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STANDPUNKT/674: Abe, Isaak & Bibi (Uri Avnery)


Abe, Isaak & Bibi

von Uri Avnery, 15. Juli 2017


DIE GANZE Sache hätte ein riesiger Witz sein können, wenn er nicht real gewesen wäre.

Ganz Israel wurde davon ergriffen, die Linke, die Rechte und das Zentrum. Alle Zeitungen und Fernsehsender, ohne Ausnahme.

Das war es also: Die UNESCO hat die Machpelah-Höhle in Hebron zum palästinensischen Weltkulturerbe erklärt.


ICH MUSS zugeben, auch ich bin reingefallen. Die Nachricht war so klar und so einfach, ihre Annahme so einmütig, dass auch ich das Undenkbare akzeptierte. Es stimmt, es war ein bisschen seltsam, aber es geschehen noch seltsamere Dinge.

Die "Höhle von Machpelah" ist gar keine Höhle. Es ist ein großes Gebäude, das die Araber Ibrahimiyah, die Moschee von Ibraham, nennen und das im Zentrum von Hebron liegt, das die Araber Al-Khalil nennen, der Freund Gottes (womit Abraham gemeint ist).

Der Bibel zufolge kaufte Abraham, der Stammvater der Juden, den Platz von dem dortigen Besitzer als Begräbnisort für seine Frau Sarah. Als seine Zeit kam, wurde auch er dort begraben, wie auch sein Sohn Isaak mit seiner Frau Rivka und sein Enkel Jakob mit seiner Frau Leah. (Seine andere Frau, Rachel, ist der Sage nach auf dem Weg nach Bethlehem begraben worden.)

Und jetzt kommt die UNESCO, der anti-semitische kulturelle Zweig der antisemitischen UN und erklärt, dass dies eine palästinensische heilige Stätte sei.

Kennt die Hetze gegen die Juden keine Grenze?

Ein Tsunami von Emotionen überschwemmte Israel. Die Juden vereinigten sich im Protest. Jeder machte seiner Wut so laut wie möglich Luft. Selten hat man hier eine solche Einmütigkeit gesehen.


WENN ich einen Augenblick lang nachgedacht hätte, wäre mir klargeworden, dass das Ganze Unsinn war. Die UNESCO teilt Orte nicht Nationen zu. Weltkulturerbe-Stätten sind das Erbe der ganzen Welt. Die Erklärung nennt das Land, in dem das Weltkulturerbe liegt, nur der Form halber.

Die heilige Kirche in Nazareth liegt in Israel, aber sie "gehört" nicht Israel. Die Gräber von heiligen jüdischen Rabbinern in Russland oder Ägypten gehören nicht Israel. Die UNESCO sagte nicht, dass die Machpelah-al Haram-Ibrahimi-Stätte den Palästinensern gehört. Sie hat nur gesagt, dass sie in Palästina liegt.

Warum Palästina? Weil nach internationalem Recht die Stadt Hebron ein Teil Palästinas ist, das von der UN als ein Staat unter Besatzung anerkannt wurde. Auch nach israelischem Recht ist Hebron nicht ein Teil des eigentlichen Israels, sondern unter militärischer Besatzung.

Ich bin einem ehemaligen Israeli mit Namen Ilan Landau dankbar, der in den USA lebt. Er machte sich die Mühe, den Originaltext zu lesen und sandte uns Emails, um unseren Eindruck zu korrigieren. In dem Augenblick, in dem ich dies las, schlug ich mir an die Stirn. Wie hatte ich nur so dumm sein können!

Der UNESCO-Beschluss ist fair und korrekt. Darin steht, dass die Stätte allen drei monotheistischen Religionen heilig ist. Und das ist sie tatsächlich. Aus diesem Grund hat ein jüdischer Fanatiker - ein Siedler aus Amerika - einmal Dutzende betender Muslime ermordet. Jüdische Fanatiker haben sich nebenan angesiedelt.


IST DER Ort wirklich heilig? Das ist eine dumme Frage. Ein Ort ist so heilig, wie die Menschen glauben, dass er heilig ist.

Liegen Abraham und seine Nachkommen wirklich hier begraben?

Selbst das ist irrelevant. Viele Leute - mich eingeschlossen - glauben, dass der erste Teil der Bibel bis zur assyrischen Ära fiktiv ist. Das macht die Bibel nicht weniger wunderbar. Sie ist das schönste Werk der Literatur auf Erden. Wenigstens in der originalen hebräischen Fassung.

Selbst wenn man glaubt, dass Abraham, Isaak und Jakob reale Personen waren, wäre es immer noch zweifelhaft, dass sie dort beerdigt worden sind. Eine ganze Schule von Archäologen glaubt, dass der Begräbnisplatz irgendwo anders in Hebron liegt und nicht unter dem Gebäude. Die Gräber dort sind die von muslimischen Scheichs.

Wie dem auch sei - Millionen glauben, dass die biblischen Vorfahren in der Höhle begraben liegen. Für sie ist die Stätte heilig und sie liegt mitten im besetzten Palästina.

Aber wenn man die Bibel wörtlich nimmt, dann sollte man auch den Vers 9 im 25. Kapitel der Genesis lesen: "Und Abraham verschied und starb in einem guten Alter ... Und seine Söhne Isaak und Ismael begruben ihn in der Machpelah-Höhle".

Wenn ich Leute, die israelische Schulen besucht haben, darauf aufmerksam machte, waren sie zu tiefst entsetzt. Weil dieser Vers in keiner israelischen Schule erwähnt wird. Er existiert nicht.

Warum? Weil Ismael der Stammvater der Araber ist, wie Isaak der Stammvater der Juden. Wir lernten, dass Sarah unsere Stammmutter ist, die in der Bibel als echtes Scheusal beschrieben wird und die ihren gehorsamen Mann, Abraham, dazu anstiftete, seine Konkubine Hagar und deren Sohn Ismael in die Wüste zu schicken, damit sie dort vor Durst sterben. Aber ein Engel rettete sie und sie verschwanden, obwohl es in der Bibel noch eine lange Liste seiner Söhne gibt.

Die Enthüllung, dass die Bibel tatsächlich das Gegenteil sagt, ist schockierend. Ismael ist nicht verschwunden, irgendwann im Laufe der Jahre schloss er mit Isaak Frieden. Die beiden Söhne beerdigten ihren Vater gemeinsam.

Dies verändert die Geschichte vollkommen. Es bedeutet, dass die Bibel auch die Araber zu rechtmäßigen Erben der Höhle von Machpela macht, Seite an Seite mit den Juden und den Christen.


ICH GLAUBE nicht, dass Binjamin Netanjahu jemals diesen Vers gelesen hat. Er kennt nur, was jeder israelische Schüler kennt: Die strenge orthodoxe Linie.

In dieser Woche auf der Höhe der UNESCO-Hysterie hat Netanjahu etwas Bizarres gemacht: Mitten in einer formellen Kabinettssitzung zog er aus seiner Tasche eine Kippah, setzte sie auf und fing an, aus der Bibel vorzulesen (natürlich, nicht den vorher erwähnten Vers). Er schaute absolut glücklich aus. Er zeigte den verdammten Goyims, dass sie alle Antisemiten sind.

Glaubt Netanjahu wirklich (wie ich vermute), dass dieser Teil der biblischen Legende Geschichte ist? Falls ja, dann hat er den Verstand eines Zehnjährigen. Falls nicht, dann ist er ein Betrüger. Auf jeden Fall ist er ein sehr fähiger Demagoge.

Aber er ist nicht allein - weit davon entfernt. Der Präsident von Israel, ein sehr netter Herr, wiederholte Netanjahus Anschuldigungen gegen die UNESCO. Ebenso der Knesset-Sprecher, ein Immigrant aus der Sowjetunion.

Es dauerte vier Tage, bis einige israelische Kommentatoren den wahren Text der UNESCO zitierten. Sie entschuldigten sich natürlich nicht, aber wenigstens begannen sie, den tatsächlichen Text zu lesen. Verlegen und leise schlossen sich ihnen einige andere Kommentatoren an. Die meisten ihrer Kollegen taten es nicht.

Eine besondere Erwähnung verdient Carmel Shama Hacohen, Israels Botschafter bei der UNESCO. Er ist nicht gerade als Pfeiler der Weisheit bekannt. Tatsächlich wurde er zur UNESCO geschickt, damit ein Protégé des Außenministers seinen Platz in der Knesset einnehmen konnte.

Während der UNESCO-Versammlung wurde Shama-Hacohen sehr aufgeregt. (sein wirklicher Name war nur Shama, aber da dieser zu arabisch klingt, fügte er den sehr jüdisch klingenden Namen Hacohen hinzu). Er begann eine laute Auseinandersetzung mit dem palästinensischen Botschafter, eilte dann zum Podium und schrie auch den Vorsitzenden an.


WILLIAM SHAKESPEARE hätte - abgesehen von zwei Punkten - all dies "Viel Lärm um nichts" genannt.

Der eine Punkt zeigt, wie leicht es ist, das ganze (jüdische) Israel, ohne Ausnahme in heiligen Zorn zu versetzen. Politiker und Kommentatoren von Links und Rechts, von Ost und West, Religiöse und Säkulare, vereinigt in einer wütenden Masse, selbst dann, wenn der Vorwand falsch ist.

Solch ein Ausbruch kann sehr ernste Folgen haben. Er löst alle inneren Bremsen.

Der andere Aspekt ist sogar noch gefährlicher.

Auf der Höhe des Tsunami kam es mir plötzlich, dass sich scheinbar alle sehr freuten. Und dann wurde mir klar, warum.

Hunderte Jahre lang wurden Juden in Europa verfolgt, deportiert und gefoltert. Es war ein Teil ihrer Realität. Sie waren daran gewöhnt. Antisemitismus jeglicher Art, einschließlich eines mörderischen, war ein Teil der Realität. Dem Sadismus der Gojim begegneten die Juden mit Masochismus.

(Wie ich es schon früher erwähnt habe, ist dies ein Teil der christlichen Kultur des Westens, die vielleicht von der Kreuzigungsgeschichte im Neuen Testament ausging. Im Islam gibt es das nicht, da der Prophet seine Anhänger ermahnte, die beiden anderen "Völker des Buches" - Juden und Christen zu schützen.)

Nach dem Zweiten Weltkrieg und dem Holocaust ist der alte bösartige europäische Antisemitismus verschwunden oder in den Untergrund abgetaucht. Aber Juden haben sich nicht daran gewöhnt. Sie sind sicher, dass er irgendwo wieder auftaucht. Wenn es geschieht oder wenn es scheinbar geschieht, neigen Juden zu dem Gefühl: "Ich sagte es euch ja!"

In Israel ist dies noch komplexer. Der Zionismus hatte gehofft, er könnte die Juden von ihren "Exil-Komplexen" befreien, uns in ein normales Volk verwandeln, "ein Volk wie andere Völker".

Es scheint, dass dies nicht ganz erfolgreich gewesen ist. Oder dass der Erfolg unter der Führung Netanjahus und seinesgleichen geschwunden ist.

Diese Episode hat viele Juden glücklich gemacht. Sie sagen sich: "Wir haben Recht! Alle Goyim sind Antisemiten!"



Copyright 2017 by Uri Avnery

(Aus dem Englischen: Ellen Rohlfs, vom Verfasser autorisiert)
Redigiert von der Schattenblick-Redaktion

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Quelle:
Uri Avnery, 15.07.2017
www.uri-avnery.de
Der Schattenblick veröffentlicht diesen Artikel mit der freundlichen
Genehmigung des Autors.


veröffentlicht im Schattenblick zum 18. Juli 2017

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