Schattenblick →INFOPOOL →POLITIK → MEINUNGEN

LAIRE/1076: Guantánamo-Insassen - unschuldig und rückfällig geht nicht (SB)


Systemkonstant

Auch die neue US-Administration knetet Recht und Gesetz zwecks Herrschaftsicherung in Form


Die Annahme, daß die Existenz des US-Folterlagers Guantánamo fest mit der republikanischen Regierung von Präsident George W. Bush verbunden ist, erweist sich als Verkennung nicht nur des breiten gesellschaftlichen Konsenses in den USA, den die jahrelange extralegale Inhaftierung von mehreren hundert aus dem Ausland verschleppten Personen genießt, sondern auch der herrschaftsichernden Funktion der Einrichtung. Die ist zu einem sehr geringen Teil im Abpressen von Informationen zu verorten. Vielmehr demonstrieren die US-Eliten in Militär, Regierung und darüber hinaus mit dem Folterlager ihre Fähigkeit, sich straf- und folgenlos über das Gesetz zu stellen, das nur fürs gemeine Volk vorgesehen ist, und ihre Bereitschaft zu brutalstem, menschenverachtenden Vorgehen.

Der neue US-Präsident Barack Obama hatte zwar kurz nach seiner Amtsübernahme die Schließung des Gefangenenlagers binnen eines Jahres angekündigt, doch seitdem hat entweder er selbst Rückzieher von den Konsequenzen seiner Ankündigung gemacht - so wird das System der Militärtribunale zur Aburteilung der Gefangenen nicht aufgegeben; Folterbilder werden nicht veröffentlicht -, oder aber ihm werden seitens der Regierung und Opposition Steine in den Weg gelegt - Obama bekam seinen Vorschlag, einen Teil der Guantánamo-Gefangenen in den USA unterzubringen, zunächst nicht durch.

In den Vereinigten Staaten von Amerika besteht eine breite gesellschaftliche Vorverurteilung der Guantánamo-Insassen. Das bestätigt ein Urteil des US-Richters John D. Bates vom Dienstag. Demzufolge darf die US-Regierung weiterhin Menschen aus ihren Lebenszusammenhängen reißen, verschleppen und ohne Anklage auf unbestimmte Zeit in Militärgefängnissen gefangen halten. Ausgehend von den Attentaten vom 11. September 2001 stützt sich dieses Urteil auf die propagandistisch von den Medien dauernd befeuerte Behauptung, daß die Taliban, Al-Kaida und mit ihnen verbündete Organisationen nur aus dem einen Grund, den USA Schaden zuzufügen, angetreten sind und man sich lediglich verteidigen müsse.

Vergessen wird bei dieser Darstellung, daß Osama bin Laden und die Organisation Al-Kaida vom CIA aufgebaut wurden, daß weder der Krieg gegen Afghanistan noch der gegen Irak eine Antwort auf die 9/11-Attentate, sondern schlicht Angriffe seitens der USA und ihrer Verbündeten unter dem Vorwand der Selbstverteidigung waren. In diesem Zusammenhang wurde dann der Begriff "feindlicher Kämpfer" eingeführt, um eine Form des Rechts noch unterhalb des Kriegsrechts zu etablieren. Als "feindliche Kämpfer" titulierte Personen dürfen liquidiert oder verschleppt und gefoltert werden.

Laut der "New York Times" (21.5.2009) verweigerte Richter Bates in seinem 22seitigen Urteilsspruch der US-Regierung zwar die Ausstellung eines Freifahrtscheins, demzufolge Personen, die bezichtigt werden, die Taliban oder Al-Kaida zu unterstützen, ebenfalls auf unbestimmte Zeit aus dem Verkehr gezogen werden dürfen, doch in der Praxis dürfte sich erweisen, daß Bates sehr wohl Grünes Licht für jedwede Verschleppungen und Hinrichtungen erteilt hat. Denn die Definition, ob jemand zu den Taliban gehört oder diese nur unterstützt hat, wird in der Regel in der Hand der US-Streitkräfte liegen, und die werden sich nicht selbst beschränken. Außerdem hat Bates ein riesiges Schlupfloch gelassen, indem er für rechtens erklärte, daß Personen, die nie an feindlichen Handlungen beteiligt waren, sondern lediglich "Anweisungen" erhalten haben, ebenfalls weggeschlossen werden dürfen.

Der jüngste Propaganda-Vorstoß erfolgte diese Woche in Form eines bislang unveröffentlichten Reports des US-Verteidigungsministerium, demzufolge 74 von 534 aus Guantánamo entlassene Gefangene "rückfällig" geworden sind und sich "erneut" dem "Terror" verschrieben haben, was einer Quote von fast 14 Prozent entspräche (New York Times, 21. Mai 2009). Da Einzelheiten des Reports noch nicht bekannt sind, läßt er sich auch nicht analysieren, doch eines steht in dem Fall fest: Begriffe wie "erneut" und "rückfällig" unterstellen, daß es sich bei den Insassen tatsächlich um "Terroristen" gehandelt hat. Damit schließt der Report von vornherein eine Politisierung der jahrelang von ihren Familien ferngehaltenen, schwerster Folter ausgesetzten Guantánamo-Insassen aus, ganz so, als könnten sie diese Zeit ausblenden und als hätten die physischen und psychischen Qualen keine Spuren hinterlassen. Nach solchen Torturen hätten die Betroffenen allen Grund, einen tiefen Haß auf die USA zu hegen.

Im übrigen stellt sich die Frage, wieso diese Personen freigelassen wurden, wenn sie denn angeblich "Terroristen" waren. Das eine geht mit dem anderen nicht zusammen. Die US-Regierung merkt nicht, daß sie sich in ihren eigenen Kategorien verläuft: Wer nach Guantánamo gebracht wird, ist ein Terrorist. Auch wenn er freigelassen wird, ist er nicht unschuldig, sondern weiterhin ein Terrorist - denn er hat ja in Guantánamo eingesessen.

Selbst wenn ein ehemaliger Guantánamo-Häftling am bewaffneten Kampf gegen die USA teilnimmt, bedeutet das nicht automatisch, daß er vor seiner Inhaftierung ebenfalls mit der Waffe in der Hand gegen die USA gekämpft hat. Wenn jemand nicht delinquent ist, aus welchen Gründen auch immer, weil ihm nichts nachgewiesen werden konnte oder weil er nichts begangen hat, kann er auch nicht rückfällig werden. Was aber will uns die US-Regierung mit der Begriff "rückfällig" sagen?

22. Mai 2009