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DILJA/1205: Verwahren bis in den vorzeitigen Tod - Entsorgungseinrichtung Pflegeheim (SB)


Wie sich die Meldungen seit Jahren gleichen ...

In deutschen Pflegeheimen sterben Menschen in Folge schlechter Versorgung und mangelnder Pflege


In einer Zeit, in der die Kapitalisierung und damit Verwertung menschlicher Tätigkeiten, wie unlängst der Wirtschaftsnobelpreisträger Joseph Stiglitz in einer vom französischen Präsidenten Nicolas Sarkozy in Auftrag gegebenen Studie propagiert hatte, auf alle nur denkbaren Lebensbereiche ausgeweitet werden soll, stehen der Schutz des Lebens und der menschlichen Würde auf einem Posten, wie er verlorener kaum sein könnte. Zur Beurteilung des "Wertes" einer Volkswirtschaft soll dieser von einschlägigen Interessenkreisen als zukunftsweisend empfundenen Expertise zufolge auch das generelle Wohlbefinden des Menschen in all seinen sozialen wie auch körperlich-seelischen Aspekten gemessen und bewertet werden. Da das massenhafte Verwalten und Verwahren zumeist wehrloser Menschen unter schlechten und schlechtesten Bedingungen in sogenannten Pflegeeinrichtungen bereits seit vielen Jahren immer wieder aufs Neue festgestellt und mit Lösungsversprechen bemäntelt wird, kann von einer Kapitalisierung menschlicher Befindlichkeiten kein Zugewinn, sondern einzig und allein eine weitere Verschärfung der ohnehin katastrophalen Lage erwartet werden.

Dabei kommen schon Formulierungen wie "katastrophale Lage" oder auch der von Bundesgesundheitsministerin Ulla Schmidt (SPD) bereits vor zwei Jahren beklagte "unhaltbare Zustand" in der Pflege in Deutschland einer Verharmlosung gleich, da sie die Ausnahme von der Regel unterstellen, den vermeintlichen Mißstand, der sich gegen ein im Prinzip funktionierendes Pflegesystem abgrenzen ließe. Die Realität in bundesdeutschen Pflegeeinrichtungen sieht jedoch so aus, daß die betroffenen Menschen Lebensverhältnissen ausgesetzt sind, in denen ihnen der vorzeitige Tod in Folge von Mangelernährung und fehlender Pflege, eine allgemeine Verwahrlosung sowie Übergriffe durch das (überlastete) Pflegepersonal drohen.

Einer jüngst veröffentlichten Umfrage der Universität Witten/Herdecke zufolge, die auf Untersuchungen in insgesamt 73 Altenpflegeeinrichtungen beruht, ist fast die Hälfte der in Deutschland in Einrichtungen der Altenpflege untergebrachten Menschen chronisch unter- und fehlernährt. Die systematische Unterernährung von in Heimen lebenden Menschen birgt die Gefahr ihres frühzeitigen Sterbens in sich, da ein schlechter Ernährungszustand bekanntlich zu einer Schwächung des Immunsystems führt. Ältere, womöglich ohnehin bereits geschwächte und mit gesundheitlichen Problemen belastete Menschen, die durch mangelnde Betreuung nicht genug essen und trinken, finden unter diesen Bedingungen aller Voraussicht nach früher den Tod, sie es unter besseren Umständen womöglich getan hätten. Sogenannte Demenzkranke sind davon besonders betroffen, was nichts anderes bedeutet, als daß das Versprechen "Pflege" gerade bei denjenigen nicht eingelöst wird, die auf Zuwendung und Unterstützung schon beim Essen und Trinken angewiesen sind.

Bezeichnenderweise gleichen sich die jüngsten Meldungen über die verheerende Ernährungslage von rund der Hälfte der in Altenheimen untergebrachten Menschen bis aufs I-Tüpfelchen mit jenen früherer Jahre. Der sogenannte "Pflegenotstand" ist überhaupt nicht neu. So wurde beispielsweise im August 2004 eine Hochrechnung des Rechtsmedizinischen Instituts der Universität Hannover veröffentlicht, derzufolge in den 8.400 Altenheimen in Deutschland mit ihren rund 720.000 Bewohnern durch mangelhafte Versorgung mindestens 10.000 Menschen pro Jahr vorzeitig sterben, was die zuständige Referentin des Sozialverbands Deutschlands, Hesseke, seinerzeit als die größte soziale und menschliche Katastrophe in Deutschland seit dem Zweiten Weltkrieg bezeichnete. Bezugnehmend auf Untersuchungen der medizinischen Dienste der Krankenkassen stellte der Sozialverband bereits vor fünf Jahren fest, daß mindestens die Hälfte der Heimbewohner mangel-, fehl- oder unterernährt ist und daß rund 400.000 mal pro Tag Heimbewohner gefesselt, durch Medikamente ruhiggestellt oder in Gitterbetten gesperrt werden.

Drei Jahre später, im September 2007, wurde in einem Bericht des Medizinischen Dienstes der Spitzenverbände der Krankenkassen (MDS) festgestellt, daß in Deutschland in der stationären, aber auch in der ambulanten Pflege "katastrophale Zustände" herrschen, da jeder dritte Pflegepatient nicht genug zu essen und zu trinken bekäme. Diesem Bericht zufolge haben sich 35 Prozent der Heimbewohner und 42,4 Prozent der ambulant Gepflegten wundgelegen, weil sie zu selten umgelagert wurden. Insgesamt wurden bei zehn Prozent der Heimpatienten akute Gesundheitsstörungen festgestellt, die unmittelbar auf diese und andere Pflegemängel zurückzuführen sind. Der MDS räumte bei der Vorstellung dieses Berichts ein, daß es "katastrophale Zustände" in vielen deutschen Pflegeheimen gäbe, wofür ihm der Bund der Pflegeversicherten eine Mitverantwortung gab, weil er für die Qualitätssicherung in den Pflegeeinrichtungen und -diensten zuständig sei.

Während sich die beteiligten Institutionen und administrativen Stellen mit der Verlagerung und Umlastung etwaiger Verantwortungen befassen, wird die von ihnen zum vermeintlichen Mißstand erklärte Realität in Einrichtungen, die mit dem Begriff "Pflege" kaum noch in Verbindung zu bringen sind, nahtlos fortgesetzt. Ende 2005 lag die Zahl der von den Kranken- und Pflegekassen als "pflegebedürftig" geführten Menschen bei 2,12 Millionen; von ihnen wurden 1,45 Millionen zu Hause versorgt, 472.000 durch ambulante Pflegedienste und 677.000 in stationären Einrichtungen. Nach Schätzungen, die einer Studie der Universität Duisburg-Essen zu entnehmen waren, wird die Zahl der Pflegebedürftigen bis 2020 auf 2,7 Millionen und bis 2050 auf 4,7 Millionen Menschen anwachsen. Somit steht nicht nur zu erwarten, daß immer mehr Menschen in Alten- und Pflegeheimen ihr Dasein fristen müssen, sondern daß dies unter zunehmenden "Kostendruck" geschehen wird mit den damit einhergehenden Folgen.

Die latent tödlichen Lebensbedingungen für in Alten- und Pflegeheimen untergebrachte Menschen werden schon heute damit zu erklären versucht, daß die Einrichtungen aus finanziellen Gründen chronisch personell unterversorgt sind und deshalb die erforderlichen Pflegeleistungen nicht erbringen können. Wiewohl dies nicht in Abrede zu stellen ist, wäre die Forderung nach einer besseren finanziellen Ausstattung der Heime nicht nur nutzlos, sondern irreführend, weil sie zur Gänze außer acht ließe, daß die nicht vorhandenen finanziellen Mittel kein zufälliges Resultat einer womöglich verfehlten Haushaltspolitik sind, sondern als systematische Bestandteile einer von Verwertungsinteresen dominierten Versorgungs- oder vielmehr Entsorgungspolitik in Hinsicht auf "unnütze" Menschen bewertet werden können.

Der Ruf nach verstärkter Kontrolle und Überwachung der Heime, durchgeführt noch dazu von Einrichtungen der Krankenkassen wie etwa der Medizinischen Dienste, kommt dem Versuch gleich, den Bock zum Gärtner zu machen, da namentlich die großen Versicherungs- und Versorgungsinstitutionen die ausführenden administrativen Organe selektiver Mechanismen sind, durch die gesellschaftlich als "unproduktiv" erachtete Menschen unter optimal minimalisiertem Kostenaufwand verwahrt, um nicht zu sagen verwahrend entsorgt werden. Eine solche Forderung erhob bereits vor zwei Jahren der Sozialpädagoge Claus Fussek, der sich von unangemeldeten Kontrollbesuchen in Pflegeheimen, im Internet veröffentlichten Qualitätsberichten sowie der Möglichkeit, schlecht geführte Einrichtungen zu schließen, eine Besserung der Lage versprach und damit allein auf weiter Flur stand in einer Zeit, in der von führenden Politikern statt dessen die Privatisierung der Pflege diskutiert wurde.

"Alte Menschen menschenwürdig zu pflegen, ist nicht marktfähig, dies soll aber nach dem Willen der Politik marktfähig sein. Das ist das Problem. Pflege ist eine Aufgabe der Solidargemeinschaft, nicht des Marktes", so Fussek im Jahre 2007. Da die katastrophalen Zustände, ohne daß je eine substantielle Verbesserung herbeigeführt worden wäre, seit mindestens fünf Jahren mit einer gewissen Stereotypie feststellt und mit Absichtsversprechen und vagen Lösungsrezepten kaschiert werden, verpufft ein solcher humanitärer Appell wirkungslos an einer Realität, wie sie grausamer und menschenverachtender kaum sein könnte. Ihr werden systematisch und in zunehmendem Ausmaß gerade die Menschen überantwortet und ausgeliefert, die sich aufgrund ihres hohen Alters, etwaiger Gebrechen oder schlicht ihrer gesellschaftlich schwachen Position nicht wehren können gegen den administrativen Zugriff institutionalisierter Versorgungseinrichtungen, die die finanziellen und juristischen Druckmittel auf ihrer Seite haben.

17. September 2009