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STREITSCHRIFT/020: Freiheit statt Angst - Stoppt den Überwachungswahn, Redebeitrag (Dr. Rolf Gössner)


Freiheit statt Angst - Stoppt den Überwachungswahn

Redebeitrag während der Auftaktkundgebung zur Demo
Freiheit statt Angst - Stoppt den Überwachungswahn
in Berlin am 12. September 2009, Potsdamer Platz

Von Dr. Rolf Gössner


Liebe Mitstreiterinnen,
liebe Mitstreiter!

»Angst ist das Schmieröl der Staatstyrannei« - es ist diese Erkenntnis, die uns antreibt, hier und heute zu demonstrieren: gegen politische Angstmacherei, gegen Überwachungswahn und den Angriff auf die Bürgerrechte.


I. Ein ausufernder Antiterrorkampf bescherte uns eine dramatische Einschränkung der Freiheitsrechte. Eine wahre Flut sogenannter Antiterrorgesetze haben die Kontrolldichte in Staat und Gesellschaft beträchtlich erhöht - angeblich im Namen der Sicherheit, doch mit Sicherheit auf Kosten der Freiheit. Tatsächlich kommt das Bundesverfassungsgericht kaum noch nach, etliche dieser maßlosen Sicherheitsgesetze für grundrechtswidrig zu erklären. Tatsächlich dokumentiert die hohe Anzahl verfassungswidriger Gesetze ein katastrophales Verfassungsbewusstsein in der politischen Klasse - strenggenommen: ein Fall für den Verfassungsschutz. Solche parteipolitischen Wiederholungstäter sind eine wahre Gefahr für dieses Land - und sie sind schlichtweg nicht wählbar.


II. Leider ist das nicht alles. Wir erleben auch einen besorgniserregenden Umbau des Staates und eine Entfesselung staatlicher Gewalten. Wir erleben eine Militarisierung der Inneren Sicherheit, in deren Mittelpunkt der Bundeswehreinsatz im Innern steht. Wir erleben eine zunehmende Vernetzung und Verzahnung von Polizei und Geheimdiensten - zuletzt mit der neuen Abhörzentrale in Köln und mit dem Umbau des Bundeskriminalamtes zu einem zentralen deutschen FBI mit geheimpolizeilichen Befugnissen zur präventiven Vorfeldausforschung.

Das ist ein skandalöser Vorgang: Denn mit dieser neuen Sicherheitsarchitektur wächst zusammen, was nicht zusammen gehört. Dies verstößt gegen das Gebot der Trennung von Geheimdiensten und Polizei - einer wichtigen Konsequenz aus den bitteren Erfahrungen mit der Gestapo der Nazizeit. So werden elementare Lehren aus der deutschen Geschichte entsorgt - mit der Folge einer gefährlichen Machtkonzentration der Sicherheitsorgane. So droht der demokratische Rechtsstaat zu einem präventiv-autoritären Sicherheitsstaat zu werden - einem Staat im permanenten Ausnahmezustand, in dem der Mensch zum Sicherheitsrisiko mutiert, in dem Rechtssicherheit und Vertrauen der Bürger verloren gehen, Angst und Entsolidarisierung gedeihen.

Und spätestens hier stellt sich die Frage: Soll der Staat mit diesem Umbau und der Anhäufung von Kontroll-Instrumenten auf Vorrat womöglich nicht nur vor Gewaltkriminalität und Terror geschützt werden? Wappnet er sich in Wirklichkeit - gerade in Zeiten verschärfter ökonomisch-sozialer Krisen - vorsorglich auch gegen mögliche soziale Unruhen und Aufstände? Tatsächlich scheint der präventive Sicherheitsstaat in dem Maße aufgerüstet zu werden, in dem der Sozialstaat abgetakelt wird.


III. Diesem Zerstörungsprozess und der zugrundeliegenden Sicherheitsideologie müssen Bürgerrechtsgruppen, Gewerkschaften und politisch-soziale Bewegungen, müssen wir alle energischer entgegentreten. Die heutige Demonstration für "Freiheit statt Angst" hier in Berlin ist ein hoffnungsvolles Signal. Genauso wie die fast 35.000 Verfassungsbeschwerden gegen die Vorratsdatenspeicherung - die größte Massenbeschwerde in der deutschen Rechtsgeschichte.

Was ist noch zu tun? Wir müssen dringend das verengte und angstbesetzte Sicherheitsdenken aufbrechen. Wir brauchen einen anderen, einen sozialen, umwelt- und friedenspolitischen Sicherheitsbegriff - einen Begriff von Sicherheit, der auch an Ursachen und Bedingungen von Terror, Gewalt und Kriminalität ansetzt, von denen kaum noch die Rede ist. Denn die Übel dieser Gesellschaft und der Welt lassen sich jedenfalls nicht mit Vorratsdatenspeicherung, Internet-Sperren und Antiterrorgesetzen bekämpfen, sondern viel mehr mit sozialer Gerechtigkeit, einer neuen Weltwirtschaftsordnung und einer konsequenten Umwelt-, Klima- und Friedenspolitik.

Wir fordern schon heute von der neuen Bundesregierung ein Ende der Politik mit der Angst, wir fordern eine Generalrevision aller "Notstandsgesetze für den Alltag"! Wir fordern auch ein striktes Exportverbot für deutsche Überwachungstechnologien an diktatorische Staaten (wie den Iran)! Und wir wollen einen transparenten demokratischen Staat - und keine gläsernen Bürger unter Generalverdacht! Und angesichts der vielen staatlichen, aber auch betrieblichen Datenskandale und des oft leichtfertigen Umgangs mit persönlichen Daten - im Internet, beim Einkauf mit Rabatt- und Kreditkarten, am Handy oder in Fernsehshows - brauchen wir auch eine breite gesellschaftliche Debatte über den Umgang mit Personendaten, über den Wert von Privat- und Intimsphäre und über das Problem ausufernder Überwachung und sozialer Kontrolle in einer freiheitlich-demokratischen Gesellschaft. Bei der Lösung der drängenden Frage, wie der Ausverkauf der Privatsphäre und die Beschneidung der Kommunikationsfreiheit in einer modernen Informationsgesellschaft gestoppt werden können, sind wir alle gefordert.


Dr. Rolf Gössner, Rechtsanwalt/Publizist in Bremen; Vizepräsident der Internationalen Liga für Menschenrechte, Berlin (www.ilmr.de); Sachverständiger in Gesetzgebungsverfahren des Bundestags und von Landtagen; Mitherausgeber des "Grundrechte-Reports - Zur Lage der Bürger- und Menschenrechte in Deutschland" und als solcher ausgezeichnet mit der Theodor-Heuss-Medaille 2008 (www.grundrechte-report.de). Seit 10 Jahren Mitglied der Jury zur Verleihung des Negativpreises "BigBrotherAward" (www.bigbrotherawards.de). Autor zahlreicher Bücher zur Entwicklung von Polizei, Geheimdiensten und Justiz sowie der Bürgerrechte und des Datenschutzes; zuletzt: Menschenrechte in Zeiten des Terrors. Kollateralschäden an der "Heimatfront" (Hamburg 2007).
Internet: www.rolf-goessner.de


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Pressemitteilung des Arbeitskreises Vorratsdatenspeicherung vom 11.09.2009:

"Freiheit statt Angst" - Großdemonstration am 12.09.2009 in Berlin

"Stoppt den Überwachungswahn!" lautet der "Schlachtruf" eines Bündnisses von über 160 Organisationen im gemeinsamen Aufruf zur Großdemonstration "Freiheit statt Angst". Nur 15 Tage, bevor Millionen von Bürgern über die Politik der kommenden vier Jahre abstimmen werden, wird ein gigantischer Demonstrationszug durch die Bundeshauptstadt Berlin ziehen und von der zukünftigen Regierung eine kenntnisreichere Gestaltung der Kommunikationsgesellschaft fordern. Auch viele Städte im Ausland folgen diesem Ruf: Im Rahmen des internationalen Aktionstages "Freedom not Fear" demonstrieren zeitgleich in Wien, Prag, Stockholm, Helsinki, Guatemala, Buenos Aires und vielen weiteren Städten zahlreiche Menschen ihre Überwachungsverdrossenheit.

Dem Aufruf von über 160 Organisationen folgend, gehen in Berlin am morgigen Samstag, den 12. September 2009 Zehntausende für das Recht auf Privatsphäre auf die Straße! "Wir werden Berlin Mitte am Samstag zu einem Ort der Freiheit und einer gelebten Demokratie machen", so padeluun vom Arbeitskreis Vorratsdatenspeicherung.

Die Auftaktkundgebung startet um 15.00 Uhr auf dem Potsdamer Platz (erreichbar mit der U-Bahn 2). Danach wird der Demonstrationszug durch die Berliner Innenstadt ziehen und in eine Abschlusskundgebung am Potsdamer Platz münden. Unter anderem sprechen Dr. Thilo Weichert, Datenschutzbeauftragter des Landes Schleswig-Holstein, der Rechtsanwalt und Publizist Dr. Rolf Gössner sowie Frank Bsirske, Vorsitzender der Vereinten Dienstleistungsgesellschaft Ver.di, zu den Themen Daten- und Arbeitnehmerdatenschutz und Aushöhlung der Grund- und Menschenrechte. Weitere prominente Redner werden die Themen Internetsperren bzw. -zensur, Schülerdatei, staatliche Überwachungsmaßnahmen, Vorratsdatenspeicherung und elektronische Gesundheitskarte thematisieren. Die deutsch-österreichische Dancehall-Gruppe Mono & Nikitaman sowie die Rapperin Schwesta aus Regensburg und der Berliner DJ Tanith begleiten die Demo musikalisch. Ende der Demo ist um 22 Uhr.

Datenskandale haben Namen bekommen: Lidl, Deutsche Bahn oder Deutsche Telekom sind vermehrt als als Datensünder bekannt geworden. Damit richtet sich die Demonstration "Freiheit statt Angst - Stoppt den Überwachungswahn!" nicht nur gegen staatliche Eingriffe wie die Vorratsdatenspeicherung und das verdeckte Ausspionieren von Computern. Die Demonstration richtet sich auch gegen das strategische Sammeln von personenbezogenen Daten in der Wirtschaft. "Viele Menschen erkennen, dass Bürgerrechte auch am Arbeitsplatz gelten müssen. Das seit langem angekündigte Arbeitnehmerdatenschutzgesetz muss endlich in Kraft treten", untermauert Annette Mühlberg (ver.di) die Bedeutung des Protests für die Gewerkschaften.

Die Großdemonstration "Freiheit statt Angst" wird unter anderen von dem Arbeitskreis Vorratsdatenspeicherung, dem Arbeitskreis Zensur, der Humanistische Union e.V., der Internationalen Liga für Menschenrechte, dem Bündnis für Politik und Meinungsfreiheit, dem Netzwerk Neue Medien, dem Forum InformatikerInnen für Frieden und gesellschaftliche Verantwortung e.V., dem FoeBuD e.V., dem Chaos Computer Club, der Freie Ärzteschaft, Attac, ver.di, der Deutsche Journalistinnen und Journalisten-Union, dem DGB, der Verkehrsgewerkschaft GDBA, dem Lesben- und Schwulenverband Deutschland e.V., der Katholischen Jungen Gemeinde, der Piratenpartei, DIE LINKE, der FDP, von Bündnis 90/Die Grünen und vielen anderen unterstützt. "Diese gesellschaftliche Allianz setzt ein klares Zeichen gegen die Vorratsdatenspeicherung, die heimliche Online-Durchsuchung und den Aufbau einer riesigen Zensurinfrastruktur", erklärt Ryo Kato vom Arbeitskreis Vorratsdatenspeicherung.

Weitere Informationen zur Demonstration finden sich im Internet unter
http://www.freiheitstattangst.de bzw. im AK-Vorrat-Wiki unter
http://wiki.vorratsdatenspeicherung.de/Freiheit_statt_Angst_am_12._September_2009

An der letzten Großdemonstration im Oktober 2008 in Berlin
beteiligten sich Zehntausende von Bürgerinnen und Bürgern:
http://www.vorratsdatenspeicherung.de/content/view/267/79/

Diese Pressemitteilung im Internet:
http://www.vorratsdatenspeicherung.de/content/view/331/79/


Zur Ankündigung der Demonstration im Schattenblick siehe auch:
www.schattenblick -> Infopool -> Bürger und Gesellschaft -> Fakten
AKTION/460: "Freiheit statt Angst" - Großdemo gegen Überwachung am 12.09.09 in Berlin (ILMR)


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Quelle:
© September 2009 Dr. Rolf Gössner
mit freundlicher Genehmigung des Autors
Internet: www.rolf-goessner.de


veröffentlicht im Schattenblick zum 13. September 2009