Schattenblick →INFOPOOL →POLITIK → MEINUNGEN

DILJA/1190: Disziplinierung durch Hunger - Hartz IV im Verbund mit Lebensmitteltafeln (SB)


Mangelernährung ist für Hartz-IV-Abhängige nicht die Ausnahme, sondern die Regel

Almosen der deutschen Lebensmitteltafeln sind unverzichtbare Nahrungshilfen und systematische Disziplinierung zugleich


In der Bundesrepublik Deutschland, einem der reichsten Staaten der Welt, haben Hunger und Mangelernährung in einem weitaus größeren Ausmaß Einzug gehalten, als gemeinhin wahrgenommen und öffentlich anerkannt bzw. problematisiert wird. Die im Bundestag vertretenen Parteien, unter denen bestenfalls die Linkspartei eine löbliche Ausnahme bildet, sind an einer schonungslosen Aufklärung dieser Mangellage aus naheliegenden Gründen nicht interessiert, da die Verwaltung dieser systembedingten Dauerkatastrophe zu ihrer Agenda gehört, abzielend auf eine möglichst reibungslose und etwaige Massenproteste oder gar Hungerrevolten im Keim erstickende Armutsregulation. So blieb es dem Erwerbslosen-Forum Deutschland, einem bundesweiten Bündnis verschiedener Sozial- und Arbeitsloseninitiativen, vorbehalten, im Vorfeld der anstehenden Bundestagswahlen den Finger auf den wunden Punkt zu legen und eine Kampagne gegen die Mangelernährung der Hartz-IV-Empfänger zu starten.

Wie Forums-Sprecher Martin Behrsing vor wenigen Tagen gegenüber der jungen Welt [1] ausführte, werden von den Kampagnenbetreibern konkrete Forderungen erhoben, um die Mangelernährung unter Hartz-IV-Abhängigen mit sofortiger Wirkung zu beenden:

Wir verlangen die sofortige Aufstockung des Hartz-IV-Regelsatzes auf 500 Euro. Die derzeit bewilligten 359 Euro reichen einfach nicht aus, um sich auskömmlich und gesund zu ernähren. Ein erwachsener Mensch hat bei ausreichender Bewegung einen Tagesbedarf von 2550 Kilokalorien. Nach wissenschaftlichen Befunden muß man für 1000 Kilokalorien im Falle einer gesunden Ernährung 2,50 Euro aufwenden. Hartz-IV-Empfängern gesteht man pro Tag aber nur 3,94 Euro für Nahrungsmittel und nichtalkoholische Getränke zu, was knapp 1600 Kilokalorien entspricht. Ihr Energiebedarf wird damit für lediglich 20 Tage gedeckt. Die Betroffenen essen entweder zu wenig, extrem ungesund oder müssen bei anderen Dingen des täglichen Bedarfs Abstriche machen.

Wer sich unter Hartz-IV-Abhängigen umhört, wird diese Einschätzung schnell bestätigt finden. Gleichwohl dürfte der Streit darüber, ob der derzeitige Regelsatz für eine gesunde und ausreichende Ernährung ausreichend sei oder nicht, vorgeschoben sein, da er eine von fundamentalen Raubinteressen diktierte Auseinandersetzung in die Sphäre vermeintlicher Grundsatzfragen, noch dazu wissenschaftlich untermauert, verlagert, wodurch die dem Dilemma zugrundeliegenden Absichten und Interessen von vornherein ungenannt und jeder Infragestellung präventiv entzogen werden. Da das Hartz-IV-System eigens eingeführt wurde, um den vorherigen Status Quo der sozialen Sicherung, im wesentlichen bestehend aus der Sozialhilfe sowie den Leistungen der Arbeitslosenversicherung (Arbeitslosengeld und -hilfe), in materieller wie rechtlicher Hinsicht zu unterlaufen, ist die nun festzustellende Mangelernährung bei Hartz-IV-Beziehern kein Fehler im System, sondern Bestandteil und Resultat einer zugespitzten Umverteilung von unten nach oben sowie der systematischen Vorenthaltung zuvor gewährter sozialer Ansprüche und Rechte.

In der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts, als die damals noch recht junge Bundesrepublik im Systemstreit mit dem ostdeutschen Bruderstaat DDR und dessen hohem Sozialniveau stand, wurde das Sozialstaatsprinzip im Grundgesetz verankert, um der westdeutschen Bevölkerung eine elementare soziale Absicherung nicht nur in Aussicht zu stellen und zu versprechen, sondern um sie durch die in der Verfassung verankerte Selbstverpflichtung des Staates zu einem jedem in der Bundesrepublik Deutschland lebenden Menschen bedingungslos zustehenden Recht zu machen. Da die Systemauseinandersetzung seit 1989/90 von westlicher Seite gewonnen zu sein scheint, bröckelte in den Folgejahren der Lack vom vermeintlichen Sozialstaat in beängstigender Geschwindigkeit ab. Der Sozialabbau fand in dem Hartz-IV-Regelwerk einen wenn auch nur wohl vorläufigen Höhepunkt.

Das Erwerbslosen-Forum Deutschland möchte nun die bevorstehende Bundestagswahl nutzen, um die "Damen und Herren Politiker" zu einer Stellungnahme zu dem Problem der Mangelernährung bei Hartz-IV-Beziehern zu bewegen [1]:

Wir wollen uns damit gezielt in den Bundestagswahlkampf einschalten und die Damen und Herren Politiker ganz direkt auffordern, Stellung zu beziehen. Alle Bundestagsabgeordneten erreichte Anfang dieser Woche ein Schreiben zu Hintergründen unseres Anliegens und mit unseren Forderungen. Die Adressaten werden gebeten, uns zu unterstützen oder darzulegen, warum sie das nicht tun. Über ihre Reaktionen werden wir natürlich die Öffentlichkeit unterrichten.

In welchem Ausmaß der Sozialstaat, der verhindern können müßte, daß Menschen in Deutschland hungern, frieren oder sonstige Not leiden, bereits abgebaut worden ist, läßt sich aus den sogenannten Lebensmitteltafeln rückschließen. Diese nach Vereinsrecht organisierten Privatinitiativen erfüllen de jure keine staatlichen Aufgaben und springen de facto doch genau in die riesige Lücke hinein, die die staatliche Mangelversorgung gerissen hat. Derzeit sind in der Bundesrepublik Deutschland bereits fast eine Million Menschen auf die Lebensmittelspenden dieser Vereine angewiesen. Die Anzahl der deutschen Lebensmitteltafeln, die sich in einem "Bundesverband Deutsche Tafel" zusammengeschlossen haben, ist auf 847 angewachsen. In ihnen wird eine Arbeit geleistet, die laut Verfassung, sprich dem Sozialstaatsprinzip, zu den staatlichen Aufgaben gehören müßte. Tatsächlich ist es jedoch so, daß rund 40.000 ehrenamtliche Helfer im gesamten Bundesgebiet eine Arbeit leisten, durch die pro Jahr rund 130.000 Tonnen unverkäufliche und gespendete Lebensmittel und Artikel des täglichen Bedarfs eingesammelt und kostenlos oder zu einem sehr geringen Betrag an Bedürftige verteilt werden.

Die Betroffenen, deren Zahl sich nach Einschätzung des Vorsitzenden des "Bundesverbandes Deutsche Tafel", Gerd Häuser, angesichts drastisch steigender Arbeitslosenzahlen schon bald verdoppelt haben dürfte, befinden sich in der von vielen als entwürdigend empfundenen Situation, auf Lebensmittelalmosen angewiesen zu sein. Sie werden vielfach von Unternehmen "gespendet", die auf diese Weise Kosten einsparen können, die ihnen durch die Entsorgung unverkaufter Waren entstehen würden und die im übrigen ganz generell von einem Wirtschaftssystem profitieren, durch das Mangel zu Lasten der Armen und damit auch der Hunger der Hartz-IV-Abhängigen und weiterer Bedürftiger produziert wird. Wenn schon die Situation der Sozialhilfeempfänger früherer Tage die von Bittstellern war, die sich nur allzu oft der Willkür und Schikane der Sozialbehörden ausgeliefert sahen, ist die Lage der heutigen Almosenabhängigen demgegenüber noch trostloser.

Sie stehen mit den Lebensmitteltafeln Organisationen gegenüber, denen gegenüber sie nicht den Hauch eines rechtlichen Anspruchs haben und die sich gerade deshalb als inoffizieller, quasi zivilgesellschaftlicher Arm eines Zwangssystems erweisen, bei dem "Hartz IV" und die besagten Almosen eine unheilvolle Allianz eingegangen sind. Wie dies in der Realität aussieht und sicherlich längst von vielen Menschen erlebt wird, ist der Schilderung eines Betroffenen zu entnehmen, der unter geändertem Namen gegenüber der jungen Welt in einem am 12. Juni veröffentlichten Gespräch seine Situation schilderte. M. Seegers lebt in Münster und ist einer derjenigen, die Hartz IV beziehen und dennoch auf Lebensmittelhilfen durch die Tafeln angewiesen sind [2]:

Ich bekomme jetzt seit fünf Jahren jede Woche Lebensmittel von der Tafel in meinem Stadtteil. Ich bin Hartz-IV-Empfänger, weil ich behindert bin und mit 56 Jahren keine Arbeit mehr bekomme. Im Monat habe ich an die 300 Euro zum Leben plus Miete. Aber weil das hinten und vorne nicht reicht, gehe ich regelmäßig zur Tafel.

Die Essensausgabe beschrieb er folgendermaßen [2]:

Ich fahre morgens gegen acht los, um mich wegen der Marken anzustellen - ohne sie bekommt man gar nichts. Bevor die Mitarbeiter eine dieser Marken herausgeben, kontrollieren sie die Ausweise und fragen nach der Zahl der Familienmitglieder. Dann muß man 50 Cent bezahlen - es ist aber auch nicht schlimm, wenn man die nicht hat. Dann wird die Ausgabe erst mal wieder geschlossen. Die Mitarbeiter bereiten unterdessen die Portionen vor. Ich fahre in der Zeit nach Hause und komme gegen 11.15 Uhr zurück. Alles in allem dauert es rund vier Stunden, bis ich meine Lebensmittel habe.

In diesem Gespräch wollte "M. Seegers" anonym bleiben aus Angst, andernfalls Probleme bei der Lebensmittelvergabe zu bekommen, zumal er in der Vergangenheit schon diesbezügliche schlechte Erfahrungen gemacht hatte, die er folgendermaßen beschrieb:

Vor zwei Jahren wurde ich bei einer anderen Verteilerstelle der Tafel von deren Chef rausgeworfen. Es war Winter, draußen war es klirrend kalt. Ich fragte daher eine Mitarbeiterin, ob ich mich in einen Warteraum setzen könne, um ein Buch zu lesen und auf die Lebensmittel zu warten. Bei der Tafel läuft das nämlich so: Morgens früh werden die Marken für die Ausgabe ausgeteilt, dann beginnen die Mitarbeiter, die Portionen herzurichten. So lange muß man eben warten. Nachdem ich mich gesetzt hatte, brüllte mich der Chef an, ich solle gefälligst nach draußen gehen. Er hat mich buchstäblich vor die Tür gesetzt, Lebensmittel gab es erst einmal nicht mehr.

"M. Seegers" machte aus seiner durchaus kritischen Einstellung gegenüber den Lebensmitteltafeln keinen Hehl:

Da wird die Spaltung der Gesellschaft richtig deutlich: Wir müssen nach Lebensmitteln anstehen und die, die dafür verantwortlich sind, profitieren noch davon. Die Tafeln fangen die Krise auf und beschönigen sie. Es ist doch eigentlich ein Skandal. Aber ich brauche die Tafel, sonst käme ich nicht über die Runden. Das alles ist für mich sehr demütigend.

Die Anonymisierung dieses Gesprächs hat dem Betroffenen allerdings nicht den erhofften Schutz gewähren können. "M. Seegers" wurde unter den 7.000 Bedürftigen, die in Münster regelmäßig zur Tafel gehen, gleichwohl identifiziert. Dies geschah mit für ihn und seine Frau katastrophalen Folgen. "Als ich zwei Wochen nach dem Interview das erste Mal wieder zur Essensausgabe der Münster-Tafel kam, erwartete mich schon der Vorsitzende und teilte mir mit: Sie bekommen von uns nichts mehr", schilderte der Betroffene seine jetzige Lage gegenüber der jungen Welt [3]. Mit Unterstützung des Münsteraner Gewerkschafters, DKP-Mitglieds und Kandidaten für das Oberbürgermeisteramt, Ewald Halbach, versuchte "M. Seegers", die Angelegenheit mit den Verantwortlichen der Tafel zu klären. Doch ohne Erfolg. Der Tafel-Vorsitzende Roland Goetz stellte klipp und klar den Standpunkt seines Vereins dar: "Wir arbeiten hier alle ehrenamtlich, aber nicht für Leute, die uns ans Schienbein treten." [3]

Gegen die Entscheidung, dem 56jährigen Münsteraner wie auch seiner in keiner Weise an dieser Auseinandersetzung beteiligten Frau die Lebensmittelspenden vorzuenthalten, haben die Betroffenen nicht die geringste rechtliche Handhabe. Juristisch gesehen ist der von Goetz bezogene Standpunkt ("Niemand hat einen Anspruch auf die Hilfe unseres Vereins" und "Wir entscheiden, wer etwas bekommt und wer nicht"), nicht zu beanstanden, doch genau darin offenbart sich die volle Brutalität einer staatlich-quasistaatlichen Mangelverwaltung, in der die auf Hilfen angewiesenen Menschen durch ihre existentielle Abhängigkeit nach Belieben drangsalisiert und diszipliniert werden können.

Der nun bekanntgewordene Vorfall in Münster ist keineswegs ein Skandal in einem im übrigen - wenn auch vielleicht mehr recht als schlecht - funktionierenden Hilfssystem. Es ist die Probe aufs Exempel, die dem Regel- und keineswegs dem Einzelfall entspricht und schlaglichtartig Aufschluß zu geben imstande ist über die soziale Realität eines vermeintlichen Sozialstaats, der längst im Begriff steht, die administrativen Weichenstellungen für die Kontrolle und Überwachung des absehbar rapide anwachsenden Millionenheers verarmter und mangelleidender Menschen zu vervollständigen.

Anmerkungen

[1] "Unterstützung gibt es nur aus der Linksfraktion". Kampagne gegen Mangelernährung durch Hartz IV. SPD, CDU/CSU und FDP gehen auf Tauchstation. Gespräch mit Martin Behrsing. Interview von Ralf Wurzbacher, junge Welt, 06.08.2009, S. 2

[2] "Das alles ist für mich sehr demütigend". Ein Hartz-IV-Bezieher berichtet über seine Erfahrungen bei der Lebensmittelausgabe einer "Tafel". Ein Gespräch mit Moritz Seegers, Interview von Gerrit Hoekman, junge Welt vom 12.06.2009, S. 8

[3] Münster-Tafel bestraft Widerspruch. Weil ein Hartz-IV-Empfänger junge Welt ein kritisches Interview gab, bekommt er keine Lebensmittel mehr. Sippenhaft: Seine Frau auch nicht. Von Gerrit Hoekman, junge Welt, S. 4

12. August 2009