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STREITSCHRIFT/036: Die Schuld der "Weichspüler" (Hans Fricke)


Die Schuld der "Weichspüler"

Von Hans Fricke, 21. April 2010


Am 17. April 2010 fand in Neustrelitz der 14.Bundeskongress der Landesbeauftragten für die Stasi-Unterlagen statt. Die veröffentlichten Erklärungen von Teilnehmern lassen erkennen, dass sie voller Sorge sind. So beklagte laut "Ostsee-Zeitung" Rostock vom 19. April 2010 zum Beispiel der Soziologe Klaus Schroeder vom Forschungsverbund SED-Staat der Freien Universität Berlin: Wenn Eltern im Osten ihren Kindern von Alltagserinnerungen erzählen, passiere oft ein "Weichspülen" der DDR. Es werde oft nur von positiven Erinnerungen berichtet, der soziale Bereich werde idealisiert, die Diktatur bleibe ausgespart. Deshalb seien die Landeszentralen für politische Bildung gefordert, Fakten und Zusammenhänge zu vermitteln. Sie müssten stärker als bisher in die Schulen gehen.

Die Landesbeauftragte für die Stasi-Unterlagen Thüringens, Hildigund Neubert, forderte verpflichtende Fahrten zu Gedenkstätten beider deutschen Diktaturen für alle Schüler. Auch solle darüber nachgedacht werden, deutsche Nachkriegs- und DDR-Geschichte schon ab Klasse acht zu behandeln. Bisher sei dies in der zehnten beziehungsweise zwölften Klasse der Fall - daher falle das Thema den Vorbereitungen auf Abitur und Mittlere Reife zum Opfer. Ähnlich äußerte sich der Vorsitzende des Bundesverbandes der Opfer des Stalinismus, Johannes Rink. DDR-Geschichte sollte früher und umfangreicher als bisher vermittelt werden, sagte er "Es kann nicht sein, dass 15-, 16-, 17-jährige nicht wissen, wer Ulbricht war und was am 17. Juni 1953 geschehen ist." Offensichtlich entsprechen beispielsweise die diesbezüglichen Maßnahmen der Landesbeauftragten für die Stasi-Unterlagen in Mecklenburg-Vorpommern noch immer nicht den Erfordernissen, obwohl diese Behörde jährlich in 50 bis 70 Schulen mit Bildungsprojekten unterwegs ist und der "Demokratie-Bildungsbus" der Behörde und Landeszentrale für politische Bildung seit Mai 2008 rund 5000 Schüler erreicht hat.

Aus der Sicht der Kongressteilnehmer kann man deren Unzufriedenheit schon nachvollziehen. Mit der "Aufarbeitung" der Geschichte des "Unrechtsstaates" DDR waren immerhin zwei Enquete-Kommissionen unter Leitung von Rainer Eppelmann beauftragt. Mitgewirkt haben überdies 3 000 Bedienstete der Gauck-Birthler-Behörde. Filmische Pseudodokumentationen und "Unterhaltungsstreifen" werden wie zu Zeiten der Goebbelschen Reichsfilmkammer generalstabsmäßig produziert ("Das Leben der Anderen", "Die Frau vom Checkpoint Charlie" usw.). An der Entstellung der Geschichte der DDR beteiligen sich mehr als 1 200 Forschungsprojekte, etwa 250 Archive und Bibliotheken, rund 50 Institutionen der politischen Bildung sowie 65 Museen und Gedenkstätten. Hinzu kommen 20 Fachzeitschriften, von den täglichen Unterstellungen und Verleumdungen über das Leben in der DDR durch Presse, TV und Radio gar nicht zu reden. Und nun diese in Neustrelitz gezogene Bilanz: Eine wachsende Mehrheit der Ostdeutschen ist auch nach zwei Jahrzehnten Gehirnwäsche nicht bereit, sich das staatlich verordnete Geschichtsbild von 40 Jahren DDR zu Eigen zu machen und Angela Merkels Geschichts- und Rollenverständnis zu folgen...

Schon Anfang 2008 kamen Forscher zu der Schlussfolgerung, dass die Kultusminister der Länder, die Funktionäre der Schulverwaltungen und vor allem das Heer der Lehrer an den allgemeinbildenden Schulen das Kinkelsche Programm der Delegitimierung der DDR endlich mit mehr Energie durchsetzen sollen. Anders stehe der Staat Bundesrepublik nicht auf festem Grund. Dass es in Brandenburg, wie damals ermittelt wurde, nicht gelungen sei, wenigstens die Hälfte der Schüler von zehnten und elften Klassen zum Verdammungsurteil über den "Unrechtsstaat" zu bewegen, in dem ihre Eltern und Großeltern hatten leben müssen, kann in der Tat nur Besorgnis bei allen hervorrufen, die 1990 mit so schönen Hoffnungen in "Deutschland einig Vaterland" aufgebrochen waren, und nun sehen müssen, dass es mit der finanziell und personell sehr aufwendigen Ausrichtung in den Köpfen nicht klappt. Und das bei den Nachgewachsenen! Ähnliche Forschungsergebnisse wie in Brandenburg waren zuvor schon in Berlin gewonnen worden.

Vor dem Hintergrund der im Elternhaus erfahrenen Arbeitslosigkeit, der Hilfsbedürftigkeit selbst der Arbeitenden, des Kampfes um Lehrstellen, welche Aussicht auf Weiterbeschäftigung nach der Ausbildung bieten, und der ebenso artigen wie wirkungslosen Ermahnung der Kanzlerin an die Raffkes an der Spitze der Banken und Großkonzerne, mit denen sie, wie die Bilder zeigen, ein Herz und eine Seele ist, beginnt der Vergleich beider deutschen Staaten, des existierenden mit dem untergegangenen, neue Resultate zu zeitigen. Mehr noch, und das ist das für die Regierenden und den hinter ihnen die Fäden ziehenden Kräften das eigentlich Beunruhigende: Es hat ein Nachdenken über Werte eingesetzt, die als erstrebenswert gelten.

Ausgerechnet in den Jubiläumsjahren 2009 und 2010 werden die Merkel-Regierung, die Führungen der so genannten etablierten Parteien, "Bürgerrechtler" und die Inquisitoren der Behörden für die Stasi-Unterlagen von Umfrageergebnisse förmlich durchgeschüttelt. Was haben sie sich in den zurückliegenden Jahren geschunden, um den Unrechtscharakter der DDR und ihre Verbrechen aufzuzeigen, den untergegangenen Staat zu dämonisieren, im Sinne der Totalitarismus-Doktrin mit der verbrecherischen Nazi-Diktatur gleichzusetzen und den Leuten einzureden, dass jeder Schritt in Richtung Sozialismus nur Unheil bringt. Und nun dieses äußerst magere Ergebnis jahrelanger aufwendigen "Aufarbeitung".

Zwei Jahrzehnte nach der "Friedlichen Revolution", den "ersten wirklich freien und demokratischen" Wahlen in der DDR (Kohl) und der "Wiedervereinigung" wird die DDR von Nord nach Süd und von West nach Ost überwiegend positiv beurteilt. 49 Prozent der befragten Ostdeutschen stimmen nach einer Emnid-Umfrage folgender Einschätzung zu: "Die DDR hatte mehr gute als schlechte Seiten. Es gab ein paar Probleme, aber man konnte dort gut leben." Nur acht Prozent meinten, sie habe überwiegend schlechte Seiten gehabt, genau so viele meinten dagegen gar: "Die DDR hatte überwiegend gute Seiten. Man lebte dort glücklicher und besser als heute im widervereinigten Deutschland."

Doch es kommt für die zeitweiligen Sieger noch schlimmer: Wenn 73 Prozent der deutschen Wahlbevölkerung die Verhältnisse in Deutschland als ungerecht betrachten (von den Ostdeutschen sind es gar über 80 Prozent) und zugleich eine große Mehrheit glaubt, dass es ihr in zehn Jahren nicht besser, sondern schlechter gehen wird, dann kommt das, um es mit den Worten des Sports zu sagen, einer Disqualifizierung der heute Regierenden gleich. Auch zwei Jahrzehnte nach dem "Mauerfall" fühlen sich 42 Prozent der Ostdeutschen als Bürger zweiter Klasse, wie eine in der "Wirtschaftswoche" vom 26.9.2009 veröffentlichte Untersuchung des Instituts für Demoskopie Allensbach ergab. Demnach sind sogar 63 Prozent der Ostdeutschen weiterhin überzeugt, dass die Unterschiede zwischen Ost und West größer sind als der Vorrat an Gemeinsamkeiten. Während anfangs noch 71 Prozent der Ostdeutschen erwarteten, dass sich ihre persönlichen Lebensverhältnisse verbessern würden, sagen 20 Jahre später nur noch 46 Prozent, dass dies eingetroffen sei. Im Westen sind es nur 40 Prozent, 1989 waren es dort 52 Prozent.

Seit Jahren grübeln die "DDR-Aufarbeiter" und ihre Auftraggeber über die Ursachen derartiger für sie ärgerlicher demoskopischer Ergebnisse. Und ihre "Erkenntnisse" treiben dabei die tollsten Blüten: Schuld an der "unkritischen, nostalgischen und verklärenden Haltung zum 'Unrechtsstaat' DDR" sind danach unter anderem fehlendes Demokratieverständnis und Untertanengeist der DDR-Bürger, die ostdeutschen Lehrer, die Eltern, die Folgen einer gefährlichen Gewohnheitsdiktatur, der angeblich fehlende Elitenaustausch, die mangelhaft bestraften Täter und ähnlicher Schwachsinn. SED-Forscher Klaus Schroeder kommt das zweifelhafte "Verdienst" zu, auf dem 14. Bundeskongress der Landesbeauftragten für die Stasi-Unterlagen die "weichspülenden" Eltern als eine weitere Kategorie von Schuldigen ausgemacht zu haben. Nicht einer der heute Regierenden und der Tausenden in ihrem Auftrag die DDR entstellenden "Aufarbeiter" ist bisher auf den Gedanken gekommen beziehungsweise war bereit, öffentlich einzugestehen, dass die Ursachen in der Kolonialisierung, Demütigung und massenhaften Enteignung der früheren DDR-Bürger, in der neoliberalen Politik der Bundesregierung, die sich in Ostdeutschland besonders hart auswirkt, sowie in ihrer eigenen Unglaubwürdigkeit zu suchen sind.

Die "richtige" Erinnerung an die DDR ist zu einer Allzweckwaffe des bundesdeutschen Establishments in einem ideologischen Krieg geworden. Sie ist stumpf, schon weil sie regierungsoffiziell und amtlich daherkommt, weil sie mit persönlichen und geschäftlichen Interessen vieler von denen verbunden ist, die sie seit Jahren verwenden. Es lebt sich heute gut mit DDR-Klischees, vor allem, weil sie mit der gegenwärtigen Realität nichts, mit der vergangenen wenig zu tun haben.Wichtigster Bestandteil dieser Allzweckwaffe ist die "Stasikeule" als Produkt einer gesteuerten Meinungsmanipulation der Sieger. Sie ist seit 20 Jahren im Dauereinsatz und soll die politische und soziale Ausgrenzung der früheren Mitarbeiter des MfS sichern, den "Unrechtsstaat" DDR veranschaulichen und viele Menschen, die, wie beispielsweise der beliebte Schauspieler Herbert Köfer, in diesem Land gern gelebt und gearbeitet haben, demütigen. Sie soll DIE LINKE als Partei diffamieren und den Herrschaftsanspruch der westdeutsch geprägten "freiheitlich-demokratische Ordnung" - in Wahrheit des ungezügelt handelnden Kapitals - begründen.

Dass sozialistische und kommunistische Regime Unrechtsregime waren, sollte allgemein bekannt sein. Das zu leugnen, gefährdet die Identität heutiger Demokraten, warnte Thüringens Stasi-Beauftragte Hildigund Neubert am Ende des Bundeskongresses in Neustrelitz. Was und wer die "Identität der heutigen Demokraten" zu denen sie sich selbst auch zählt, in Wahrheit gefährdet, zeigt ihr eigenes Handeln als Bilderstürmerin im Erfurter Landtag. In einem in Jena herausgegebenen Anzeigenblättchen rühmte sie sich mit viel Wortgeklingel, auf ihre Initiative hin sei ein Bild des "DDR-Malers" Werner Tübke aus einer Ausstellung des Landtags entfernt worden. Besagtes Bild zeigt den Leichnam eines von ungarischen Faschisten 1956 gelynchten Kommunisten, der von einem Laternenpfahl heruntergenommen wird. Man könnte diesen Vorfall als lächerlich-absurde Provinz-Parlamentsposse abtun, wenn nicht einige klärenswerte Fragen auftauchten. Beispielsweise die, wieso es zu ihren Aufgaben als Stasi-Beauftragte gehört, eine Ausstellung zu zensieren und ein Bild entfernen zu lassen, das keinerlei Bezug zu ihren Aufgaben als Landesbeauftragte enthält, und was es mit dem Geschichts- und Demokratieverständnis der thüringischen Landtagspräsidentin Prof. Dagmar Schipanski (CDU) auf sich hat, die das Bild sofort aus der Ausstellung entfernen ließ, ohne die Aussteller zu benachrichtigen.Und damit taucht eine weitere Frage auf: Die Kunst ist frei. Jeder hat das Recht, seine Meinung in Wort, Schrift und Bild frei zu äußern, zu verbreiten und sich zu informieren. Eine Zensur findet nicht statt. So steht es noch im Grundgesetz. Gilt diese Freiheit auch in Thüringen oder gilt sie nicht? Darüber hätten Stasi-Landesbeauftragte und Landtagspräsidenten nachdenken sollen, bevor sie sich entschlossen ihr eigenes Geschichtsverständnis dem gesamten Thüringer Parlament überstülpen zu wollen. Auch die Forderung von Frau Neubert, "die Leugnung der Verbrechen des Sozialismus/Kommunismus" unter Strafe zu stellen, lässt darauf schließen, wie wenig sie selbst von demokratischen Gepflogenheiten im Umgang mit Andersdenkenden hält. Offensichtlich zieht sie ein gesetzliches Mund verbieten und die Bestrafung missliebiger Kritiker ihres Geschichtsverständnisses und DDR-Bildes ernsthaften politischen Auseinandersetzungen über die reale Geschichte der DDR vor.

Wenn sie in Neustrelitz forderte, darüber nachzudenken, deutsche Nachkriegs- und DDR-Geschichte schon ab Klasse acht zu behandeln, dann drängt sich die Frage auf, inwieweit sie selbst die deutsche Nachkriegsgeschichte kennt. Würde sie die unrühmliche Gründungs- und Nachkriegsgeschichte der BRD kennen, dann würde sie mit einer solchen Forderung sicher vorsichtiger sein und nicht ständig das Wort "Unrechtsstaat" im Zusammenhang mit der DDR im Munde führen. Aber ihr kann geholfen werden. Lassen wir die aktive Unterstützung der Adenauer-Regierung bei der Teilung Deutschlands durch die Westmächte, die Wiederaufrüstung gegen den energischen Widerstand der Bevölkerung sowie die flächendeckende und massenweise Reaktivierung der faschistischen Kader und damit auch des nazistischen Ungeistes nach 1945 einmal unerwähnt (nach Angaben des "Bulletins des Presse - und Informationszentrums der Bundesregierung" waren Ende März 1957 insgesamt 181 202 "Ehemalige" wieder im staatlichen Dienst) und betrachten allein die Polizeistaatmethoden der als "Rechtsstaat" gelobten BRD:

Es ist verständlich, dass die heute politisch Verantwortlichen nicht gern daran erinnert werden möchten, dass auch die BRD siebzehn höchst abenteuerliche Jahre hinter sich hat. In dieser Zeit übte sich ihre angeblich unabhängige Justiz in "Vorneverteidigung" gegen "Staatsfeinde" - vor allem Kommunisten, aber auch des Leninismus unverdächtige, pazifistische Christen oder zur nationalen Einheit willige Gewerkschaftler. Mit 1951 verabschiedeten Paragraphen und damals gebildeten siebzehn übers Land verteilten speziellen "Staatsschutzkammern" wurde gegen rund hundertfünfzigtausend Bundesbürger wegen "Staatsgefährdung", "Geheimbündelei", "Rädelsführerschaft" und weiterer schwammmiger "Delikte" ermittelt, wo statt der Tat die Gesinnung zählte. Rund sechzigtausend Leute landeten in den Gefängnissen - "Zahlen, die einem ausgewachsenen Polizeistaat alle Ehre machen", wie Staatsrechtsprofessor Werner Maihofer, später Bundesinnenminister, schon 1965 konstatierte. Aber nicht nur die Zahlen taten das, auch die Methoden und die Urteile. Die fielen manchmal allein dank "Zeugen vom Hörensagen" - Beamte der politischen Polizeikommissariate gaben Aussagen ihrer V-Leute wieder, die weder benannt noch auf ihre Glaubwürdigkeit hinterfragt werden konnten.

Zu den Ursachen der wachsenden Unzufriedenheit in der Bevölkerung und der immer geringer werdenden Akzeptanz der Parolen aus Berlin gehört nicht zuletzt auch der eklatante Widerspruch zwischen der offiziellen Meinungsmache und dem von den Menschen Erlebten. So glauben die Ostdeutschen aufgrund eigener Erfahrungen eher der Erklärung von Prof.Egon Bahr (SPD), der mit Blick auf die forcierte Deindustrialisierung Ostdeutschlands und die gigantische Enteignung früherer DDR-Bürger infolge des verhängnisvollen Grundsatzes "Rückgabe vor Entschädigung" sagte, er kenne kein Volk auf Erden, das so enteignet worden wäre wie das Volk der DDR, sowie den Worten des ehemaligen Regierenden Bürgermeisters von West-Berlin, Pastor Albertz, der mit Blick auf die Währungsunion am 1. Juli 1990 erklärte: "Manchmal denke ich, ein Einmarsch von Truppen ist ehrlicher als das, was jetzt geschieht" als der Schönschwätzerei des "Kanzlers der Einheit" Helmut Kohl (CDU) und seiner Partei.

Und wenn offiziell vollmundig vom "Zusammenwachsen was zusammen gehört" und vom Geschenk der "Einheit" unseres Volkes die Rede ist, dann erinnern sich die früheren DDR-Bürger daran, dass der international bekannte deutsche Dramatiker Rolf Hochhuth in seinem Stück "Wessis in Weimar. Szenen aus einem besetzten Land" das Geschehene als "Variante des Kolonialismus" bezeichnet, der "nirgendwo gegen Menschen des Kontinents, geschweige denn des eignen Volkes, je praktiziert wurde." Eine die westdeutschen Eliten zutiefst beschämende Feststellung, die der Literatur-Nobelpreisträger Günter Grass im Mai 1992 mit folgenden Worten ergänzte: "Es ist zu einer entsetzlichen Kolonialisierung gekommen. Mit großer Arroganz. Die Besitzenden werden die Westdeutschen sein. Und die führen in der DDR einen Morgenthau-Plan durch, der Gebiete verarmen lässt, die von der Geschichte her Industriegebiete waren (...)" Und 17 Jahre später, aus Anlass des Gedenkjahres 2009, bezeichnete Grass die Westdeutschen noch immer als "Kolonialherren", die "von ihrem hohen Ross herunterkommen" müssen. Und schließlich noch die bestätigenden Worte des früheren Ersten Bürgermeisters Hamburgs, Hennig Voscherau aus dem Jahr 1996: "In Wahrheit waren fünf Jahre Aufbau Ost das größte Bereicherungsprogramm für Westdeutschland, das es je gegeben hat." (Um Missverständnisse vorzubeugen: Ich verstehe unter den von Grass genannten "Westdeutschen" die unzähligen über die DDR-Bürger gekommenen Vertreter westdeutscher Banken und Konzerne, gut betuchte Heuschrecken, die sich in Raubritter-Manier mit Hilfe der "Treuhand" Betriebe, Versicherungen, LPGs, Wohnungsgenossenschaften, Grund und Boden sowie Unternehmen und Einrichtungen aller Art für'n Appel und 'nen Ei unter den Nagel gerissen haben, nicht aber die Millionen westdeutscher Bürger, die von ihrer Hände Arbeit leben. Ich bin sicher, dass auch Günter Grass so verstanden werden will.)

Was, so müssen sich Bundesregierung und Teilnehmer des 14. Bundeskongresses der Landesbeauftragten für die Stasi-Unterlagen fragen lassen, ist an einer sachlichen Rückschau, an einer angemessenen Bewertung der Leistungen eines seit 20 Jahren nicht mehr existierenden Staates denn so gefährlich, dass sie auf jedes neue ihnen unangenehme Umfrageergebnis derartig hysterisch reagieren? Könnte es sein, dass die Enttäuschung über 20 Jahre Raubtierkapitalismus und die Empörung über die Krise mit ihren verheerenden Folgen in eine andere Richtung gelenkt werden und sich an einer mit allen Schreckensattributen ausgestatteten DDR abreagieren sollen und dass das nicht wunschgemäß klappt?

Auch großbürgerlichen Medien fällt es immer schwerer, diese Krise als Naturkatastrophe oder nur als von habgierigen Bankern hervorgerufen darzustellen. Denn diese Krise ist systembedingt, verursacht durch den ganz gewöhnlichen Kapitalismus und der war zu keiner Zeit menschenfreundlich. Anstatt alle diese allgemein bekannten Tatsachen anzuerkennen und daraus konkrete Maßnahmen zur Überwindung der immer größer werdenden sozialen Schieflage in unserem Land abzuleiten, mogelt sich die Bundesregierung seit zwei Jahrzehnten mit Schönschwätzerei an der Wahrheit vorbei und versucht, mit Schuldzuweisungen an die DDR und Pflege eines Feindbildes vom nicht mehr existierenden anderen deutschen Staat von den katastrophalen Folgen ihrer eigenen neoliberalen Politik abzulenken. Sowohl der CDU-Bundesparteitag in Stuttgart als auch der Bundeskongress der Stasi-Beauftragten in Neustrelitz haben keinen zweifel daran gelassen, dass die hinreichend bekannte hassgetrübte Geschichtsauffassung der Union verstärkt in die Schulen getragen werden soll - nach dem Motto: Wenn zwei Jahrzehnte Gehirnwäsche bei den "Alten" nicht das gewünschte Resultat gebracht haben, dann versuchen wir es eben bei den "Jungen", die die DDR nicht selbst erlebt haben. Die "Aufarbeiter" sollten aber darauf achten, dass sie dabei den Jugendoffizieren der Bundeswehr nicht ins Gehege kommen, denn auch sie sind infolge dramatischer Rückgänge bei der Wehrbereitschaft junger Menschen verstärkt in den Schulen aktiv, um Kanonenfutter für Kriegsabenteuer der Bundesregierung zu beschaffen.

Mehr als die Hälfte der Bevölkerung, die mit ihren Lebensbedingungen unzufrieden sind, und die mehr als 70 Prozent, die die Verhältnisse in der BRD als ungerecht beurteilen, sollen mit Hilfe der bereits erwähnten Gedenkstätten, Museen, Mahnmalen, Gedenktafeln, Denkmälern, Fernsehfilmen, täglichen Medienbeiträgen und anderen Propagandamaßnahmen über den "Unrechtsstaat" DDR von den ins Auge springenden wahren Ursachen für ihre wachsende Unzufriedenheit abgelenkt und ruhig gestellt werden.

So sind wir heute Zeuge, wie die DDR-"Aufarbeiter" und ihre Auftraggeber nicht nur vor einem Rätsel, sondern auch vor einem Dilemma stehen.Machen sie weiter wie bisher, reduzieren sie die DDR auf Mauer, Todesschützen, Stacheldraht und Stasi, verleumden und dämonisieren sie den nicht mehr existierenden Staat, dann erreichen sie, wie die Praxis zeigt, nur das Gegenteil. Mäßigen sie sich in ihrer Propaganda und Hetze, dann geben sie zu, dass sie bisher aus Furcht vor jeder gesellschaftlichen Alternative zum derzeitigen System gefälscht und gelogen haben.

Es entspricht dem Wesen der heutigen Gesellschaft und dem antikommunistischen Hass der in ihr herrschenden Eliten, dass sie sich für eine Fortsetzung ihres Lügenfeldzuges entscheiden werden, und zwar ohne Rücksicht auf die Folgen.


Hans Fricke ist Autor des zur diesjährigen Leipziger Buchmesse im GNN-Verlag Schkeuditz erschienenen Buches "Eine feine Gesellschaft" - Jubiläumsjahre und ihre Tücken, 250 Seiten, Preis 15.00 Euro, ISBN 978-3-89819-341-


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Quelle:
© 2010 Hans Fricke
mit freundlicher Genehmigung des Autors


veröffentlicht im Schattenblick zum 22. April 2010