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STANDPUNKT/695: Abspaltung ist wunderbar (Uri Avnery)


Abspaltung ist wunderbar

von Uri Avnery, 7. Oktober 2017


MAN STELLE sich nur vor: Unter den Mizrahim in Israel ist eine neue Bewegung entstanden.

Sie erklärt, dass alle bestehenden Organisationen der Mizrahim (orientalische Juden) falsch seien. Dass sie alle von der Ashkenasim (europäische Juden)-Elite instrumentalisiert würden, um die Mizrahim zu unterwerfen. Dass die orientalische Shas-Partei ein Witz sei, besonders nach dem Tod von Rabbi Ovadia Josef, der ein echter Mizrahi-Führer war.

Sie erklärt, dass der Likud das geschickteste Instrument sei, um die Mizrahim klein zu halten. Dass die endlose Herrschaft Benjamin Netanjahus die Personifizierung der Ashkenasi-Elite sei, die die Machtlosigkeit der ignoranten Mizrahim-Massen symbolisiere, die ihn und seine ganze Ashkenasi-Bande an der Macht halte.


ALSO WIRD eine neue Mizrahi-Partei gegründet, die von energischen jungen Leuten angeführt wird, die eine schockierende revolutionäre Idee haben: die Abspaltung.

Ihr Plan ist, den Staat Israel in zwei Hälften zu teilen. Alles, was nördlich davon ist, bleibt im Besitz der Ashkenasim, alles was südlich davon ist, wird der neue souveräne Mizrahim-Staat, der Medinat Mizrah genannt wird.

Von hier aus können Sie Ihrer Fantasie freien Lauf lassen.


WO WÜRDE ich in einer solchen Situation wohl stehen? Wenn ich ernsthaft darüber nachdenke, finde ich mich in einer sehr zwiespältigen Lage.

Ich bin ein Ashkenasi. So aschkenasisch, wie man nur sein kann. Ich wurde in Deutschland geboren. Meine Familie hat seit Ewigkeiten dort gelebt. Doch habe ich mich nie als Ashkenasi bezeichnet. Allein die Idee, ein "Ashkenasi" zu sein, ist mir fremd.

Zumal ich eine tiefe Verbundenheit mit der misrachischen Gesellschaft empfinde. Die empfand ich schon, bevor vier junge Rekruten aus Marokko ihr junges Leben riskierten, um mein Leben im Krieg von 1948 zu retten. Ich fühlte mich von früher Kindheit an der orientalischen Kultur verbunden.

Wenn ich also mit einer starken orientalischen Abspaltungsbewegung konfrontiert wäre - wo würde ich da stehen? Ehrlich gesagt, ich weiß es nicht. Sicherlich würde ich nicht die israelische Armee und Polizei schicken, um sie daran zu hindern. Das wäre ohnehin unmöglich, wenn man bedenkt, dass die meisten Soldaten und Polizisten selbst Mizrahim sind.

Zum Glück ist die ganze Idee absurd. Sie kann nicht verwirklicht werden. Noch weniger als die Abspaltung der Kurden oder der Katalanen.


SELTSAMERWEISE sind die Kurden und die Katalanen zwei Völker, die ich schon immer mochte.

Ich weiß nicht, wann ich anfing, die Kurden zu mögen oder warum. In meiner Jugend wurden die Kurden als freundlich aber primitiv bezeichnet. Die sprachliche Wendung "Ana Kurdi" (arabisch für "Ich bin ein Kurde") bedeutete, dass ich eine einfache Person bin, die ihre Aufgabe erfüllt, ohne viele Fragen zu stellen.

Jüdische Immigranten aus dem irakischen Kurdistan sprachen mit Liebe über ihre früheren Gastgeber - ein seltenes Phänomen unter jüdischen Immigranten aus anderen Ländern.

In den 1950er Jahren lernte ich zufällig eine halb-geheime Zelle ägyptisch-jüdischer Emigranten in Paris kennen. Sie unterstützten den algerischen Unabhängigkeitskampf - eine Angelegenheit, die ich selbst eifrig unterstützte. Ihr Führer war Henri Curiel und eines ihrer Mitglieder war die junge ägyptisch-jüdische Joyce Blau, die auch eine leidenschaftliche Unterstützerin der kurdischen Sache war. Dies war auch das Thema ihrer akademischen Studien.

Durch sie erfuhr ich mehr über die kurdische Geschichte oder Tragödie. Obwohl Kurdistan ein geschlossenes Territorium ist, ist es in vier Stücke geteilt worden, die zu verschiedenen Staaten gehören: der Türkei, dem Iran, dem Irak und Syrien und weitere Gemeinden sind in andere Länder zerstoben.

Nach dem Ende des Ersten Weltkrieges gab es Anstrengungen, einen kurdischen Staat zu errichten, aber die Raubgier der Sieger und das neue Auftreten einer starken Türkei machte dies unmöglich. Die Kurden selbst waren nicht ganz schuldlos daran. Sie waren und sind durchweg nicht in der Lage, sich zu einigen. Ihre führenden Familien handeln gegeneinander.

Nachdem ich den "Israelischen Rat für algerische Unabhängigkeit" gegründet hatte, fand ich eine israelische Gruppe von Immigranten aus dem irakischen Kurdistan und wir gründeten zusammen den "Israelischen Rat für ein unabhängiges Kurdistan".

Als Mitglied machte ich einige unvergessliche Erfahrungen. Zweimal wurde ich zu Massenversammlungen der Kurden nach Deutschland eingeladen. Massenversammlungen im buchstäblichen Sinn - eine riesige Anzahl von Kurden aus ganz Europa spendete meiner Rede Beifall, ein Auftrieb für mein Ego.

Meine Bemühungen ließen nach, als ich entdeckte, dass hohe israelische Armeeoffiziere schon im irakischen Kurdistan waren und dort bei der Ausbildung der Peschmerga-("die dem Tod ins Auge sehenden")Guerillas mitwirkten. Das Motiv der israelischen Regierung für ihrer Aussendung war ziemlich zynisch: um den irakischen Staat zu unterwandern, getreu der römischen Maxime "Divide et impera", teile und herrsche.

Wie gelangten sie dorthin? Ganz einfach, sie standen unter dem wohlwollenden Schutz des iranischen Schahs. Doch eines Tages schloß der Schah Frieden mit Saddam Hussein - und das war das Ende dieses besonderen israelischen Projektes. Als der Schah gestürzt und der Iran Israels Todfeind wurde, wurde eine israelische Intervention in Kurdistan unmöglich.

Aber das Gefühl bleibt. Ich bin davon überzeugt, dass die Kurden Unabhängigkeit verdienen, besonders, wenn sie in der Lage sind, sich zu einigen. Da sie auch mit Öl-Reichtümern gesegnet - oder verflucht - sind, sind auch ausländische Interessen involviert.



AUSSER DASS ICH mit beiden sympathisiere, gibt es keine
Gemeinsamkeiten zwischen Kurden und Katalanen.

Katalonien ist ein hoch entwickeltes Land und während meiner mehreren kurzen Besuche dort fühlte ich mich wie zu Hause. Wie alle Touristen bummelte ich in der Rambla von Barcelona - beides sind übrigens hebräische Namen. Es sind Überbleibsel aus Zeiten, als Spanien eine Kolonie von Karthago war, einer Stadt, die von einem semitischen Volk aus Phönizien gegründet wurde, das eine Art Hebräisch sprach. Barcelona kommt von Barak (Blitz im Hebräischen) und Rambla aus dem Arabischen Ramle (sandig).

Das Problem ist: ich liebe auch andere Teile Spaniens, besonders Orte wie Cordoba und Sevillia. Es wäre schade, wenn Spanien auseinanderbrechen würde. Andrerseits kann man wirklich kein Volk daran hindern, die Unabhängigkeit zu erlangen, wenn es sie will.

Zum Glück fragt mich keiner.


DIE GRÖSSERE Frage ist, warum immer kleinere Völker die Unabhängigkeit wollen, während die Welt immer größere politische Einheiten schafft?

Es klingt so paradox - ist es aber nicht.

In dieser Generation sind wir Zeugen des Endes des Nationalstaates, der in der Weltgeschichte der letzten Jahrhunderte dominiert hat. Er war aus Notwendigkeit geboren. Kleine Länder waren nicht in der Lage, moderne Massenindustrien aufzubauen, die von einem großen heimischen Markt abhängen. Sie konnten sich nicht selbst verteidigen, denn moderne Armeen erforderten immer raffiniertere Waffen. Selbst die kulturelle Entwicklung hängt von größeren Sprachgebieten ab.

Darum schlossen sich Wales und Schottland England an, Savoyen und Sizilien schufen Italien, Korsika und die Provence schlossen sich Frankreich an. Kleine Nationalitäten schlossen sich größeren an. Es war nötig, um zu überleben.

Die Geschichte geht weiter, und nun ist selbst der Nationalstaat nicht mehr groß genug für den Wettbewerb. Staaten vereinigen sich zu immer größeren Einheiten wie z.B. die Europäische Union (EU). Ich hege keinen Zweifel, dass zum Ende dieses Jahrhunderts an ihrer Stelle eine effektive Weltregierung steht und die ganze Welt in einen einzigen Staat verwandelt wird. (Falls einige Außerirdische diese Welt bedrohen, wird dies nützlich sein).

Wie passt die Trennung in immer kleinere Staaten zu diesem Trend? Ganz einfach, wenn der spanische Staat für wirtschaftliche und militärische Zwecke nicht mehr notwendig ist und sich seine zentralen Aufgaben von Madrid nach Brüssel verlagern, warum sollte sich dann Katalonien und das Baskenland nicht von Spanien trennen und sich unter eigener Fahne der Union anschließen? Schauen wir nach Jugoslawien, oder sogar nach Russland. Deutschland ist die große Ausnahme, es ist allein groß genug.

Die beiden Prozesse widersprechen sich nicht. Sie ergänzen einander.

Der idiotische Brexit ist unhistorisch. Doch wenn die Schotten und die Walliser sich von England trennen wollen, wird es ihnen gelingen.

Ich habe großen Respekt vor der Macht des Nationalismus. In unserem Zeitalter hat es sich erwiesen, dass dieser stärker ist als die Religion, der Kommunismus oder jeder andere Glauben. Er ist am stärksten, wenn er sich mit der Religion verbindet wie in der arabischen Welt. So wird der Nationalismus kleiner Völker bei Fußballspielen Befriedigung finden, während die realen Geschäfte irgendwo anders geführt werden.


ZU DIESEM Zeitpunkt ist das israelische Parlament, die Knesset, dabei, ein neues Gesetz zu erlassen, das sich "Nation-Gesetz" nennt. Es soll verdeutlichen, dass im jüdischen Staat das Judentum Vorrang vor Demokratie und Menschenrechten hat.

Israel hat keine Verfassung, aber bis jetzt galt es als selbstverständlich, dass Israel gleichermaßen "jüdisch" und "demokratisch" ist. Das neue Gesetz ist dabei, diese Auffassung abzuschaffen.

Wie gewöhnlich hinken wir ein oder zwei Jahrhunderte hinter der Weltgeschichte her.



Copyright 2017 by Uri Avnery

(Aus dem Englischen: Ellen Rohlfs, vom Verfasser autorisiert)
Redigiert von der Schattenblick-Redaktion

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Quelle:
Uri Avnery, 07.10.2017
www.uri-avnery.de
Der Schattenblick veröffentlicht diesen Artikel mit der freundlichen
Genehmigung des Autors.


veröffentlicht im Schattenblick zum 10. Oktober 2017

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