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DILJA/1133: Generalstreik in Frankreich - noch reicht der Protest an 1968 nicht heran (SB)


März 2009 - Generalstreik und Demonstrationen in ganz Frankreich

Mai 1968 - Arbeiter- und Studenten-Revolte schlägt de Gaulle in die Flucht


Für bundesdeutsche Verhältnisse müssen die landesweiten Proteste in Frankreich, die am Donnerstag vergangener Woche Millionen Menschen auf die Straßen und das öffentliche Leben weitgehend zum Erliegen gebracht haben, schon anmuten, als stünde "die Revolution" vor der Tür und als sei die öffentliche Ordnung in Frage gestellt und gefährdet. Davon kann in Frankreich beileibe nicht die Rede sein, auch wenn die Regierung Sarkozy eine weitere Radikalisierung der landesweiten Protestbewegung befürchten mag. Den Appellen der acht größten Gewerkschaften, die den 19. März 2009 zu einem "Journée d'action nationale", einem nationalen Aktionstag, erklärt und für diesen Tag im ganzen Land zu einem Generalstreik aufgerufen hatten, waren Millionen Menschen gefolgt. Umfragen zufolge haben sich drei Viertel der französischen Bevölkerung mit dem Streik solidarisiert; und immerhin noch 62 Prozent sind mit der Sozial- und Krisenpolitik der Regierung Sarkozy nicht einverstanden.

Millionen Beschäftigte im öffentlichen Bereich wie auch in privaten Unternehmen legten die Arbeit nieder; an Demonstrationen, die an über 200 Orten durchgeführt wurden, beteiligten sich Hunderttausende. Es waren die stärksten Proteste in Frankreich seit zehn Jahren. Im Zentrum von Paris versammelten sich nach Gewerkschaftsangaben allein 350.000 Menschen an diesem "Tag der Wut", einer Wut, die in Reaktion auf die von der überwiegenden Mehrheit der Franzosen als sozialfeindlich abgelehnten Regierungspolitik durch die jüngste Bekanntgabe Sarkozys, daß die Regierung aus Mangel an finanziellen Möglichkeiten keine weiteren Sozialmaßnahmen mehr beschließen würde, noch zusätzlich angeheizt worden war. Am Streiktag blieben die meisten Schulen und Kindergärten und - bis auf eine Notversorgung - auch die Krankenhäuser geschlossen, staatliche Stellen, Ämter, Verwaltungs-, Post- und Sozialdienste hatten gar nicht erst geöffnet.

Nach Polizeiangaben beteiligten sich 1,2 Millionen, nach Angaben der Gewerkschaften sogar drei Millionen Menschen an den Streiks und Massenkundgebungen, die im Kern von der Regierung Schutz vor den Auswirkungen der Wirtschaftskrise fordern und deshalb eine Verbesserung der allgemeinen Kaufkraft sowie eine Sicherung der Arbeitsplätze verlangen. Diese Forderungen bergen für sich genommen nicht einmal den Funken einer Revolte in sich, die dem Land gleichwohl bevorstehen könnte. Die protestierenden Menschen erwarten von der Regierung Sarkozy nichts anderes, als daß sie "ihren Job" macht und ein Mindestmaß an sozialer Sicherung gewährleistet in einer Zeit, in der die sozialen Spannungen zwischen den Eliten und der infolge der sogenannten Krise an allererster Stelle in ihrer materiellen Existenz gefährdeten verarmten Bevölkerung zwangsläufig zunehmen müssen.

Bereits am 29. Januar 2009 hatte es eine Massenmobilierung in ganz Frankreich gegeben, bei der in vergleichbarer Weise demonstriert worden war, wie weit verbreitet der Unmut über die Regierungspolitik bereits ist. An jenem "schwarzen Donnerstag" hatten nach Regierungsangaben 1,08 Millionen Beschäftigte die Arbeit niedergelegt, während die Gewerkschaften von Streiks überwiegend im öffentlichen Sektor berichteten, die von 2,5 Millionen Menschen durchgeführt worden waren. Die Forderung nach einer grundlegenden Änderung der Regierungspolitik wurde im Januar schlichtweg ignoriert mit der Folge, daß sich nun noch mehr Menschen den landesweiten Protesten sowie dem ausgerufenen Generalstreik angeschlossen haben.

Noch könnte man den gewerkschaftlich fest organisierten Protest auch als einen Test mit der Fragestellung begreifen, ob sich der allgemeine Unmut noch in Bahnen kanalisieren läßt, die der Regierung, vom Streiktag mal abgesehen, auch weiterhin einen reibungslosen Ablauf ihrer sozialfeindlichen Politik ermöglichen, wenn, wie abzusehen ist, die Regierung auch diesmal nicht auf die Forderung nach einem Kurswechsel eingehen wird. So betonen die großen Gewerkschaften, daß sie zwar eine andere Sozialpolitik des Staates fordern, sich aber "partnerschaftlich" dem Reformprogramm verbunden fühlen. Daneben haben sich jedoch kleinere Gewerkschaften schon so weit radikalisiert, daß sie nicht per se jegliche Konfrontation mit der Regierung auszuschließen bereit sind und gegebenenfalls für die Durchsetzung ihrer Forderungen mehr Druck ausüben würden.

An den Universitäten ist eine ebenfalls bereits radikalisierte Linke in Erscheinung getreten, die zu Brennpunkten der sozialen Proteste geworden ist und den Schulterschluß mit den Gewerkschaften sucht. Spätestens an dieser Stelle werden Erinnerungen an die soziale Revolte vom Mai 1968 in Frankreich wachgerufen. Auch wenn die heutigen Protestformen noch längst nicht an die damalige Entwicklung heranreichen, kann überhaupt nicht ausgeschlossen werden - zumal eine soziale Befriedung nicht abzusehen ist, weil dies zumindest teilweise eine Erfüllung der Forderungen voraussetzen würde -, daß sich aus Generalstreik und Massenkundgebungen eine Situation entwickeln könnte, die der vor 41 Jahren vergleichbar ist.

Eine solche Entwicklung könnte die ohnehin schwindende Akzeptanz Sarkozys endgültig zum Versiegen bringen, zumal der amtierende Präsident die Unvorsichtigkeit begangen hat, den Versuch zu unternehmen, die damalige, von den meisten Franzosen mitgetragene, unterstützte und als positiv erlebte Erhebung zu denunzieren. Damit verprellt er sogar einen Teil seiner eigenen Wählerschaft, die heute konservativ wählt und gleichwohl ihren Kindern und Enkelkindern von der Atmosphäre und der Solidarität der Revolte von 1968 vorschwärmt. Tatsächlich hatte in Frankreich zu jener Zeit die wohl am weitesten fortgeschrittene Revolte der europäischen Nachkriegswelt stattgefunden, deren besondere Qualität in dem Schulterschluß zwischen klassischer Arbeiter- und rebellischer Studentenbewegung bestand.

Die damalige französische Regierung unter General de Gaulle hatte, als sie die Proteste der Studenten mit Polizeigewalt niederzuschlagen suchte, wohl nicht damit gerechnet, daß sich Millionen Arbeiter solidarisieren würden. Am 3. Mai 1968 hatte der Direktor der Universität Sorbonne eine Vollversammlung von der Polizei stürmen und die Studenten verhaften lassen. Drei Tage später mißachteten 20.000 Studenten ein generelles Demonstrationsverbot. Nach harten Auseinandersetzungen mit der Polizei gingen wiederum einen Tag später 50.000 Studenten auf die Straße. In der Folgezeit setzten die Studenten ihre Proteste Tag für Tag und Nacht für Nacht fort. Schüler schlossen sich ihnen an und schließlich, am 13. Mai, rief die der kommunistischen Partei nahestehende Gewerkschaft CGT aus Solidarität mit den Studentenprotesten zu einem Generalstreik auf.

Allein in Paris demonstrierten am 13. Mai eine Million Menschen gegen die Regierung. 300 Fabriken waren zu diesem Zeitpunkt von Arbeitern besetzt. Drei Tage später traten Hunderttausend Arbeiter in einen unbefristeten Streik, in dessen Verlauf Fabrikdirektoren eingesperrt wurden. Das Parlament beriet über Maßnahmen zur Sicherung der öffentlichen Ordnung, wie es hieß, und beschloß die Einberufung von 100.000 zusätzlichen Reservisten. Am 20. Mai 1968 stieg die Zahl der streikenden Arbeiter innerhalb weniger Stunden um Millionen an. Waren es am Morgen noch zwei Millionen Beschäftige, die sich am Ausstand beteiligten und die Industrieproduktion sowie den gesamten Verkehr lahmlegten, so waren es an Abend bereits 6 Millionen. Drei Tage später befand sich die Hälfte der Arbeiterschaft Frankreichs, zehn Millionen Beschäftigte, im Ausstand.

Die Gewerkschaften waren in dieser Situation nicht bereit, die Machtfrage zu stellen. Präsident de Gaulle suchte die Lage zu befrieden und kündigte am 24. Mai durch eine im Radio übertragene Botschaft - das Fernsehen befand sich bereits in Händen der Aufständischen - Reformen an zu dem Zweck, "mehr Mitbestimmung" zu erreichen. Ohne Erfolg. Drei Tage später - die zehn Millionen Streikenden waren mit den ihnen in Aussicht gestellten Lohnerhöhungen keineswegs zufrieden und streikten weiter - floh de Gaulle für zwei Tage nach Deutschland und hielt sich in Baden-Baden auf. In seiner Abwesenheit forderten 500.000 Franzosen seinen Rücktritt. Der Präsident löste stattdessen das Parlament auf und kündigte Neuwahlen an. In Ermangelung eines revolutionären Konzepts seitens der Aufständischen konnte de Gaulle durch diesen Schachzug die Streik- und Protestbewegung eindämmen und zum Erliegen bringen. Mitte Juni wurden alle revolutionären Studentenbewegungen verboten und ihre Anführer verhaftet, ohne daß dies noch zu Protesten seitens der traditionellen Arbeiterorganisationen geführt hätte.

Keine Frage, der Aufstand war beendet, und doch hinterließ er Spuren im Bewußtsein der Franzosen, die nun dazu beigetragen haben könnten, daß Frankreich der erste der westeuropäischen Staaten ist, in dem die zunehmende soziale Not eine Protestbewegung hervorgebracht hat, deren Radikalisierung die heutige Regierung Sarkozy gerade angesichts der spezifischen Widerstandsgeschichte Frankreichs mit Sicherheit schon weitaus mehr fürchtet, als sie es gegenüber der Öffentlichkeit freiwillig je zugeben würde.

24. März 2009