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LAIRE/1259: Imagination von Nahrung - neue Methode im Kampf gegen Hunger? (SB)


Habituierung statt Haptik - Gedanken an Essen sollen Zugriff auf Essen ersparen


Fast eine Milliarde Menschen hat chronisch nicht genügend zu essen, weitere zwei Milliarden gelten als so arm, daß ihnen Hunger kein Fremdwort ist. Angesichts eines solchen Ausmaßes an Nahrungsmangel und ungenügendem Zugang zu Nahrung sind innovative Ideen gefragt. Als geradezu genial erwies sich die Behauptung, daß Hungern das Leben verlängert. Das hatten Wissenschaftler schon vor längerer Zeit in Versuchen an Ratten herausgefunden. Denjenigen Nagern, die den ganzen Tag einen Hungerast schoben, war ein längeres Leben beschieden als denjenigen, denen stets ausreichend Nahrung zur Verfügung stand.

Was im Tierversuch gilt, sollte eigentlich auf den Menschen übertragbar sein, könnte man meinen. Doch weit gefehlt. Ein global angelegter, geradezu tabuisierter Menschenversuch beweist, daß Hunger zu keiner Verlängerung des Lebens führt, jedenfalls nicht das derjenigen, die den Hunger erleiden (wohl aber jenen, die von den gesellschaftlichen Verhältnissen profitieren). Die durchschnittliche menschliche Lebenserwartung liegt in den ärmeren Ländern, in denen viele Einwohner hungern, deutlich unter der in den wohlhabenderen Staaten. Ein vergleichbarer Effekt ist selbst innerhalb Deutschlands zu beobachten: Arme sterben im Durchschnitt neun Jahre früher als Reiche. Was auch immer die Forscher mit den satten Ratten anstellten, daß sie früher starben als ihre darbenden Artgenossen, in der menschlichen Sphäre herrschen unübersehbar andere Verhältnisse vor. Dort gilt: Wer hungert, stirbt früher.

Vor einigen Tagen berichteten Wissenschaftler der Carnegie Mellon Universität (CMU) im Magazin "Science" von einem ganz anderen Ansatz, wie der Nahrungsverbrauch reduziert werden könnte. Ihrer Studie zufolge essen Menschen, die vor der Mahlzeit ausgiebig das Essen imaginieren, weniger. Bislang herrschte in der Fachwelt die Ansicht vor, daß der Gedanke an Essen Hungergefühle auslöst. Nun gilt, wer eine Diät machen will, sollte sich die Nahrung in großer Menge vorstellen, die er zu sich nehmen will, damit er am Ende weniger ißt. "Unsere Resultate zeigen, dass es grundsätzlich verkehrt ist, die Gedanken an begehrte Speisen zu unterdrücken, um seinen Appetit zu zügeln", erklärte Carey Morewedge, Professor für Sozial- und Entscheidungswissenschaften und Hauptautor der Studie, laut der Internetseite scinexx.de (10.12.2010). Und Co-Autor Joachim Vosgerau ergänzte: "Zu einem gewissen Grad ist die reine Vorstellung einer Erfahrung ein Ersatz für tatsächliche Erfahrung. Der Unterschied zwischen mentaler Vorstellung und tatsächlicher Erfahrung mag sehr viel kleiner sein als bisher angenommen."

Könnte man nach dieser, wie die Forscher behaupten, "bahnbrechenden Entdeckung" nicht die Entwicklungshilfe neu konzeptionieren? Immerhin sollte man annehmen, daß Menschen, die ein Diätproblem haben, hungernden Menschen näher sind als beispielsweise Ratten - oder nicht? Anstatt also den Menschen in den Armutsregionen weiterhin vorzugaukeln, man kümmere sich um sie, werde ihnen Nahrung bringen und sie im Aufbau von Strukturen unterstützen, damit sie in den Stand versetzt werden, selbst genügend Nahrung herzustellen, verteilt man in Zukunft in den Entwicklungsländern palettenweise Imaginationshilfen in Form von Koch-, Back- und sonstigen Hochglanz-Essensmagazinen. Dann können sich die Menschen vorstellen, was sie alles essen würden, wenn sie es nur hätten, und das hülfe ihnen über den ärgsten Hunger hinweg.

Das sei eine zynische Idee, meinen Sie? Nun, dann schlagen Sie eine Alternative vor, wie anders zu einem solchen Thema wie dem globalen Hunger geschrieben werden könnte, wenn nicht mit einer Portion Zynik. Zugegeben, Zynismus stellt eine Variante des Vermeidens der ungeheuren Brisanz des Themas Hunger dar. Bitte, es ist Ihnen unbenommen, etwas anderes zu tun als zu vermeiden ...

15. Dezember 2010