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STANDPUNKT/933: Berliner Prioritäten - Teil 2 (german-foreign-policy.com)


Informationen zur Deutschen Außenpolitik - 13. März 2020
german-foreign-policy.com

Berliner Prioritäten (II)

Berlin lehnt auch nach dramatischem Börsencrash von der WHO empfohlene Maßnahmen gegen die Covid-19-Pandemie ab.


BERLIN - Auch nach dem gestrigen Börsenkollaps lehnt die Bundesregierung von der WHO dringend empfohlene Maßnahmen im Kampf gegen die Covid-19-Pandemie ab. Gestern war der Dax zum dritten Mal in nur zweieinhalb Wochen dramatisch abgestürzt - diesmal so stark wie zuvor lediglich im Oktober 1989. Eine Intervention der Europäischen Zentralbank (EZB) scheiterte. Bundesbank-Präsident Jens Weidmann weist explizit darauf hin, dass lediglich "die Eindämmung der Epidemie" aus der Krise helfen könnte; dazu wären jedoch laut Auffassung der WHO und nach Erfahrungen aus China drastische Quarantänemaßnahmen wie die Schließung von Schulen nötig, die allerdings von der Wirtschaft wegen kurzfristiger betrieblicher Ausfälle abgelehnt werden. Das Vorgehen der Bundesregierung ist umso erstaunlicher, als Bundesminister wie Jens Spahn (Gesundheit) oder Peter Altmaier (Wirtschaft) immer wieder bekräftigt haben, sie seien auf das Covid-19-Virus "gut vorbereitet" und hielten "wirtschaftliche Auswirkungen" für "eingrenzbar und beherrschbar". Wiederholte Warnungen der WHO wurden ignoriert.

"Gut vorbereitet"

Warnungen, das Covid-19-Virus könne sich über die gesamte Welt ausbreiten, wie auch Appelle, rasch und energisch Vorkehrungen zu treffen, um das zu verhindern, hatte die WHO früh geäußert. In Berlin trafen sie gewöhnlich auf große Selbstgewissheit: Man habe, hieß es stets, die Lage zuverlässig im Griff. Gesundheitsminister Jens Spahn bekräftigte Ende Januar, man sei für jeden Fall "gut vorbereitet"; zudem sei der Covid-19-Krankheitsverlauf "milder" als bei einer Grippe.[1] Der Präsident des Robert-Koch-Instituts (RKI), Lothar Wieler, erklärte, er halte die Gefahr durch das Virus für "sehr gering". Zur Abriegelung der am schlimmsten betroffenen Metropole Wuhan hieß es oft - nicht selten mit dem Unterton stolzer Überlegenheit -, was "das autoritäre China" dort durchführe, sei "in demokratisch regierten Staaten", darunter etwa in Deutschland, "schlicht undenkbar".[2] Zuweilen wurde die chinesische Coronakrise zum Anlass genommen, darüber zu spekulieren, ob sich in der Volksrepublik nicht womöglich genügend Unmut anstaue, um vielleicht den Sturz der Regierung herbeizuführen. So wurde etwa ein China-Experte mit der Behauptung zitiert, die Kommunistische Partei sowie ihr Vorsitzender Xi Jinping stünden wegen des Covid-19-Virus vor "einer existenziellen Krise".[3] Eigene Vorbereitungen auf das Virus standen weniger häufig zur Debatte.

Behördenversagen

Mitte Februar richtete sich dann der Präsident der WHO, Tedros Adhanom Ghebreyesus, sogar auf der Münchner Sicherheitskonferenz mit einem erneuten, nachdrücklichen Appell an die globale Öffentlichkeit. Die Welt sei auf Epidemien wie die aktuelle schlecht vorbereitet, warnte Tedros; es würden "Milliarden" zur Bekämpfung von Terrorismus ausgegeben - aber bei weitem nicht genug, um auf die Ausbreitung zum Beispiel gefährlicher Viren adäquat reagieren zu können. "Das ist gefährlich kurzsichtig", konstatierte der WHO-Präsident.[4] Besonders schwer wiege, dass die Finanzierung der notwendigen Maßnahmen gegen das Covid-19-Virus nur äußerst "schleppend" beginne; sogar unerlässliche Schutzkleidung sei oft nicht in ausreichendem Maße vorhanden. Alle Länder müssten ihre Vorbereitungen auf die Epidemie umgehend verstärken. Dass auch die Bundesrepublik die wiederholten Appelle insbesondere der WHO ignorierte und nicht im Geringsten angemessen vorbereitet war, zeigen viele Berichte über ausverkaufte Schutzkleidung, nicht vorhandenes Testequipment, überlastete Teststationen und nicht erreichbare Auskunftsstellen in staatlichen Einrichtungen. Das Robert-Koch-Institut, die zuständige Bundesbehörde, ist seit Tagen nicht einmal in der Lage, korrekte aktuelle Zahlen zum Stand der Erkrankungen zu liefern; wer verlässliche Angaben sucht, ist auf Landesministerien und private Medien angewiesen.

"Keine große Belastung"

Erstaunliche Selbstgewissheit legten Berliner Politiker auch bezüglich etwaiger Konsequenzen des Covid-19-Virus für die Wirtschaft an den Tag. Das Virus sei "eine ernstzunehmende Herausforderung ... für die Gesundheitspolitik", erklärte Bundeswirtschaftsminister Peter Altmaier am Tag nach dem Appell von WHO-Präsident Tedros, sich besser auf die Epidemie vorzubereiten. Man habe aber "in der Vergangenheit gesehen, dass wirtschaftliche Auswirkungen eingrenzbar und beherrschbar sind, wenn die Politik rechtzeitig und gut reagiert".[5] Man sei, bekräftigte Altmaier, "im Gespräch mit den betreffenden Wirtschaftsverbänden" und bereite sich "auf mögliche Fragen und Herausforderungen vor": "Im Augenblick glaube ich, dass dadurch keine große Belastung der Weltwirtschaft einhergeht." Anfang März erklärte Bundesfinanzminister Olaf Scholz, man habe, "wenn die Lage es erfordert, ... auch die Mittel, ein Konjunkturprogramm aufzulegen". Das jedoch sei noch nicht nötig: Man solle jetzt "keine Strohfeuer" entfachen, urteilte Altmaier.[6]

Börsencrashs

Dabei hatten Finanzexperten damals bereits vor einem Desaster gewarnt. Nach dem ersten großen Absturz des Dax, der am 24. Februar sämtliche seit Jahresbeginn erzielten Kursgewinne mit einem Schlag wieder zunichte gemacht hatte, urteilte der Chefvolkswirt der französischen Investmentgesellschaft Ostrum Asset Management, Philippe Waechter: "Die Märkte erkennen, dass mit den Mitteln der Wirtschaftspolitik der Krise nicht beizukommen ist."[7] An diesem Montag stürzten die Börsen erneut ab, wobei der Crash in diesem Fall durch den Ölkonflikt zwischen Saudi-Arabien und Russland mitverursacht wurde; der Dax fiel um 7,9 Prozent, der Dow Jones brach zeitweise um über acht Prozent ein, in Italien kollabierten die Kurse um elf Prozent. Gestern setzte sich der Zusammenbruch fort: Der Dow Jones fiel um 7,2 Prozent, der Dax sogar um 12,24 Prozent - der zweitgrößte Tagesverlust seit Oktober 1989. Der Absturz war stärker als diejenigen nach den Anschlägen vom 11. September 2001 und in der globalen Finanzkrise des Jahres 2008.

Was entscheidend wäre

Dabei gelang es auch der Europäischen Zentralbank (EZB) nicht, den beispiellosen Kollaps mit einer Intervention aufzufangen. "Die Volkswirtschaften des Euroraums sind mit einem massiven Schock konfrontiert", sagte EZB-Präsidentin Christine Lagarde gestern nach einer Sitzung des EZB-Rates, auf der das Institut Notkredite für kleinere und für mittlere Unternehmen in Aussicht stellte, die von der Coronakrise betroffen sind. Zudem kündigte die EZB an, bis Jahresende ihre Anleihekäufe um 120 Milliarden Euro auszuweiten. Entscheidend sei aber, erklärte Lagarde, das politische Vorgehen der jeweils betroffenen Staaten: "Alle Regierungen müssen an Deck sein und bereit zu handeln."[8] Bundesbank-Präsident Jens Weidmann schloss sich der Auffassung an, die Mittel der EZB seien begrenzt, da die Krisenursache nicht im Finanzsystem, sondern vielmehr in der Covid-19-Pandemie liege: "Entscheiden sind vor allem die Gesundheitsversorgung und die Eindämmung der Epidemie."[9]

Sterberate: 20 bis 25 Prozent

Diese freilich ist weiterhin nicht in Sicht. Mit Rücksicht auf kurzfristige Interessen der deutschen Wirtschaft verweigert die Bundesregierung weiterhin Schritte, die die WHO dringend empfiehlt, zumal es China mit ihnen tatsächlich gelungen ist, die Epidemie innerhalb von nur zwei Monaten einzudämmen: umfassende Quarantänemaßnahmen inklusive der Schließung von Schulen, von Kindergärten und von Betrieben (german-foreign-policy.com berichtete [10]). Sie werden bislang abgelehnt, da sie - Gewinne mindernd - Arbeitkräften aus den Betrieben abzögen. Gestern Abend rief Bundeskanzlerin Angela Merkel die Bevölkerung zwar dazu auf, so weit wie möglich auf Sozialkontakte zu verzichten; generelle Schulschließungen lehnt die Bundesregierung aber - sich damit in offenen Widerspruch zur WHO begebend - weiterhin ab. Dafür sollen ab Montag in den deutschen Krankenhäusern sämtliche planbaren Operationen verschoben werden, um ausreichend Raum für die zu erwartende Welle an Covid-19-Patienten zur Verfügung haben. Erst vor kurzem hat Christian Drosten, Virologe an der Berliner Charité, gewarnt, die Covid-19-Sterberate werde derzeit bei 70- bis 80-Jährigen im Bereich von sieben bis acht Prozent verortet. Bei Über-80-Jährigen liege sie bei 20 bis 25 Prozent.[11]


Anmerkungen:

[1] Spahn zu Coronavirus: "Wir sind gut vorbereitet". zdf.de 27.01.2020.

[2] Bernhard Zand: So gefährlich ist das Coronavirus für Chinas Machthaber. spiegel.de 24.01.2020.

[3] Friederike Böge: Ein Sturm millionenfacher Empörung. Frankfurter Allgemeine Zeitung 08.02.2020.

[4] Regierungen bekämpfen Coronavirus "gefährlich kurzsichtig". zeit.de 15.02.2020.

[5] "Es muss darum gehen, zu integrieren und nicht zu spalten". deutschlandfunk.de 16.02.2020.

[6] Konjunkturpaket gegen Corona-Delle? tagesschau.de 03.03.2020.

[7] Daniel Eckert, Holger Zschäpitz: Coronavirus trifft die Euro-Zone an ihrer empfindlichsten Stelle. welt.de 24.02.2020.

[8] Neue Kurseinbrüche an den Börsen. Frankfurter Allgemeine Zeitung 13.03.2020.

[9] "Wir haben getan, was eine Notenbank tun muss". Frankfurter Allgemeine Zeitung 13.03.2020.

[10] S. dazu Berliner Prioritäten
https://www.german-foreign-policy.com/news/detail/8214/

[11] Drosten: Senioren schützen, sonst könnten bis 25 Prozent der Erkrankten dieser Altersgruppe sterben. tagesspiegel.de 10.03.2020.

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Quelle:
www.german-foreign-policy.com
Informationen zur Deutschen Außenpolitik
E-Mail: info@german-foreign-policy.com


veröffentlicht im Schattenblick zum 14. März 2020

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