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DILJA/1112: Afghanistan-Krieg - Tote Zivilisten lassen sich nicht verheimlichen (SB)


NATO-Krieg in Afghanistan nicht mehr gewinnbar

Mit jedem getöteten Zivilisten schwindet die Akzeptanz des Besatzungskrieges und der Besatzer in Afghanistan


Barack Obama, neuer US-Präsident und Oberbefehlshaber über die größte Militärstreitmacht der Welt, sowie sein Konkurrent, der republikanische Wahlverlierer, Senator John McCain, waren sich auch im heißesten Wahlkampf in einem Punkt einig: Der Krieg in Afghanistan muß intensiviert werden. Am Dienstag ließ Obama seinen Ankündigungen erste Taten folgen - er stimmte der Entsendung von 17.000 weiteren US-Soldaten in das Land am Hindukusch zu. Nach Angaben des Pentagon sollen Ende des Frühjahrs 8.000 Marine-Infanteristen nach Afghanistan verlegt werden. Im Sommer werden weitere 4.000 und zu einem späteren Zeitpunkt noch einmal 5.000 Soldaten hinzukommen. General David McKiernan, oberster US-Kommandeur in Afghanistan, hatte ursprünglich zusätzlich zu den bereits 38.000 im Land stationierten weitere 30.000 US-Soldaten verlangt. Noch vor wenigen Tagen war mit der Entsendung von drei Brigaden mit bis zu 12.000 Soldaten gerechnet worden.

Von einer Befriedung der Lage sind die US- bzw. westlichen Streitkräfte in dem seit nunmehr sieben Jahren von ihnen besetzten Afghanistan allem Anschein nach weiter entfernt denn je. Die tatsächliche militärische Lage scheint sogar aus westlicher Sicht so desaströs zu sein, daß die jetzt beschlossenen Truppenverstärkungen - US-Präsident Obama dringt auch bei den Verbündeten auf eine Intensivierung des militärischen Engagements - keineswegs aus einer Position eigener Stärke heraus erfolgen, sondern Notmaßnahmen gleichkommen, um ein militärisches Debakel zu vermeiden. Die Truppenentsendung sei notwendig geworden, "um die sich verschlechternde Lage zu stabilisieren", erklärte denn auch US-Präsident Obama zur Begründung. Gegenüber der staatlichen kanadischen Rundfunkanstalt CBC zeigte sich der neue Präsident gleichwohl bemüht, einen siegesgewissen Eindruck zu vermitteln:

Ich bin absolut überzeugt davon, daß wir die Probleme in Afghanistan, mit den Taliban und die Ausbreitung des Extremismus in dieser Region nicht alleine mit militärischen Mitteln in den Griff kriegen.

Daraus ließe sich, wenn auch indirekt, das Zugeständnis herauslesen, daß mit militärischen Mitteln (allein) der Krieg in Afghanistan nicht zu gewinnen sei. Daß Obama als weitere Mittel "Diplomatie" und "Entwicklungshilfe" nannte, kommt dem verkappten Eingeständnis gleich, daß es im Land selbst um die Akzeptanz der Besatzungstruppen schlecht bestellt ist und daß deshalb Maßnahmen ergriffen werden müssen, um die Zuneigung oder doch zumindest eine stillschweigende Akzeptanz der westlichen Streitkräfte durch die einheimische Bevölkerung zu erwirken. Dabei schlägt besonders negativ zu Buche, daß die US-Streitkräfte seit geraumer Zeit die Warnungen des von den Westmächten eingesetzten afghanischen "Präsidenten" Hamid Karsai ignoriert haben. Dieser hatte, zuletzt zusammen mit dem Generalsekretär der Vereinten Nationen, Ban Ki Moon, immer und immer wieder Kritik an der rücksichtslosen Kriegführung der Westmächte vorgebracht, ohne diese jedoch zu einem sensibleren Umgang mit der afghanischen Zivilbevölkerung bewegen zu können.

Auf einer von beiden am 4. Februar in Kabul abgehaltenen Pressekonferenz hatte Karsai den westlichen "Partnern" seines Landes sogar vorgeworfen, sie würden Druck auf ihn ausüben, damit er die Frage der getöteten Zivilisten nicht mehr anspreche. "Sie drängen uns, um uns zum Schweigen zu bringen, damit wir von unseren Forderungen Abstand nehmen", so Karsai [1]. Einem angeblich geheimen Bericht sämtlicher US-Geheimdienste zufolge, über dessen Inhalte gleichwohl bereits im Oktober vergangenen Jahres von der New York Times erste Andeutungen unter Bezugnahme auf nicht namentlich genannte Geheimdienstmitarbeiter veröffentlicht wurden, sollen sich die Dienste in der Einschätzung, daß Karsai nicht mehr lange zu halten ist, einig sein. Dabei haben die westlichen Staaten ihren Vasallen eigenhändig in eine unauflösbare Zwickmühle manövriert. Hätte er nicht zumindest den Versuch unternommen, gegen die wiederholten Angriffe westlicher Militärs auf Zivilisten zu protestieren, hätte er jegliches Ansehen, das er vor der afghanischen Bevölkerung noch genießen könnte, eingebüßt.

Nun wurden von anderer Seite Zahlen über getötete Zivilisten im Afghanistan-Krieg veröffentlicht, die mit den Karsais Vorwürfen zugrundeliegenden Fakten im wesentlichen übereinstimmen. Nach Angaben der Vereinten Nationen, die am Dienstag ihren jährlichen Bericht zum Schutz der Zivilbevölkerung vorgelegt haben, ist die Zahl der in Afghanistan getöteten Zivilisten im vergangenen Jahr drastisch, genauer gesagt um 40 Prozent, angestiegen. Von den insgesamt 2.118 gewaltsam getöteten Menschen seien nach UN-Angaben 829 durch US-, NATO- oder afghanische Truppen ums Leben gekommen und 1.160 durch Aufständische. Die hohe Zahl der durch die Besatzungsstreitkräfte getöteten Menschen, so ist dem Bericht zu entnehmen, hätte immer wieder zu Spannungen zwischen der afghanischen Regierung Karsais und den westlichen Staaten geführt. Doch nicht nur die Vereinten Nationen, auch die US-Menschenrechtsorganisation CIVIC (Kampagne für unschuldige Opfer in Konflikten) veröffentlichte am Dienstag Zahlen und Fakten zu diesem Thema. Nach CIVIC-Angaben verliert die "internationale Koalition in Afghanistan mit jeder getöteten Zivilperson mehr Unterstützung in der Bevölkerung".

Dies wird fraglos zutreffen und rief bereits russische Militärexperten auf den Plan, die auf die inzwischen überdeutlich hervortretenden Parallelen zwischen der sowjetischen Besatzung Afghanistans und der aktuellen durch den Westen hinwiesen. Ruslan Auschew, ehemaliger Generalleutnant in der Roten Armee, erläuterte, daß die Sowjets, als sie 1979 nach Afghanistan gekommen seien, zunächst freundlich begrüßt, dann aber von der Bevölkerung mehr und mehr gehaßt worden wären - und am Ende, als sie abzogen, seien sie von 90 Prozent der dort lebenden Menschen gehaßt worden. Jetzt allerdings sieht es ganz danach aus, als könnte den US-Streitkräfte dasselbe militärische Fiasko bevorstehen, in das sie die Sowjets seinerzeit durch ihr geschickt eingefädeltes Intrigenspiel mit dem Ansinnen, den Russen in Afghanistan "ihr Vietnam" zu bescheren, gelockt hatten. So sehen westliche Militärexperten schon die Gefahr, daß die Hauptstadt Kabul von den Aufständischen, die aller Voraussicht nach im Frühjahr ihre Angriffe noch intensivieren werden, eingekesselt werden könnte - mit unabsehbaren Folgen für die Besatzer.

Diesen droht jedoch nicht nur Ungemach durch eine mehr und mehr feindselige Haltung der Bevölkerung in Afghanistan selbst. Durch die Kriegsopfer auf Seiten der afghanischen Zivilbevölkerung, unter deren Toten sich Frauen und Kinder, ja ganze Familien und Hochzeitsgesellschaften befinden, schwindet nicht nur die Akzeptanz der Besatzungsstreitkräfte im Land am Hindukusch, sondern auch in den Ländern der truppenstellenden Staaten. In diesen sind die Bevölkerungen zu einem erheblichen Teil desinformiert über das tatsächliche Kriegsgeschehen im fernen Afghanistan, und die NATO-Staaten sind aus naheliegenden Gründen sehr daran interessiert, daß dies auch so bleibt. Aus diesem Grunde wurde, wie die britische Zeitung "The Sun" am 4. Februar berichtete, ein britischer Offizier, der in Afghanistan im Einsatz gewesen war, unter dem Verdacht, ein Dienstgeheimnis verraten zu haben, verhaftet.

Der britische Offizier Owen McNally soll Zahlen über die von der NATO in Afghanistan getöteten Zivilisten, zu denen er Zugang gehabt hatte, an eine Mitarbeiterin einer westlichen Menschenrechtsorganisation "verraten" haben. Laut Sun sollen sich diese Zahlen im Rahmen von über "mehr als 1000 unschuldigen Afghanen" [1], die seit 2001 pro Jahr von den westlichen Besatzern getötet wurden, bewegt haben. Die Zahl der getöteten Zivilpersonen könnte, wie Menschenrechtsorganisationen mutmaßen, tatsächlich noch weitaus höher sein, doch das spielt für McNally keine Rolle. Er wurde nach Britannien verbracht, wo ihm nun der Prozeß gemacht werden soll. Ihm drohen ob dieses vermeintlichen Verrats militärischer Dienstgeheimnisse bis zu 14 Jahre Haft - womit offenbart wird, mit welch drakonischen Mitteln die NATO-Staaten bereit sind, ihre Kriegführung in Afghanistan auch im Verhältnis zu ihren eigenenBevölkerungen fortzusetzen und aufrechtzuerhalten.

[1] Zitiert aus: "Tote sind Verschlußsache", von Rüdiger Göbel, junge Welt, 5.2.2009, Seite 1

18. Februar 2009