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DILJA/1162: Hunger in der Bundesrepublik Deutschland kaum noch zu kaschieren (SB)


Lebensmitteltafeln bemühen sich, eine Million Bundesbürger vor dem Hungern und Verhungern zu bewahren

Ohne Spenden und ehrenamtliche Arbeit stünde Deutschland längst vor einer Hungerrevolte


Der Mangel an Nahrung ist so extrem wie noch nie. Die Welthungerhilfe, eine mit der Mangelverwaltung und mit administrativen Zugriffs- und Verteilungsmanövern befaßte supranationale Organisation, bezifferte in ihrem am 28. Mai in Berlin vorgestellten Jahresbericht die Zahl der weltweit hungernden Menschen auf 963 Millionen. Sie werde, wie die Welthungerhilfe prognostizierte, noch in diesem Jahr die Grenze von einer Milliarde Menschen überschreiten. In einem Land wie der Bundesrepublik Deutschland, das fraglos als eines der reichsten der Welt gelten kann, stellt sich die Mangellage, die gern und häufig als Auswirkung einer vermeintlichen Finanzkrise apostrophiert wird, um ihre generelle Überwindbarkeit auch unter den vorherrschenden raubgesellschaftlichen Strukturen zu suggerieren, selbstverständlich noch anders dar als in den Regionen aller Kontinente des Erdballs, die von der dominierenden westlichen Staatenelite bereits als Hunger- und Elendsgebiete abgeschrieben wurden mit der Folge, daß die in ihnen hungernden und verhungernden Menschen kommentarlos dem ihnen zugewiesenen Schicksal überlassen werden.

Innerhalb der Menschheit ist somit ein Sozial- oder vielmehr nackter Überlebenskampf ausgebrochen, wie er, zumindest aus Sicht der privilegierten Bevölkerung des Nordens, kaum reibungsloser vonstatten gehen könnte. Gestorben wird, gemessen an den Verlautbarungen in den weltweit führenden Medien wie auch in der internationalen Politik, vollkommen lautlos. Nirgends sind Verzweiflungsschreie und Hilferufe zu vernehmen seitens der von der Welthungerhilfe auf 963 Millionen Menschen geschätzten Zahl der Hungernden, um von den 36 Millionen Menschen, die Jahr für Jahr Hungers sterben, ganz zu schweigen. Wer in einer westlichen Metropolengesellschaft wie der Bundesrepublik Deutschland lebt, hat in diesem Vergleich, der gar nicht anders als zynisch sein kann, noch bessere Überlebenschancen, da er sich nicht in einer Region befindet, deren Bewohner von der Möglichkeit, sich über käuflich erworbene Nahrungsmittel in ausreichender Weise zu ernähren, auf die eine oder andere Weise und gleichwohl höchst systematisch ausgegrenzt werden.

Vom Bezug von Lebensmitteln und allen übrigen Produkten des täglichen Lebens und Überlebens werden Menschen ferngehalten, indem ihnen entweder die finanziellen Mittel fehlen, um sie erwerben zu können, oder indem sie in Regionen leben, in denen der Mangel bereits so total ist, daß es nicht einmal mehr Märkte, Läden oder Regale gibt, in denen Nahrungsmittel zum Kauf feilgeboten werden. Hungeraufstände sind in diesen Elendsregionen kaum noch zu erwarten, und so suchen viele ausgemergelte und verzweifelte Menschen ihr Heil noch am ehesten in der Flucht. Dies stellt allerdings ein schier aussichtsloses Unterfangen dar, da die Regionen der privilegierten Minderheit, sprich die Territorien Nordamerikas und Europas, sich hermetisch und unter Einsatz ihrer ohnehin weit überlegenen militärischen und technologischen Mittel gegen die Hungerleider dieser Welt abgeschottet haben und mit durchaus rabiaten bis tödlichen Methoden gegen die wenigen vorgehen, denen es dennoch gelungen ist, das aus ihrer Sicht gelobte Land zu erreichen.

Doch auch innerhalb dieser vermeintlichen Wohlstandsinsel sind Hunger und Armut keine Randerscheinungen oder partiell auftretenden Einzelkatastrophen, sondern untrügliche Anzeichen einer Gesamtlage, aus der heraus es kein Entkommen gibt. Die innenpolitischen Verhältnisse allerdings sind in den westlichen Ländern noch weitaus fragiler. Da sich die herrschenden Eliten in ihrer eigenen Region nicht vollständig von der "Masse Mensch" abgrenzen können, müssen sie von einer politischen Angreifbarkeit ihrer selbst ausgehen ganz unabhängig davon, ob sich die Unmutsäußerungen, Proteste und denkbaren Widerstandshandlungen im parlamentarischen Rahmen oder eben auch ganz einfach "auf der Straße" Bahn brechen. Aus derlei sicherheitspolitischen Überlegungen heraus, wobei der Begriff "Sicherheit" in diesem Kontext ganz gewiß nicht mit der Sicherstellung der materiellen Versorgung der gesamten Bevölkerung verwechselt werden darf, ist es mehr als geboten, das Problem des Massenhungers in Deutschland als im Grunde harmlos und eigentlich bereits gelöst darzustellen.

Aus diesem Grunde können sich Verantwortungsträger in Politik und Wirtschaft bei den Lebensmitteltafeln nur in aller Aufrichtigkeit bedanken, da diese ihnen nicht nur Arbeit und Verantwortung abnehmen, sondern eine Mangellage kaschieren, die andernfalls womöglich schon längst zum Ausbruch von Armuts- und Hungeraufständen geführt haben könnte. Hinter diesem Begriff verbergen sich 847 von privater Seite organisierte Wohltätigkeitsorganisationen, die im "Bundesverband Deutsche Tafel" zusammengefaßt sind. Sie versorgen rund eine Million (!) Bundesbürger dauerhaft mit Nahrungsmitteln, die von Handelsketten oder auch Privatpersonen "gespendet" werden - so zumindest lautet die offizielle Sprachregulation. Auf diese Weise werden rund 130.000 Tonnen Lebensmittel und Artikel des täglichen Bedarfs an Menschen verteilt, die nicht in der Lage sind, diese käuflich zu erwerben.

Die Nahrungsmittel, die sich in einem einwandfreien Zustand befinden sollen, würden ansonsten im Müll landen, lautet die von den Lebensmitteltafeln verbreitete Erklärung über das Woher der von ihnen zum Nulltarif oder einem Miminalbetrag weitergegebenen Waren. Auf einem dreitägigen Treffen des Bundesverbands Deutsche Tafel, das seit Donnerstag in Göttingen stattfindet, hieß es denn auch, daß rund eine Million Menschen regelmäßig nicht genug zu essen hätte, würden nicht andere Bürger von ihrem Überfluß etwas abgeben. Von einem tatsächlichen "Überfluß" kann allerdings nicht die Rede sein. Mit diesem Begriff wird verschleiert, daß zunehmend mehr Menschen nicht in der Lage sind, die für sie lebensnotwendigen Produkte zu erstehen. Was also in den Regalen zurückbleibt, sind Lebensmittel, für die es einen dringenden Bedarf gibt. Da die generelle Mangellage und -versorgung eine rapide anwachsende Zuspitzung erfährt, ist die nur vorübergehende Wirksamkeit der Idee der Lebensmitteltafeln absehbar.

Schon jetzt erklärte der Vorsitzende des Bundesverbandes, Gerd Häuser, im ARD-Morgenmagazin, daß das Spendenaufkommen im Lebensmittelbereich (noch?) nicht zurückgegangen sei, daß aber die Rationen bereits gekürzt werden mußten, weil die Zahl der Bedürftigen um weitere 100.000 gestiegen ist. Häuser befürchtet, daß sich die Zahl von derzeit einer Million Menschen, die durch die Tafeln vom Hungern bewahrt werden, in kurzer Zeit verdoppeln wird. Wächst die Arbeitslosenzahl weiter, so Häuser, werden spätestens im Jahre 2010 noch sehr viel mehr Menschen auf Hilfen angewiesen sein - Hilfen, die eigentlich aufgrund des im Grundgesetz an unveränderlicher Stelle verankerten Sozialstaatsprinzips von den Einrichtungen der staatlichen Daseinsvorsorge geleistet werden müßten, dies aber nicht werden.

Ohne die Bereitschaft von rund 40.000 Menschen, die bundesweit in ehrenamtlicher Tätigkeit die tägliche Arbeit in den Tafeln leisten, stünde die Bundesrepublik schon heute vor einer Hungerkatastrophe, von der aus naheliegenden Gründen kein verantwortlicher Politiker Notiz zu nehmen scheint. Die Interessenlage auf Regierungsseite, sei es auf Länder- oder Bundesebene, liegt primär in der sicherheitspolitischen Bewältigung einer allgemeinen Mangellage, die durch den Hunger und die Armut, die sie hervorbringt, eben auch die "Gefahr" von Hunger- und Armutsprotesten mit sich bringt. Auf der gegenwärtigen Tagung des Bundesverbandes Deutsche Tafel sind etliche Politiker zugegen, um sich die Forderungen der Sprecher und Tafel-Delegierten anzuhören. Mit Sicherheit werden sie sich diese Gelegenheit, durch fortgesetzte Heilsversprechen zur Stabilisierung der innenpolitischen Verhältnisse beizutragen, nicht entgehen lassen - wohlwissend, daß die ordnungshygienische Wirksamkeit solcher Winkelzüge nur zeitlich begrenzt sein kann.

12. Juni 2009