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DILJA/1132: Walter Jens - Das gute Gewissen der Nation versagt seinen Dienst (SB)


Diagnose Demenz - Walter Jens lebt ein anderes Leben

Das bundesdeutsche Bildungsbürgertum trauert um einen seiner renommiertesten Protagonisten


Geist und Materie, Intellekt und Gefühl, Kopf und Hand - die Liste vermeintlich zusammenhängender Begriffspaare, die im Kern nichts anderes ausdrücken als gesellschaftlich determinierte Herrschaftsverhältnisse, ließe sich beliebig fortsetzen. Das Prinzip der Herrschaft des Menschen über den Menschen hat in ihrer qualitativen Weiterentwicklung in einem hohen Maß ein sogenanntes Geistes- und Kulturleben entwickelt, das die vermeintlich gottgewollte und zumindest unabänderliche Diskrepanz zwischen einem gesellschaftlichen Oben und Unten widerspiegelt und zu einer höheren Ordnung erhebt. Die Vormachtstellung des Geistes, des Intellektes oder der Vernunft wird im allgemeinen fraglos akzeptiert, weil kaum noch die Frage aufgeworfen wird, ob nicht schon diese Begriffe Bestandteile und Instrumente gesellschaftlicher Herrschaftsstrukturen sein könnten, die ihrem Anspruch nicht nur nicht gerecht werden, sondern eigens dafür geschaffen wurden, um höchst eigennützige Interessen der gesellschaftlichen Elite und herrschenden Klasse zu überhöhen und durchzusetzen.

Intellektuelle wie der in Tübingen lebende Walter Jens, der wie nicht eben viele weitere Angehörige einer kritischen Intelligenz als moralisches Gewissen der gesamten Nation wahrgenommen wurde, haben in der Nachkriegsgeschichte und Gegenwart der Bundesrepublik Deutschland einen nicht unerheblichen Stellenwert eingenommen, eben weil sie nicht auf dem "Muff aus den Talaren", wie zur Zeit der Studentenbewegung die Kritik an Professoren und Universitäten auf einen kurzen Begriff gebracht wurde, bestanden. Walter Jens, laut wikipedia ein "deutscher Philologe, Literaturhistoriker, Kritiker, Hochschullehrer, Übersetzer und Schriftsteller", ist mit dieser Aufzählung in seinem kulturellen Schaffen nur unzureichend charakterisiert, weil er moralische Positionen eingenommen und besetzt gehalten hat, die in nicht unerheblichem Maße dazu beigetragen haben, den deutschen Universtäts- und Wissenschaftsbetrieb nach der Zeit des Hitler-Faschismus wieder ins rechte Lot zu rücken.

Jens gelang es, sich als "Schwimmer gegen den Strom" und Bewahrer des demokratischen Rechtsstaates zu behaupten. Er machte durch Aktionen auf sich aufmerksam wie die Beherbergung zweier US-Gefreiter, die sich zur Zeit des Golfkrieges von 1991 vor der US-Militärpolizei verstecken wollten. Jens machte aus seinem Standpunkt gegenüber diesem Krieg keinen Hehl und erklärte, es sei gespenstisch, "daß eine einzige Macht tun und lassen kann, was sie will dank ihrer ökonomischen und militärischen Stärke". Er würde wieder so handeln, erklärte der streitbare Publizist später. 1999 unterstützten seine Frau Inge Jens und er das ökumenische Kirchenasyl für eine fünfköpfige kurdische Familie in Furtwangen, das dieser entgegen der Abschiebeverfügung der baden-würtembergischen Landesregierung gegen den in der Türkei zuvor gefolterten kurdischen Familienvater von den römisch-katholischen, alt-katholischen und evangelischen Kirchengemeinden der schwäbischen Kleinstadt gewährt worden war.

In Hinsicht auf die Aufarbeitung der NS-Vergangenheit hatte Walter Jens stets die Forderung erhoben, daß die Beteiligten am Terror der Vergangenheit um der demokratischen Gegenwart und Zukunft der Republik willen sich ihrer Vergangenheit stellen und Erinnerungsarbeit leisten müßten. Als dann im Jahre 2003 eine Kartei mit den Namen von elf Millionen ehemaliger NSDAP-Mitglieder veröffentlicht wurde, in der sich auch der Name Walter Jens befand, stellte dies den Moralphilosophen vor ein für ihn schier unlösbares Problem. Er selbst hatte die Erinnerungsarbeit, der er von anderen verlangte, nicht geleistet und nicht einmal im engsten Familienkreis, will man den Ausführungen seines ältesten Sohnes, des Publizisten Tilman Jens, Glauben schenken, über seine Parteizugehörigkeit Auskunft gegeben.

Nach Einschätzung seines Sohnes, der der Demenz-Erkrankung seines Vaters ein eigenes Buch ("Demenz: Abschied von meinem Vater" [1]) widmete, legt die zeitliche Koinzidenz die Vermutung nahe, daß Walter Jens sich in Folge dieser von ihm als traumatisch erlebten Bloßstellung seiner Vergangenheit mehr und mehr zurückgezogen hat, bis er im Jahre 2004 als dement diagnostiziert wurde. Wie Tilman Jens in der Sendung "Der Talk" auf NDR Info am 22. März 2009 beschrieb, ist sein Vater nicht mehr in der Lage, in der ihm gewohnten Weise intellektuell tätig zu sein und sich sprachlich auszudrücken. Er gleiche vielmehr einem Kind, das viel weint, aber auch viel lacht und mit großer Freude auf einem Bauernhof Kaninchen füttert - was der alte, asthmakranke Walter Jens wohl zeit seines Lebens nicht getan hätte.

Die Tragödie des Intellektuellen Walter Jens, der für alle, die ihn kannten und schätzten, nicht mehr als die ihnen vertraute Person existiert, scheint in erster Linie die der ihn umgebenden Menschen zu sein. Tilman Jens beantwortete die Frage der Moderatorin, ob denn bei Demenz-Erkrankungen die Betroffenen oder deren Angehörigen "mehr" leiden würden, daß dies wohl ein vor allem für die Familie, nicht jedoch unbedingt für seinen Vater ein qualvoller Prozeß sei.

Tatsächlich kann keineswegs ausgeschlossen werden, daß sich Walter Jens der gesellschaftlichen Position, die er selbst mit so großer Mühe und Akribie aufgebaut und eingenommen hatte, sowie den daraus resultierenden Zwängen und Verpflichtungen auf eine Weise entzogen hat, die von Außenstehenden als Demenz bezeichnet wurde durch die Radikalität und Unumkehrbarkeit, mit der sich Jens bis in die Sphäre vermeintlich ureigenster Individualität, sprich Persönlichkeit und Charakter, verändert hat.

Walter Jens hat als Gewissen der Nation seinen Dienst quittiert, und es sei dahingestellt, ob die Demenz, von der über eine Million Menschen in der Bundesrepublik betroffen sind, nicht einer zum Krankheitsbild definierten körperlichen wie seelischen - wer wollte hier eine Unterscheidung treffen? - Abwehr- und Fluchtreaktion gleichkommt, die als Symptom fundamentalster Fremdbestimmung und gesellschaftlicher Vereinnahmung einem Menschen wie Walter Jens nicht sogar den Hauch eines Freiraumes bietet, den der heute 86jährige, wäre er nicht so schwer und nach vorherrschender Auffassung unumkehrbar erkrankt, schon aufgrund seiner innigsten Verstrickung mit der Maske seines überragenden und als phänomenal gepriesenen Intellekts niemals für sich hätte realisieren können.

[1] Demenz: Abschied von meinem Vater, von Tilman Jens, Gütersloher Verlagshaus, Gütersloh 2008, ISBN-10 3579069985 ISBN-13 9783579069982, gebunden, 141 Seiten

24. März 2009