Präsidenten zu Fall zu bringen, der von dem eingeschlagenen Kurs seiner Regierungszeit nicht nur nicht abzuweichen bereit ist, sondern diesen Schritt für Schritt noch radikalisiert. In seinem jährlichen Rechenschaftsbericht vor der Nationalversamlung, dem Parlament Venezuelas, hatte Präsident Chávez am 15. Januar 2010 eine positive Bilanz für 2009 gezogen und erklärt, daß das vergangene Jahr im Zeichen einer Weltwirtschaftskrise stand, die keineswegs überstanden sei. Der Präsident Venezuelas erhob in dieser Rede nicht nur eine grundsätzliche Kapitalismuskritik [8] ...

Das Schlimmste ist noch nicht vorüber. Wir müssen die Gründe für die Krise suchen, und diese Gründe lassen sich in einem einzigen Wort zusammenfassen: Kapitalismus.

... sondern sprach wie schon so oft der Idee des Sozialismus das Wort:

20 Jahre sind seither vergangen, und was nun geschieht, ist eine Demonstration dafür, daß der Kapitalismus keine Alternative für die Menschheit ist. Der Kapitalismus und Neoliberalismus sind eine erschreckende Perversion der menschlichen Existenz. Deshalb erhebt sich heute erneut die sozialistische Alternative.

Dies soll an dieser Stelle genügen um anzudeuten, daß die Motivlage derer, die nachgewiesenermaßen an dem Putschversuch von 2002 beteiligt waren, noch immer genau dieselbe sein dürfte. Vor fünf Jahren, im Januar 2005, hatte die bereits erwähnte US-Anwältin Golinger auf Grundlage des US-Informationsfreiheitsgesetzes die Freigabe von bis dato als geheim klassifizierten CIA-Dokumenten erzwungen. Demnach ist es keine Vermutung (mehr), sondern anhand dieser Dokumente nachweisbare Tatsache, daß die damalige US-Regierung unter Präsident Bush über die Putschpläne informiert war und Caracas nicht gewarnt hat. In einem CIA-Dokument vom 6. April 2002, also fünf Tage vor dem Putsch, hieß es demnach [9]:

Dissidente militärische Gruppen, einschließlich einiger führender Offiziere und einer Gruppe radikaler junger Offiziere, entfalten verstärkte Aktivitäten, um einen Putsch gegen Präsident Chávez zu verüben, möglicherweise noch in diesen Monat.

Während des Zwei-Tage-Regimes, am 12. April 2002, hatte der damalige Sprecher des Weißen Hauses, Ari Fleischer, wider besseren Wissens die die Carmona-"Regierung" stützende Behauptung verbreitet, daß Präsident Chávez zurückgetreten und dessen Sturz als "klare Botschaft des venezolanischen Volkes" zu verstehen sei. In der Agentur allerdings zeigten sich kluge Köpfe um das Ansehen ihres Landes besorgt, als sich herauszukristallisieren begann, daß zwar die USA und Spanien, aber kein lateinamerikanisches Land das Usurpatoren-Regime in Venezuela akzeptieren würde. In einem CIA-Papier vom 14. April 2002 wurde die Besorgnis geäußert [9]: "Die lateinamerikanischen Regierungen könnten unsere Politik als heuchlerisch bezeichnen."

Äußerste Vorsicht ist also angezeigt, wollen die USA nicht Gefahr laufen, die ihnen verbliebene Bodenhaftung in Lateinamerika gänzlich aufs Spiel zu setzen. In Erscheinung tritt gleichwohl mit Kolumbien der engste Verbündete der USA, der Washington in der Region verblieben ist. So hatte Carlos Aquino, Politbüromitglied des Kommunistischen Partei Venezuelas (PCV), am 1. Februar 2010 auf einer Pressekonferenz bekanntgegeben, daß eine Eliteeinheit der kolumbianischen Armee nach Venezuela eingedrungen sei und sich bereits in der Hauptstadt befände, um Angriffe auf führende Persönlichkeiten der revolutionären Bewegung durchzuführen. Der PCV läge eine Liste der Zielpersonen vor, so die Warnung des Politikers vor paramilitärischen Angriffen.

Am 21. März gab Präsident Chávez in seiner wöchentlichen Fernsehsendung "Aló Presidente" bekannt, daß eine Gruppe ausländischer Paramilitärs festgenommen werden konnte, die über versteckte Gewehre verfügt habe. Chávez wies darauf hin, daß es insbesondere im Grenzgebiet zu Kolumbien immer wieder zu Entführungen und Morden auch an Aktivisten der Vereinigten Sozialistischen Partei Venezuelas (PSUV) komme, für die Gruppen kolumbianischer Paramilitärs verantwortlich zu machen seien. Am 6. April gab der venezolanische Innenminister Tareck El Aissami die Verhaftung von acht Kolumbianern in den Bundesstaaten Aragua und Barinas bekannt. Sie stehen unter Spionageverdacht, nachdem zwei von ihnen in der Nähe eines Kraftwerks festgenommen worden waren, als sie Fotos von Anlagen des venezolanischen Stromversorgungsnetzes machten.

Am 13. April dieses Jahres erklärte Präsident Chávez anläßlich des achten Jahrestages des zurückgeschlagenen Putsches von 2002, daß bestimmte Teile der Opposition noch immer Pläne für einen gewaltsamen Sturz der Regierung wie auch zu seiner Ermordung verfolgten. Sollte ihnen dies gelingen, so stellte Chávez klar, müsse die revolutionäre Bewegung Venezuelas die Macht im Lande vollständig ergreifen und die Bourgeoisie aus dem gesamten politischen und wirtschaftlichen Leben vertreiben. Die Bolivarische Revolution müsse, so das Credo des Präsidenten, "radikalisiert und vertieft" werden, was ohnehin ein Gebot der Verfassung sei. Die Gegner dieses Präsidenten, die identisch sind mit den Gegnern der gegenwärtigen Befreiungsentwicklung in Venezuela wie auch den übrigen Staaten Lateinamerikas, in denen die westlichen imperialistischen Staaten ihren Einfluß mehr und mehr einbüßen, werden wohl nicht umhinkommen, so sie die Ereignisse vom April 2002 nüchtern zu analysieren bereit sind, diese Warnung ernstzunehmen.


Anmerkungen

[1] Bolivarianische Revolution in Venezuela: Ist die gewaltbereite Opposition isoliert? Gespräch mit der venezolanischen Umweltministerin Ana Elisa Osorio Granado, von Lucila Gallino/Ralph Niemeyer, junge Welt, 8.1.2004

[2] "Wir wollten Chávez retten", Fidel Castro im Interview mit Ignacio Ramonet, Abdruck in junge Welt, 10.06.2006, S. 10, aus: "Biografía a dos voces" (Biographie mit zwei Stimmen), Verlag Debate, Barcelona. Übersetzung aus dem Spanischen: Klaus von Raussendorff

[3] Kampf um die Erinnerung. Venezuela gedenkt dem versuchten Staatsstreich im April 2002, von M. Daniljuk, 13.04.2010, amerika21.de

[4] "Wir folgen den Träumen unserer Befreier", Gespräch mit Dr. Alí Rodríguez Araque, seit November 2004 Außenminister der Bolivarischen Republik Venezuela, von Gerd Schumann, Übersetzung: Barbara Köhler, junge Welt, 16.04.2005

[5] Sieg der Demokratie gefeiert. Gedenken am 6. Jahrestag der Niederschlagung des Putsches in Venezuela. Große Teilnahme an Festakt in Berlin, von Redaktion amerika21.de, 14.04.2008, amerika21.de

[6] "Unsere Revolution ist eine friedliche Revolution". Vor sechs Jahren wurde in Venezuela der Putsch gegen Präsident Chávez niedergeschlagen. Ein Gespräch mit Botschafterin Blancanieve Portocarrero, junge Welt, 12.04.2008, S. 8

[7] USAID steckt hinter den "weißen Händen", von Eva Golinger, Übersetzung: Bettina Hoyer, 11.02.2010, aporrea.org

[8] Positive Bilanz. Venezuelas Präsident Hugo Chávez legt Rechenschaftsbericht vor, von André Scheer, junge Welt, 18.01.2010, S. 6

[9] CIA wußte von Putschplänen gegen Chávez. Dokumente des US-Geheimdienstes belegen: Demokratisch gewählte Regierung wurde nicht gewarnt, von Jeroen Kuiper, junge Welt, 08.01.2005

17. April 2010