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LAIRE/1333: Obdachlos - Prozeßlogik Arbeitslager ... (SB)



Seit Jahren darf in Ungarn Obdachlosigkeit bestraft werden. Bereits 2012 hatten die Vereinten Nationen die Regierung aufgefordert, die entsprechenden Rechtsvorschriften zu überdenken. Das vorläufig letzte Ergebnis des anhaltenden Denkprozesses sieht allerdings vollkommen anders aus, als es sich damals der UN-Sonderberichterstatter für extreme Armut und Menschenrechte und die UN-Sonderberichterstatterin für das Recht auf angemessene Unterkunft vorgestellt hatten: Am 20. Juni 2018 segneten die ungarischen Parlamentarier die nunmehr siebte Novelle des Grundgesetzes ab, nach der fortan verboten ist, den öffentlichen Raum für den gewöhnlichen Aufenthalt zu nutzen. Obdachlose dürfen nicht auf Straßen oder anderen öffentlichen Plätzen leben und übernachten. Vor wenigen Tagen wurde erstmals ein Wohnungsloser für sein "Vergehen", obdachlos zu sein, bestraft.

Der sogenannte öffentliche Raum, das wird an diesem Beispiel deutlich, ist nichts anderes als eine Gunst der Obrigkeit, die willkürlich gewährt oder genommen werden kann. Das gilt für Ungarn wie für andere Länder. Ohne das ungarische Handeln relativieren zu wollen, ist festzustellen, daß auch in deutschen Städten Obdachlose aus bestimmten Straßen, Gegenden oder Innenstädten verbannt werden. Auf Basis des gleichen Rechtsverständnisses treibt Ungarn die Repression allerdings um Längen voran.

Ungarn provoziert eine auf den ersten Blick absurde Situation: Der Staat bietet nur 11.000 Plätze für Obdachlose an, in dem Land leben aber schätzungsweise 20.000 Menschen auf der Straße. Diese offenkundige Diskrepanz scheint jedoch zu einem von der rechtsextremen Regierung längerfristig angelegten Kalkül zu gehören, könnten doch die Menschen, die in Ungarn keine Bleibe finden, eher geneigt sein, auf andere Länder, die zur Zeit weniger repressive Bestimmungen erlassen haben, auszuweichen. Das wäre aus Sicht von Ministerpräsident Victor Orbán sicherlich nicht unerwünscht, könnte aber in den Zielländern der Migration zu ähnlichen Bestimmungen führen.

Da nicht damit zu rechnen ist, daß Ungarns Regierung trotz Sanktionsandrohungen der EU das Gesetz zurücknimmt, drängt sich eine weitere "Lösung" des Problems geradezu auf. Im nächsten Schritt könnte die Regierung erklären, sie habe eingesehen, daß das so nicht geht, und deshalb beschlossen, allen Obdachlosen eine Unterkunft zu verschaffen. Wer sich trotz dieses großzügigen Angebots noch auf der Straße aufhalte, müsse dann allerdings ein Einsehen in seine Bestrafung haben.

Vermutlich werden diese Obdachlosenunterkünfte anfangs noch frei zugänglich sein. Niemand würde gezwungen, sie aufzusuchen. Aber wer diese "Gunst" in Anspruch nimmt, würde aufgefordert, ein bißchen davon zurückzugeben, was ihm der Staat geschenkt hat. Da von Obdachlosen nichts zu holen ist außer ihrer Physis, werden sie angehalten, Arbeiten zu verrichten. Empörte Erklärungen von Menschenrechtlern, daß es sich bei diesen Unterkünften um eine Art von Arbeitslagern handele, dürfte Ungarns Regierung mit dem Argument kontern, daß niemand gezwungen werde, in den Sammelunterkünften zu leben. Doch wenn er es täte, sei eine kleine Gegenleistung nicht zu viel verlangt. Es könne ja wohl nicht angehen, den ganzen Tag auf der faulen Haut zu liegen und sich rundum versorgen zu lassen ...

In solchen Sammelstellen wird körperliche Gewalt seitens der Wächter wie auch der Insassen keine Seltenheit sein. Das ergibt sich allein schon aus der Enge und Perspektivlosigkeit, in der die Menschen geworfen werden, sowie aus dem ihnen eigenen Streben nach Vorteilen gegenüber Artgenossen. Wäre es nicht so, könnten sich all die Orbán dieser Welt mit ihrer Politik nicht durchsetzen.

Vielleicht genügen ein, zwei Vorfälle in solch einer Sammelunterkunft, bei denen jemand schwer zu Schaden kommt, um der Regierung den nötigen Vorwand zu liefern, strengere Verhaltensregeln durchzusetzen und die Bewegungsfreiheit weiter einzuschränken. Selbstverständlich nur, um Schaden von den Obdachlosen abzuwenden und den ordnungsgemäßen Betrieb sicherzustellen. Mittels Ein- und Ausgangskontrollen, möglicherweise irgendwann auch der Vergabe oder Verweigerung von Passierscheinen, wird man die Kriminalität vorgeblich einzudämmen versuchen, tatsächlich jedoch kanalisieren und kontrollieren. Das wäre mehr als nur ein halber Schritt in Richtung Arbeitslagerhaltung.

Bei der Vorstellung, daß der öffentliche Raum für jeden Menschen frei zugänglich zu sein habe und deshalb die ungarische Regierung so ein Gesetz nicht erlassen dürfe, wird die fundamentale Zwangslage verkannt, in der sich die übergreifenden Gesellschaften zugeordneten Menschen grundsätzlich befinden.

Der Begriff des öffentlichen Raums und seine administrative Anwendung waren seit jeher von Einschränkungen bestimmt. Was einst innerhalb der Stadtmauern oder innerhalb der Burgmauern zu tun oder zu unterlassen war, legten die feudalistisch, absolutistisch, kolonialistisch, imperialistisch oder sonstwie -istisch herrschenden Kräfte fest. Sie reklamieren den Gewaltanspruch für sich, ob er nun un- oder dreigeteilt ist, macht zwar in seiner Ausprägung einen Unterschied, nicht jedoch hinsichtlich des grundlegenden Gewaltverhältnisses, in dem der vergesellschaftete Mensch das ihm zugestandene Leben fristen darf. Der öffentliche Raum und sein Gegenstück, das Private, sind zwei Seiten einer Medaille, die von den immer gleichen Kräften ausgegeben und bei Bedarf wieder eingesammelt wird.

19. Oktober 2018


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