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STREITSCHRIFT/001: "Blühende Landschaften" (Hans Fricke)


"Blühende Landschaften"

Von Hans Fricke, 20. Mai 2009


Unter dieser Überschrift kommentieren Zeitungen sarkastisch die am 18. Mai vom Statistischen Bundesamt und dem Paritätischen Wohlfahrtsverband vorgestellten neuen Studien zur Armut in Deutschland, dessen wichtigste Aussagen sich mit wenigen Worten zusammenfassen lassen:
Ganze Regionen der Bundesrepublik drohen durch wachsende Armut zu veröden. Überwiegend liegen sie im Osten, aber - und das ist der neue Trend - nicht mehr ausschließlich. Jeder fünfte in Ostdeutschland verarmt, im Westen bislang "nur" jeder achte. Als arm im Sinne der Studie gilt, wer weniger als 60 Prozent des mittleren Einkommens zur Verfügung hat. Für einen Alleinstehenden sind das 736 Euro monatlich, für ein Paar mit zwei Kindern 1766 Euro.

Beide Autoren der Studien untersuchen und belegen mit einem Armutsatlas gravierende Unterschiede zwischen Ost und West, zeigen aber auch, dass die alte BRD tief gespalten ist. Bundesweit klaffen die regionalen Quoten weit auseinander: von 7,4 Prozent im Schwarzwald bis zu 27 Prozent in Vorpommern. Wenn der zu DDR-Zeiten moderne und nicht zuletzt wegen seiner leistungsfähigen Schiffbauindustrie zukunftsträchtige Industrie- und Agrarbezirk Mecklenburg 20 Jahre nach dem Anschluss der DDR an die BRD zum deutschen Armutshaus geworden ist und wenn die ärmste Region eine viermal so hohe Armutsquote aufweist wie die reichste, dann zeigt das, wohin die neoliberale Politik der Bundesregierung unser Land gebracht hat. Viel zu lange hat die Fixierung auf bundesweite Durchschnittsquoten den Blick auf die regionalen Realitäten versperrt - eine Entwicklung die auch auf dem Arbeitsmarkt zu beobachten ist. Hier versperren Scheinarbeitsverhältnisse, Qualifizierungsmaßnahmen ohne Aussicht auf Arbeitsplätze für die Teilnehmer und geschönte Statistiken schon seit Jahren den Blick auf die Realität.
Jetzt zeigt sich, dass der Osten nur das Experimentierfeld und Einfallstor für die neoliberale Umgestaltung der Gesellschaft war. Mittlerweile stürzen auch ganze Regionen im Westen der Republik ab. "Wir müssen mindestens von einer Dreiteilung ausgehen, um die extrem unterschiedlichen Lebensbedingungen (...) zu erfassen", sagte der Hauptgeschäftsführer des Wohlfahrtsverbandes Ulrich Schneider. Er unterscheide zwischen einem süddeutschen, einem nordwest- und einen ostdeutschen Raum.
Mehr und mehr wird deutlich, was Helmut Kohl (CDU), der in diesem und im nächsten Jubiläumsjahr wegen seiner erfolgreichen Täuschung der DDR- Bevölkerung mal wieder als "Kanzler der Einheit" gefeiert wird, mit "blühenden Landschaften" in Ostdeutschland wirklich gemeint hat. Nach der komplexen Deindustrialisierung und gezielten Bevölkerungsausdünnung wird jetzt offenbar eine endgültige "Lösung" angestrebt. Und mit welchem menschenverachtenden Zynismus dabei vorgegangen wird, liest sich im Stern so: "Rund um die Stadt" (d.i. Demmin in Mecklenburg-Vorpommern) "gedeihen Tiere und Pflanzen. Nirgendwo in Deutschland tummeln sich mehr Seeadler, Biber und Fischottern (...) Sträucher und Ranken wachsen verlassene Gebäude zu." Dann kommt man zu Kern: "Ein Grund zum Jammern? Im Gegenteil", meinte Joachim Ragnitz, Experte für den Strukturwandel am Institut für Wirtschaftsforschung in Halle, "wir sollten das als Riesenchance und nicht als Problem begreifen." Solche blühenden Landschaften brauche Deutschland dringend als "ökologische Ausgleichsgebiete für den Klimawandel" Und der Direktor des Berliner Instituts für Bevölkerung und Entwicklung setzt zynisch noch eins drauf, indem er meint: "Die Menschen selbst stimmen seit der Wende mit den Füßen ab, wo die Zukunft solcher Landstriche liegt - in der Renaturierung." Nach seiner Auffassung kann "rund ein Drittel der ehemaligen DDR getrost der Schöpfung zurückgegeben werden".
Da bestimmte Entwicklungen auf bzw. in anderen Gebieten erfahrungsgemäß zeitversetzt folgen, wie das bei der neoliberalen Umgestaltung unserer Gesellschaft, die im Osten begann und nunmehr im Westen folgt, deutlich wird, sollten sich westdeutsche "Demmine" schon rechtzeitig darauf einstellen, ebenfalls bald renaturiert und der Schöpfung zurückgegeben zu werden.

Der eigentliche Skandal besteht darin, dass die gleiche Bundesregierung, die Hunderte Milliarden Euro locker macht, um Zocker- Banken und Autokonzerne vor der Pleite zu retten, die bereit ist, für eine völlig überflüssige Fehmarnbelt-Querung Milliarden auszugeben, die zulässt, dass die Kassenärztliche Bundesvereinigung eine bisher nie gekannte Abzocke auf Kosten der Patienten anstrebt und auch sonst nicht kleinlich ist, um den Forderungen ihrer reichen Klientel nachzukommen, tatenlos eine Entwicklung zulässt, ja, mit ihrer neoliberalen Politik begünstigt, die zu den Ergebnissen führt, wie sie in den jüngsten Studien zur Armut sichtbar geworden sind.

Und das alles trotz starker Gewerkschaften und anderer Interessenvertretungen, die in der Lage wären, diese Entwicklung mit mächtigen Massenaktionen zu stoppen und die Bundesregierung zur Umkehr, wenn man so will: zu einer "Wende", zu zwingen. Doch wie sieht die Praxis aus?
Zu Recht heißt es in einem Pressekommentar unter der Überschrift "Heuchler an der Spitze": "Was hätte das am Samstag für eine Demonstration gegen die Krise werden können. Leider haben der DGB und die Spitzen der Einzelgewerkschaften viel dafür getan, um den Protest in Grenzen zu halten. Französische Verhältnisse möchten sie nun wirklich nicht, auch wenn der DGB-Chef Michael Sommer vor einigen Wochen vorsichtig gewarnt hatte, es könne bei landesweiten Betriebsschließungen zu sozialen Unruhen kommen (...) Mit den von Oscar Lafontaine und Gregor Gysi angeführten Schmuddelkindern (gemeint sind Die Linke und klassenbewusste Gewerkschaftsgruppen), die bekanntlich erst Banken enteignen und dann der Oma ihr kleines Häuschen wegnehmen wollen, will ein aufrechter Sozialdemokrat natürlich nichts zu tun haben Erst recht nicht einer wie der mittlerweile kapitalkonform geläuterte DGB-Chef."

Viele Demonstrationsteilnehmer werden empört festgestellt haben, was die Regie von Sommer & Co. für Blüten getrieben hatte. Da wurden zu einer Demonstration gegen Sozialabbau ausgerechnet dafür verantwortliche Politiker wie Franz Müntefering (SPD) Renate Kühnast, Jürgen Trittin und Cem Özdemir (Grüne) an die Spitze des Zuges geholt. Und diese hatten offenbar ebenso wenig Hemmungen dort zu erscheinen und Betroffenheit zu heucheln wie sie den Hartz-IV-Gesetzen und anderen sozialen Raubzügen der Bundesregierung zugestimmt haben. Sommer & Co. müssen sich den Vorwurf gefallen lassen, ein wahlkampfkompatibles Spektakel inszeniert zu haben. Aber so ganz hat es mit dieser Regie doch nicht geklappt, denn wohin man auch blickte, sah man rote Fahnen, von SPD und Grünen war im Zug kaum eine Spur zu entdecken. Im Vergleich zu früheren Demonstrationen fielen zahlreiche Gewerkschaftsgruppen aus Betrieben auf, die in der gegenwärtigen Krise von der Schließung oder von Massenentlassungen bedroht sind. Sommer dürfte mit seiner besorgten Warnung vor sozialen Unruhen also nicht ganz falsch liegen.

Kapitalkonform geläutert ist inzwischen nicht nur der DGB-Chef. Auch die IG-Metall war sich nicht zu schade, sich Seit an Seit mit der sich verzockten und von Pleite bedrohten Milliardärin Maria-Eliabeth Schaeffler zu zeigen, als sie sich unter roten Fahnen (!) um Hilfe bittend an den Staat wandten, dessen Politiker die sogenannten Rahmenbedingungen gesetzt haben, mit denen zuerst die Schranken niedergerissen wurden, die Extraprofite und Expansion ohne Maß und Halte ermöglichen.
Ich erinnerte mich bei diesen Bildern aus Herzogenaurach an Vokabeln wie "Betriebsgemeinschaften", "Betriebsführer" und "Gefolgschaft" , so wie Hitler 1934 das Verhältnis von Kapital und Arbeit gewünscht und angeordnet hatte. Auch das dumme Gerede von Konzernchefs: "Wir sitzen alle in einem Boot." verfolgt das Ziel, unzufriedene Lohnabhängige ruhig zu stellen. Dass sich Frau Schaeffler für den engen Schulterschluss mit der IG Metall unter roten Fahnen nun mit Massenentlassungen ihrer "lieben Mitarbeiter" revanchieren will, dürfte die Chefetagen von IG-Metall nicht überraschen.

Es ist kein Zufall, dass DGB-Chef Sommer den kompromisslosen Streik der Lokführergewerkschaft gegen Mehdorn und Komplizen kritisiert hat, statt ihn zu unterstützen, aber von ihm kein Wort der Kritik an der Bahngewerkschaft Transnet zu hören ist, die über ein Jahrzehnt Seit an Seit mit dem Unternehmensvorstand für die Kapitalprivatisierung des bundeseigenen Unternehmens kämpfte. Dabei dürfte auch ihm nicht entgangen sein, dass dem Börsenwahn in dieser Zeit 100 000 Arbeitsplätze zum Opfer fielen und die Mitarbeiter kräftige Reallohnverluste hinnehmen mussten. Der am Wochenende geäußerte Verdacht, dass eine Gewerkschaft einem Unternehmen ihre komplette Mitgliederliste zwecks Abgleich von Gehaltshöhe und entrichtetem Beitrag überreicht, dürfte trotz einschlägiger Vorerfahrungen ein bisher einmaliger Vorgang sein und neue Fragen in Bezug auf eine Mitwisserschaft der Gewerkschaftsführung bei der Datenaffäre der Bahn aufwerfen. Deshalb ist dem Vorsitzenden der Gewerkschaft Deutscher Lockführer, Claus Weselsky, zuzustimmen, wenn er am 17.Mai im Tagesspiegel erklärte: "Das ist Bahnfilz vom Feinsten. Das passiert eben, wenn ein Konzern mit ehemaligen Funktionären einer speziellen Gewerkschaft durchzogen ist."

Dass es mit der Interessenvertretung von Lohnabhängigen und kleinen Selbständigen in unserem Land nicht weit her ist, wenn man von lautstarken und vollmundigen Reden absieht, zeigt auch der Deutsche Bauernverband (DBV) .Während eine Mehrheit der Bevölkerung den gerechten Kampf der Milchbauern für faire Preise unterstützt und dem mutigen Hungerstreik von sechs Milchbäuerinnen vor dem Kanzleramt mit Sympathie begleitete, distanzierte sich DVB-Präsident von diesem Streik.

Wenn die Millionen Gewerkschaftler und andere Opfer der neoliberalen Regierungspolitik angesichts der mit Sicherheit zu erwartenden Abwälzung der Folgen der Krise auf die "kleinen Leute" sich nicht darauf beschränken wollen, ihren Unmut und Widerstand mit von ihrer Gewerkschaft verteilten Trillerpfeifen Ausdruck zu verleihen, dann sollten sie den diesjährigen Wahlkampf nutzen, um sich das Recht zum politischen Streik, zum Generalstreik, zu erkämpfen (mit oder ohne kapitalkonforme Gewerkschaftsführer) und dafür sorgen, dass jeder Gewerkschaftschef endlich "französisch" lernt.

Dem diesjährigen geheimen Treffen der international agierende Machtelite mit dem Namen "Bilderberg-Gruppe" vom 14.bis 17. Mai in Griechenland sollte besondere Aufmerksamkeit geschenkt werden, weil anzunehmen ist, dass diese seit einem halben Jahrhundert wohlweißlich das Licht der Öffentlichkeit scheuenden einflussreichen Kräfte dort auch den Fahrplan darüber abgestimmt haben, wie die Völker die Zeche für die Krise bezahlen sollen und wie nach dem Ende der Krise die neoliberale Politik nahtlos fortgesetzt werden kann.

Deshalb ist zu begrüßen, dass die Linke-Abgeordnete Gesine Lötzsch die Bilderberg-Konferenz im Bundestag thematisieren will. So könnte über eine parlamentarische Anfrage in Erfahrung gebracht werden. "welche Regierungsmitglieder bisher an diesen Konferenzen teilgenommen haben und inwiefern die Ergebnisse dieser Konferenzen Auswirkungen auf die Politik der Regierung hatten und haben". Lötzsch hat auch angeregt, dass die Wähler der entsprechenden Politiker, die an den Konferenzen teilgenommen haben, von ihnen darüber Rechenschaft verlangen sollen, wobei sie allerdings wenig Hoffnung hat, dass sie eine Antwort bekommen. Wer an dem jüngsten Treffen in Griechenland teilgenommen hat, ist noch unklar. Bei früheren Konferenzen waren aus Deutschland Guido Westerwelle (FDP), Friedbert Pflüger (CDU), Otto Schily (SPD) und Josef Ackermann zugegen. Der damalige Bundeskanzler Gerhard Schröder und die jetzige Kanzlerin Angela Merkel (CDU) sollen dem Treffen 2005 kurz beigewohnt haben.

Wie sehr die Bilderberger das Licht der Öffentlichkeit scheuen und wie gering deshalb die Chancen sind, von Teilnehmern wahrheitsgemäße Antworten zu bekommen, zeigen die Worte David Rockefellers auf der Konferenz in Baden-Baden im Juni 1991: "Wir sind der Washington Post, der New York Times dem Time-Magazin und anderen großen Publikationen dankbar, deren Direktoren seit fast vierzig Jahren unseren Treffen beigewohnt und ihre Versprechen der Verschwiegenheit gehalten haben. Es wäre für uns unmöglich gewesen, unseren Plan für die Welt zu entwickeln, wenn wir während dieser Jahre dem Licht der Öffentlichkeit ausgesetzt worden wären. Inzwischen aber ist die Welt höher entwickelt und darauf vorbereitet, einer Weltregierung entgegen zu gehen. Die supranationale Souveränität einer intellektuellen Elite und der Weltbanker ist mit Sicherheit einer nationalen Selbstbestimmung, so wie sie in vergangenen Jahrhunderten praktiziert wurde, vorzuziehen." Eine Erklärung, die an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig lässt und deshalb keines Kommentars bedarf.


Hans Fricke ist Autor des im August 2008 im Berliner Verlag am Park erschienenen Buches "Politische Justiz, Sozialabbau, Sicherheitswahn und Krieg", 383 Seiten, Preis 19,90 Euro, ISBN 978-3-89793-155-8


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Quelle:
© 2009 Hans Fricke, Rostock
mit freundlicher Genehmigung des Autors
    


veröffentlicht im Schattenblick zum 21. Mai 2009