Schattenblick → INFOPOOL → POLITIK → MEINUNGEN


LAIRE/1307: Autonomes Töten durch das Auto von morgen (SB)


Weltbild programmiert

Selbstfahrende Autos sollen die Insassen, nicht die Fußgänger schützen


Die Umstellung des Individualverkehrs von Autos, die bisher von Personen gesteuert werden, auf automatische Fahrzeuge, deren Fahrverhalten vorprogrammiert ist, wird auch das Menschenbild verändern. Nicht das Individuum wird darüber entscheiden, ob in einer Gefahrensituation die Bremse bedient oder ein Ausweichmanöver gefahren wird, sondern ein Algorithmus. Gewiß kann man nicht von einer grundsätzlich neuen Entwicklung sprechen, denn jeder, der sich in ein Auto setzt, weiß, daß es ihm Geschwindigkeiten der Fortbewegung ermöglicht, die ihn und andere im Straßenverkehr in tödliche Situationen bringen kann.

Nun hat sich aber der Autokonzern Daimler dafür entschieden, selbstfahrende Autos so zu programmieren, daß im Zweifelsfall das Leben des oder der Insassen geschützt wird, nicht aber das Leben der anderen Verkehrsteilnehmenden. Daimler-Manager Christoph von Hugo, zuständig für Fahrassistenzsysteme und Aktive Sicherheit: "Wenn man sicher weiß, dass man zumindest das Leben eines Menschen retten kann, dann sollte man wenigstens das tun. Rette den Menschen im Auto. Wenn man sich nur dieser einen Sache sicher sein kann, dass man diesen einen Tod verhindern kann, dann sollte das die höchste Priorität haben." [1]

So würde ein Fahrzeug, das auf eine Gruppe Kinder auf der Fahrbahn zurast, auch dann eine Bremsung einleiten, wenn das Auto absehbar nicht rechtzeitig zum Stehen kommt, also Kinder treffen wird, die Insassen aber durch das Bremsmanöver gerettet werden könnten. Die denkbare Alternative, das Auto vor einen Baum zu lenken oder den Abhang hinabzusteuern, so daß die Insassen sterben, die Kinder aber gerettet werden, würde solch ein Algorithmus dann nicht mehr zulassen. Sicherlich würden sich auch Individuen so entscheiden, aber eben nicht unter allen Umständen. Die Option, sich anders entscheiden zu können, käme nicht mehr vor. Das Fahrverhalten wäre vorgezeichnet.

Es ist völlig offensichtlich, daß bei Daimler (und auch anderen Autokonzernen, deren selbstfahrende Autos wohl kaum anders programmiert werden) die Ökonomie den Ton angibt. Selbstfahrende Autos würden sich viel schwerer verkaufen lassen, wären sie nicht so programmiert, daß sie die Insassen schützen. Wer möchte sich schon in ein Auto setzen, von dem er weiß, daß es ihn im Zweifelsfall in den Abgrund lenkt?

Bei der Einführung des Autos, das noch gar kein Auto im heutigen Verständnis war, wurden die Fahrer, die Fußgänger überfahren und tödlich verletzt haben, noch wegen Mordes angeklagt. Es gelang den Autokonzernen jedoch recht schnell mittels gezielter PR-Kampagnen, den Schwarzen Peter an die Fußgänger weiterzugeben. Sie hätten sich nicht korrekt verhalten und würden ihren Tod selbst verschulden, wenn sie so unaufmerksam sind, einfach über die Straße zu gehen, ohne nach rechts und links zu schauen, wurde argumentiert. Eine Einstellung, die übrigens auch auf Tiere angewendet wird, die jedes Jahr zu zig Millionen allein auf deutschen Straßen totgefahren werden.

Die heutige Autolobby weiß ihre Interessen nicht weniger geschickt zu vertreten als einst. So erklärte von Hugo, daß die Zahl der Unfälle im Straßenverkehr zurückgehen wird, je mehr autonome Fahrzeuge daran teilnehmen. "99 Prozent unserer Arbeit konzentriert sich darauf, dass solche Situationen gar nicht erst entstehen. Wir glauben, dass diese ethische Frage letztendlich gar nicht so relevant sein wird, wie die Menschen heute glauben."

Was heißt "so relevant"? Mit dieser Formulierung wird eine fundamentale ethische Frage relativiert. Von Hugo versucht hier, eine qualitative Frage in eine quantitative umzuwandeln. Selbstverständlich ist die Frage relevant, wer über Leben und Tod entscheidet, das Individuum am Lenkrad oder Daimler. Die Frage, ob das viele oder wenige Situationen betreffen wird, ist zweitrangig.

Dabei ist das Argument von Hugos in anderer Hinsicht durchaus schlagkräftig. Wenn man all die Unfälle aus der Statistik abzieht, die heute noch unter Einfluß von Alkohol, Drogen, Müdigkeit, überhöhter Geschwindigkeit, Unkonzentriertheit und Fehleinschätzung der Gefahrensituation stattfinden, dann kann man mit einiger Berechtigung annehmen, daß die Zahl der Verkehrstoten, wenn die Menschen in selbstfahrenden Autos von A nach B gebracht werden, sinken wird.

Bei dieser Vorteilserwägung wird allerdings der Individualverkehr weiterhin als unverzichtbar vorausgesetzt. Die Wirtschaft ist längst dabei, ihren systemimmanenten Wachstumshunger dadurch zu stillen, daß sie einen technologischen Umbau forciert, bei dem robotische Systeme mit weitreichender Autonomie ausgestattet werden. Theoretisch denkbar wäre ja auch, technologischen Fortschritt darin zu sehen, daß der Mensch nach dem Zeitalter der fossilen Energiesysteme nicht auf die Elektrifizierung des Individualverkehrs in der autonomen Variante setzt, sondern darauf, andere Verkehrssysteme und womöglich auch vollkommen andere Produktionsverhältnisse zu schaffen.

Im Luftverkehr wurde die gleiche Richtung, wie sie jetzt bei der geplanten Einführung der selbstfahrenden Autos favorisiert wird, ebenfalls eingeschlagen: Kriegsdrohnen werden zwar noch immer von Menschen gelenkt, aber nach welchen Kriterien diese auf den Feuerknopf drücken und dadurch Leben auslöschen und welche Kriterien ihnen vorenthalten werden, wurde weitgehend vorprogrammiert.

In Zukunft werden Algorithmen das Leben der Menschen noch mehr bestimmen, als sie es zweifelsohne heute bereits tun. Je mehr Lebensbereiche dies betrifft - und der Individualverkehr könnte sich in der Hinsicht als Innovationsmotor erweisen -, wächst die Akzeptanz, daß Entscheidungen, die bisher persönlich getroffen wurden, bereits an anderer Stelle, nämlich bei der Programmierung, vorweggenommen wurden. Dadurch dürfte die Bereitschaft des Menschen, sich schicksalhaft allen als höherwertig angesehenen Instanzen zu unterwerfen, erheblich verstärkt werden.


Fußnote:

[1] http://www.gruenderszene.de/automotive-mobility/daimler-selbstfahrende-autos-unfall-schuetzen

16. Oktober 2016


Zur Tagesausgabe / Zum Seitenanfang