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DILJA/1201: Hungersnot in Guatemala - Bewährungsprobe für die internationale Gemeinschaft (SB)


Guatemalas Präsident Colom verhängt den Notstand im ganzen Land

Wegen der akuten Hungersnot wird die "internationale Gemeinschaft" um Hilfe gefragt


Inzwischen ist es amtlich: In Guatemala herrscht eine akute Hungersnot, der nach offiziellen Angaben bereits über 460 Menschen, unter ihnen 54 Kinder, zum Opfer gefallen sind. Die Zahl der Hungertoten könnte bereits weitaus höher sein und droht mit jeder Stunde und jedem Tag weiter anzuwachsen. Wie der guatemaltekische Präsident Alvaro Colom Caballeros am Dienstag vergangener Woche im Fernsehen erklärte, leiden 24.000 Familien an Hunger, weitere 400.000 sind vom Hunger bedroht. Colom, ehemaliger Textil-Unternehmer und seit Januar 2008 als sozialdemokratischer Präsident im Amt, sprach von einer "Tragödie historischen Ausmaßes" und bat die internationale Gemeinschaft um Hilfe. Das Welternährungsprogramm der Vereinten Nationen begann am selben Tag, in den von der Hungerkatastrophe besonders schwer betroffenen Regionen 20 Tonnen eiweißhaltige Kekse zu verteilen.

Zur Erklärung der eklatanten Lage führte Colom vermeintlich naturkatastrophale Ursachen an wie Dürre und Überschwemmungen, die zu Ernsteausfällen geführt hätten. Durch ausbleibenden Regen, weshalb die Hälfte der Ernte vertrocknet ist, habe sich Regierungsangaben zufolge die Zahl der unter Hunger leidenden Gemeinden in den zurückliegenden drei Monaten verdoppelt. Der Präsident machte zugleich geltend, daß Guatemala seit Jahrzehnten einen hohen Anteil armer und auch hungernder Menschen aufweise, was nicht so recht zu seinem Versuch paßt, die katastrophale Lage auf Umweltfaktoren und deren Folgen zu reduzieren, nur um dann wiederum anzuführen, daß eigentlich genug Lebensmittel vorhanden seien, jedoch von rund 51 Prozent der Bevölkerung nicht erstanden werden könnten, weil sie zu arm seien.

Präsident Alvaro Colom Caballeros scheint mit seinem jetzigen Appell und dem öffentlichen Eingeständnis, daß in seinem Land eine katastrophale Hungersnot herrsche, die Flucht nach vorn angetreten zu haben, nachdem Oliver de Schutter, Berichterstatter der Vereinten Nationen, Anfang September nach einer Erkundungsreise durch mehrere betroffene Departements die Situation als alarmierend bezeichnet und erklärt hatte, daß in den Dürregebieten 63 Prozent der Kinder unterernährt sind. Inoffiziellen Angaben zufolge waren zu diesem Zeitpunkt bereits 20 Kinder verhungert. Hätte die Regierung, die Berichte über eine Hungersnot im Lande zunächst nicht bestätigen wollte, noch länger geschwiegen, hätte dies zu einer Destabilisierung der politischen Lage Guatemalas führen können, da sie als nicht willens oder unfähig zur Bekämpfung oder auch nur Milderung des Hungers wahrgenommen worden wäre.

Kritik an der Regierungspolitik ist in Guatemala ohnehin schon laut geworden. Umstritten ist insbesondere die Entscheidung der Regierung, dem Anbau von Palmöl und Zuckerrohr für die Biosprit-Produktion eine hohe Priorität einräumen, während der Bevölkerung eigenes, für die Nahrungsproduktion zur Selbstversorgung unverzichtbares Land vorenthalten wird, wovon die indigenen Völker besonders betroffen sind. Juan Tiney, Mitbegründer der Maya-Organisation CONIC, erklärte gegenüber dpa, daß in diesem Jahr bereits 20 Dorfgemeinschaften vertrieben wurden, um Platz für Großplantagen zu schaffen. Die Verantwortung der gegenwärtigen politischen Führung des Landes greift jedoch über Fehlentscheidungen dieser Art weit hinaus. So verknüpfte Präsident Colom, noch während er den Hunger auf den Klimawandel zurückführte und mit der Armut im Lande zu erklären suchte, etwaige Hilfen an die Verhängung des Notstandes, was ihm im Parlament im ersten Anlauf allerdings verweigert wurde.

Das für die Verhängung des nationalen Notstandes erforderliche Zwei-Drittel-Quorum von 105 von möglichen 158 Stimmen kam zunächst nicht zustande, da eine Mehrheit der Abgeordneten dagegen stimmte. Wie unter Berufung auf Regierungsangaben verlautbart wurde, hätte die Verhängung des Notstandes, die die Einschränkung von Grundrechten wie der Presse- und Bewegungsfreiheit ermöglicht, einen besseren Zugang zu internationalen Hilfsleistungen sowie die Freigabe nationaler Notfonds ermöglicht. Das Welternährungsprogramm der Vereinten Nationen hat mit der tonnenweisen Verteilung der Not-Kekse jedoch schon vor der Notstandsverhängung, die Präsident Colom entgegen des ursprünglichen Neins der Parlamentarier wenige Tage später dann doch durchsetzen konnte, begonnen. Ohnehin wirft dieser in Anspruch genommene Begründungszusammenhang die Frage nach den tatsächlichen Absichten jener internationalen Hilfsorganisationen auf, die die Gewährung elementarster Nahrungshilfen an die vorherige Verhängung quasi-diktatorischer Optionen knüpft.

Präsident Colom muß sich zudem nachsagen lassen, der Hungersnot, die nicht von gestern auf heute das Ausmaß einer Katastrophe, in der bereits jedes zweites Kind unter fünf Jahren, wie das Kinderhilfswerk der Vereinten Nationen erklärte, unterernährt ist, angenommen hat, bislang weitgehend tatenlos zugesehen zu haben. Dabei ist Colom im Gegensatz zu seinen konservativen Amtsvorgängern für höhere Sozialausgaben eingetreten und hat verhaltene Sympathien gegenüber dem politischen Kurs der ALBA-Länder Venezuela und Bolivien durchblicken lassen. Von einem "historischen Wechsel", wie er nach seinem Wahlsieg November 2007 erklärt hatte, kann allerdings nicht die Rede sein. Zwar ist Guatemala im vergangenen Jahr dem von Venezuela gegründeten Energieverband Petrocaribe beigetreten, der als Anhängsel des Bündnisses "Bolivarische Alternative für die Völker Unseres Amerika" (ALBA) gilt, weshalb Guatemala wie jedes Mitgliedsland nun in der Lage ist, Öl zu wirtschaftlich sehr günstigen Konditionen von Venezuela zu kaufen.

Dies könnte als eine indirekte Subventionierung der armen Staaten Mittelamerikas und der Karibik aufgefaßt werden, an die Caracas Erdöl zwar zu Weltmarktpreisen verkauft, ihnen die Rückzahlung jedoch in umso größerem Umfang - bei einem Zinssatz von nur einem Prozent und einer Laufzeit von 25 Jahren - ermöglicht, je höher der Weltmarktpreis steigt, was Venezuelas Präsident Hugo Chávez im vergangenen Sommer als eine Maßnahme seines Landes bezeichnete, um "den schrecklichen Anstieg der Ölpreise auf dem Weltmarkt" auszugleichen.

Schon im Mai vergangenen Jahres hatte Guatemala - wie auch sein mittelamerikanischer Nachbar Honduras und viele weitere Staaten der gesamten Region - an einem ALBA-Sondergipfel zu den akuten Problemen der Lebensmittelversorgung teilgenommen. Bezugnehmend auf die Einschätzung des venezolanischen Präsidenten Chávez, der die Nahrungskrise als das eklatanteste Beispiel für das Versagen des kapitalistischen Modells bezeichnet hatte, sprach Daniel Ortega, Präsident des Gastgeberlandes Nicaragua, von einer "Tyrannei des Weltkapitalismus" und dessen US-amerikanischer Führungsmacht. Bezeichnenderweise war es der im Juni dieses Jahres von einer international zwar nicht anerkannten, aber irgendwie doch geduldeten Ziviljunta gestürzte, gewählte Präsident von Honduras, Manuael Zelaya, der auf dem ALBA-Sondergipfel im Mai 2008 das neoliberale Wirtschaftsmodell für die Hungerkrise verantwortlich gemacht hatte, weil es zu einer Abhängigkeit von Billigimporten der hochsubventionierten US-Landwirtschaft geführt hätte.

Zelaya hatte deutlich gemacht, daß das Vertrauen darauf, daß die Globalisierung die Energie- und Ernährungsprobleme lösen werde, nicht nur nicht erfüllt worden sei, sondern daß sogar das genaue Gegenteil eingetreten sei und die bestehenden Probleme nur noch schlimmer geworden wären. Aus diesem, aus Sicht der sogenannten "internationalen Gemeinschaft", wie sich die Frontstaaten der westlichen, nach neoliberalen Konzepten handelnden Welt gern bezeichnen lassen, sicherlich unerwünschten Erkenntnisgewinn zog Zelaya umgehend Konsequenzen. Er zollte der Landreform der ersten sandinistischen Regierung Nicaraguas seinen Respekt und erklärte in Hinsicht auf eine eigenständige wirtschaftliche Entwicklung ganz Mittelamerikas, daß Agrarreformen unverzichtbar seien.

Im Oktober desselben Jahres trat Honduras der ALBA bei und schuf damit die Voraussetzungen für umfangreiche Sozialprogramme mit venezolanischer Hilfe in einem Land, dessen Bevölkerung mehrheitlich in ähnlicher Weise unter einer extremen Ungleichverteilung der nationalen Reichtümer zu leiden hatte wie die des Nachbarlandes Guatemala. Dessen Präsident Colom scheute vor einem Beitritt zur ALBA jedoch zurück, bei dessen Sondergipfel im Mai 2008 sogar Oscar Arias, der Präsident Costa Ricas, der bis heute als einer der engsten Verbündeten der USA in ganz Lateinamerika gilt, erklärt hatte, daß er nicht verstehen könne, warum die USA der Welthungerhilfe nur eine Milliarde US-Dollar zugesagt hätten - eine Summe, die sie in einer halben Woche Irakkrieg verpulverten. Das Hilfsangebot Washingtons sei, so Arias, grundfalsch, weil ihm falsche Werte zugrundelägen.

Im Schlußdokument dieses Gipfels, von Guatemala mitunterschrieben, war denn auch massive Kritik an den USA wie auch den übrigen westlichen Industriestaaten formuliert worden. Bereits im vergangenen Jahr war in dem Energieverband Petrocaribe ein Landwirtschaftsfonds gegründet worden aus Mitteln, die aus den Erdöleinnahmen Venezuelas stammen und mit denen die Nahrungsmittelversorgung der Mitgliedstaaten verbessert werden sollte. Hat Guatemala solche Hilfen in Anspruch genommen oder hat die Regierung von Präsident Colom instinktsicher davon Abstand genommen, sich allzusehr auf die wirtschaftliche oder auch politische Zusammenarbeit mit der ALBA und damit auch Venezuela und dessen im Westen dämonisierten Präsidenten einzulassen? Die Tatsache, daß Präsident Colom nach langem Schweigen und Verschweigen der extremen Mangelversorgung in seinem Land nun an die "internationale Gemeinschaft" und damit die westlichen Führungsstaaten appelliert, spricht für sich und läßt vermuten, daß Guatemala vor den politischen Implikationen dieser zu Lasten der Lebensinteressen Zehntausender, um nicht zu sagen Hunderttausender Menschen ausgetragenen Auseinandersetzung eingeknickt ist.

Somit ist die internationale Gemeinschaft nun gefordert, Farbe zu bekennen und Fakten zu liefern, die über Not-Kekse und finanzielle Zusagen bzw. Versprechen hinausgehen. So gab die EU-Kommission in diesen Tagen bekannt, daß die EU-Mitgliedstaaten über ein Nothilfepaket im Umfang von 42,1 Milliarden Dollar für Guatemala verhandeln würden, durch das die Kleinbauern, überwiegend Angehörige der Mayas, unterstützt werden sollen. Jede Menge "Konjunktive" kennzeichnen Absichtserklärungen dieser sattsam bekannten Art als das, was sie sind: Hilfsversprechen, die ihrer Natur nach nicht oder nur zu einem geringen Prozentsatz eingelöst werden und dies in aller Regel auch nur dann, wenn es den Hilfe-Gewährenden gelingt, den Hilfe-Empfängern politische oder sonstige Bedingungen oder Gegenleistungen abzuringen, die ihren Hegemonialbestrebungen, nicht jedoch den betroffenen Menschen zweckdienlich sind.

So steht zu befürchten, daß der verdeckte Krieg des Westens gegen die Befreiungsbestrebungen der lateinamerikanischen Staaten, die mehr und mehr nicht mehr einzusehen gewillt sind, warum sie sich den Taktvorgaben aus Washington oder europäischen Hauptstädten noch länger beugen sollten, in Guatemala zu weiteren Hungertoten führen wird, solange Präsident Colom nicht bereit ist, sich in dieser Auseinandersetzung klar zu positionieren und die Zusammenarbeit mit und die Nahrungshilfe der ALBA-Staaten zu suchen, wohlwissend oder doch zumindest ahnend, daß politische Schritte dieser Art zum gewaltsamen Sturz seines honduranischen Amtskollegen sowie zur Einsetzung einer faktischen Militärdemokratur in dem Nachbarland geführt haben. Dabei dürfte der Präsident Guatemalas jedoch außer acht gelassen haben, daß seine zögerliche Haltung den Putsch in Honduras möglicherweise mitbegünstigt hat, weil die Gegner der Linksentwicklung in Lateinamerika annehmen konnten, sich mit Honduras das schwächste ALBA-Mitglied straflos herauspicken zu können mit der Folge, daß die Regierung von Präsident Colom mit jedem weiteren Hungertoten an innenpolitischer Stabilität verliert.

14. September 2009