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STANDPUNKT/633: Der große Riss (Uri Avnery)


Der große Riss

von Uri Avnery, 24. Februar 2017


ICH GLAUBE, ich war der erste, der den Vorschlag machte, dass der Soldaten Elor Azaria, der Killer von Hebron, begnadigen werden sollte.

Aber dieser Vorschlag wurde von mir an mehrere Forderungen geknüpft: erstens, dass der Soldat offen und uneingeschränkt sein Verbrechen gesteht, dass er sich entschuldigt und dass er zu vielen Jahren Gefängnis verurteit wird.

Ohne diese Bedingungen käme jeder Gnadengesuch des Soldaten einer Billibung seines Handelns gleich und wäre eine Einladung zu noch mehr Kriegsverbrechen.

Der Unteroffizier Azaria, Sanitäter in einer Kampfeinheit, erschien auf der Bildfläche, nachdem ein Anschlag im Zentrum einer jüdischen Enklave in der alten Stadt Hebron begangen worden war. Zwei junge Palästinenser hatten einen Armee-Kontrollpunkt mit Messern angegriffen und wurden erschossen. Wir wissen nicht wie der eine starb, aber der zweite wurde von einer der Kameras gefilmt, die den Einheimischen von der wunderbaren israelischen Anti-Besatzungsorganisation B'Zelem zur Verfügung gestellt worden waren.

Die Kamera zeigt, dass der Angeschossene schwer verletzt, bewegungslos auf dem Boden liegt und blutet. Dann, etwa zwölf Minuten später, erschien Azaria, der vorher nicht anwesend war, auf der Bildfläche. Er steht weniger als einen Meter von dem verletzten Araber entfernt und schießt ihm geradewegs in den Kopf, womit er ihn sofort tötet.

Das israelische Fernsehen veröffentlichte den fotografischen Beweis (eine Tatsache, die nicht vergessen werden darf) und ließ damit der Armee keine Wahl. In einer zivilisierten Armee ist es ein Verbrechen, einen hilflosen Feind zu töten. Azaria wurde des Totschlags - nicht des Mordes - angeklagt.

Vom gesamten rechten Flügel wurde er sofort zum Nationalhelden erklärt. Die Politiker, einschließlich Benjamin Netanjahu und der gegenwärtige Verteidigungsminister Avigdor Lieberman, beeilten sich, sich seiner anzunehmen.

Azaria wurde für schuldig erklärt. In einem scharf formulierten Urteil stellte das Militärgericht fest, dass seine Zeugenaussage nur aus Lügen bestand.

Das Urteil verursachte einen Sturm des Protestes im ganzen rechten Flügel. Das Gericht wurde verflucht und zum wahren Angeklagten. Diesem Sturm ausgeliefert, knickte das Gericht ein und verurteilte Azaria diese Woche zu einer lächerlichen Gefängnisstrafe von 18 Monaten. Das ist die übliche Strafe für arabische Jugendliche, die Steine geworfen haben, ohne dabei jemanden zu verletzen.

Azaria hat sich nicht entschuldigt. Weit entfernt.

Stattdessen standen seine Familie und seine Bewunderer im Gerichtssaal auf und sangen die Nationalhymne.


DIESE GERICHTSSAAL-Szene wurde das Bild des Tages. Es war eindeutig eine Demonstration gegen das Militätgericht, gegen das Oberkommando der israelischen Armee und gegen die gesamte demokratische Struktur des Staates.

Aber für mich war es noch viel, viel mehr.

Es war die Unabhängigkeitserklärung eines anderen israelischen Volkes. Es war das Auseinanderbrechen der israelischen Gesellschaft in zwei Teile, zwischen denen die Spannungen von Jahr zu Jahr krasser geworden waren.

Die zwei Teile haben immer weniger gemein. Sie nehmen vollkommen unterschiedliche Haltungen gegenüber dem Staat, seinen moralischen Grundlagen, seiner Ideologie und seiner Struktur ein. Aber bisher wurde akzeptiert, dass jenseits jeder Kontroverse wenigstens eine fast heilige Institution über der Auseinandersetzung stand: die israelische Armee.

Die Azaria-Affäre demonstriert, dass dieses letzte Symbol der Einheit jetzt zerbrochen ist.


WER SIND diese Lager? Welches ist der am tiefsten liegende Grundbestandteil dieser Spaltung?

Es gibt keine andere Erklärung: es ist der ethnische Faktor.

Jeder versucht dieser Tatsache auszuweichen. Berge von Euphemismen sind schon errichtet worden, um ihn zu verstecken. Jeder ist ängstlich, schreckt vor den Konsequenzen zurück. Heuchelei ist ein wesentlicher Verteidigungsmechanismus.

Da gibt es jetzt zwei jüdisch-israelische Völker. Sie verachten einander inbrünstig.

Das eine wird Aschkenazim genannt, ein Abkömmling des alten hebräischen Ausdrucks für Deutschland. Es umfasst alle Israelis mit europäischer und amerikanischer Herkunft, die noch an den alten westlichen Werten festhalten oder so tun als ob.

Die anderen sind die Mizrahim (die "östlichen"). Sie wurden einmal irrtümlicherweise Sepharadim ("Spanier") genannt, aber nur wenige von ihnen sind tatsächlich die Nachkommen der vor etwa 700 Jahren aus Spanien vertriebenen Juden. Die große Mehrheit dieser Vertriebenen ging lieber in muslimische Länder als nach Europa.

Die Mizrahim-Gemeinde umfasst alle Israelis, deren Familien aus Ländern von Marokko bis zum Iran nach Israel gekommen sind.

Es ist eine historische Tatsache, dass Juden in Europa oft misshandelt wurden und in islamischen Ländern selten. Aber die Ashkenazim sind stolz auf ihr europäisches Erbe (obwohl sie sich tatsächlich immer mehr davon entfremden), während es für die Mizrahim keine schlimmere Beleidigung gibt, als mit den Arabern verglichen zu werden.

Wie ist die Kluft entstanden? Die zionistische Bewegung wurde hauptsächlich von den Ashkenazim geschaffen, die vor dem Holocaust die überwiegende Mehrheit der Juden in der Welt darstellten. Natürlich trugen sie auch am meisten zu der neuen zionistischen Gemeinschaft in Palästina bei, in der es aber auch herausragende Mizrahim-Persönlichkeiten gibt.

Die tiefe Spaltung begann schon gleich nach den Krieg von 1948. Wie ich schon oft erwähnt habe, war ich einer der ersten, die das voraussahen. Als ich ein Führer einer Gruppe im Krieg war, befehligte ich Freiwillige aus Marokko und anderen Mittelmeerländern, (die übrigens mein Leben retteten, als ich schwer verwundet war). Ich wurde Zeuge des Beginns des Risses und warnte das Land im Jahr 1949 in einer Reihe von Artikeln.

Wer war daran schuld? Beide Seiten. Aber die Ashkenazim kontrollierten alle Aspekte des Lebens, ihr Anteil an der Schuld ist sicher viel größer.

Da die beiden Gemeinschaften aus sehr verschiedenen Kulturen kamen, war es vielleicht unvermeidlich, dass sie sich in vielen Lebensbereichen voneinander unterschieden.

Aber damals waren alle von der Welt der zionistischen Mythen berauscht und nichts wurde getan, um dieses Disaster zu vermeiden.

Heutzutage sehen sich die Mizrahim selbst als "das Volk", die wahrhaft (jüdischen) Israelis. Sie hassen die Ashkenazim, die sie als die "Elite" bezeichnen. Sie glauben auch, dass sie die große Mehrheit sind.

Das stimmt allerdings nicht. Die zwei Gemeinden auf beiden Seiten des Grabens sind mehr oder weniger gleich groß, da russische Einwanderer, ultraorthodoxe Juden und arabische Bürger getrennte Einheiten bilden.

Ein spannendes Thema betrifft die Mischehe. Es gibt viele und ich dachte einmal, dass sie die Kluft von sich aus überbrücken würden. Doch das geschah nicht. Eher schließt sich jedes Paar der einen oder der anderen Gemeinde an.

Die Linien sind nicht klar gezogen. Es gibt viele Mizrahim - Professoren, Mediziner, Architekten und Künstler -, die sich den "Eliten" angeschlossen haben und sich als ein Teil davon fühlen. Viele Ashkenazim-Politiker (besonders im Likud) benehmen sich so, als ob sie zum "Volk" gehören, und hoffen bei Wahlen mehr Stimmen zu bekommen.

Die Likud-Partei ("Vereinigung") ist ein Phänomen für sich. Die überwiegende Masse seiner Mitglieder und der Wähler sind Mizrahim. Tatsächlich ist sie die Mizrahim-Partei par Exellence. Aber beinahe all ihre Führer sind Ashkenazim. Netanjahu benimmt sich als wäre er beides.


ZURÜCK ZU Azaria. Öffentliche Meinungsumfragen sagen uns, dass für die große Mehrheit der Mizrahim das Töten eines schwer verwundeten "Terroristen" richtig sei. Nach dem Gesang im Gerichtssaal küsste sein Vater ihn und rief aus: "Du bist ein Held!" Für viele Ashkenazim aber war seine Tat ein jämmerlicher Akt von Feigheit.

Ein Opfer der Affäre ist der Stabschef Gadi Eisenkot. Bis vor kurzem war er die populärste Person im Land. Jetzt wird er von den Mizrahim als verächtlicher Lakai der aschkenasischen "Elite" verdammt. Doch trotz seines so deutsch klingenden Namens ist Eisenkot morokkanischer Abstammung.

Er schuf die Armee nicht so, wie sie ist. Er übernahm sie so.

Seit mehr als 40 Jahren hat die Armee keinen richtigen Krieg mehr gegen ein richtiges Militär geführt. Sie ist zu einer kolonialen Polizeitruppe verkommen, zum Instrument eines Systems, das ein anderes Volk unterdrückt. Im Rahmen dieser Aufgabe werden täglich Brutalitäten begangen.

Erst vor Kurzem wurde ein unschuldiger arabischer Lehrer, ein Beduine aus Israel, durch Zufall in einen Zwischenfall verwickelt, als die Polizei mit der lokalen Bevölkerung zusammenstieß. Sie schossen auf den Lehrer im Irrglauben, er sei im Begriff, sie zu überfahren.

Der Mann war schwer verletzt und blutete und die Polizisten standen um ihn herum. Die Ambulanz wurde nicht gerufen. Langsam verblutete er. Es dauerte 20 Minuten.

Nur ein Soldat von höchster menschlicher Qualität, der in einer gesunden humanen Familie aufgewachsen ist, hat genügend Widerstandskräfte gegen eine derartig brutalisierende Wirkung. Zum Glück gibt es deren viele.


ICH GLAUBE, dass dort die Lösung liegt. Wir müssen die Besatzung mit allen verfügbaren Mitteln los werden - je schneller, desto besser.

Jeder wahre Freund Israels in der ganzen Welt muss seinen Beitrag dazu leisten.

Nur dann können wir uns unseren geistigen und sozialen Ressourcen widmen, um die große Kluft zu überbrücken und zu dem Volk zu werden, das viele von uns gerne wären.

Und dann können wir die Nationalhymne mit gutem Gewissen singen.



Copyright 2017 by Uri Avnery

(Aus dem Englischen: Ellen Rohlfs, vom Verfasser autorisiert)
Redigiert von der Schattenblick-Redaktion

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Quelle:
Uri Avnery, 24.02.2017
www.uri-avnery.de
Der Schattenblick veröffentlicht diesen Artikel mit der freundlichen
Genehmigung des Autors.


veröffentlicht im Schattenblick zum 28. Februar 2017

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