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STANDPUNKT/573: Die Zukunft gehört den Optimisten (Uri Avnery)


Die Zukunft gehört den Optimisten

von Uri Avnery, 13. August 2016


WENN ICH ein Karikaturist wäre, würde ich Israel als langen Schlauch zeichnen.

Angespornt von Antisemiten und einem großen zionistischen Apparat, fließen an einem Ende Juden hinein.

Am anderen Ende strömen junge enttäuschte Israelis hinaus und siedeln sich in Berlin und an anderen Orten an.

Übrigens scheint sich die Zahl der Einreisenden und die Zahl der Ausreisenden ungefähr die Waage zu halten.


SEIT EINIGEN Wochen fühle ich mich wie ein Junge, der einen Stein in einen Teich geworfen hat. Die Wasserringe, die durch den Aufschlag entstanden sind, werden größer und dehnen sich immer weiter aus.

Alles, was ich tat, war einen kurzen Artikel in Haaretz zu schreiben, der den israelischen Emigranten in Berlin und in anderen Orten zurief, nach Hause zu kommen und am Kampf teilzunehmen, um Israel vor sich selbst zu retten.

Ich räumte bereitwillig ein, dass jeder Mensch das Recht hat, selbst zu entscheiden, wo er leben will (vorausgesetzt die örtlichen Behörden heißt ihn Willkommen), doch ich rief sie dazu auf, ihre Heimat nicht aufzugeben. Kommt zurück und kämpft, bat ich sie inständig.

Ein Israeli, der in Berlin lebt, der Sohn eines bekannten israelischen Professors (den ich sehr schätze), antwortete mir mit einem Artikel mit der Überschrift: "Nein danke!" Er machte geltend, dass er schließlich an Israel und seinen ewigen Kriegen verzweifelt sei. Er wünsche sich für seine Kinder, dass sie in einem normalen, friedlichen Land aufwachsen.

Das brachte eine wütende Debatte in Gang, die noch andauert.


WAS AN diesem Wortgefecht neu ist, ist, dass beide Seiten ihre Heuchelei aufgeben.

Seit den ersten Tagen Israels hat es immer Israelis gegeben, die lieber wo anders lebten. Doch gaben sie immer vor, ihr Aufenthalt im Ausland sei nur vorübergehend, um ihre Studien zu beenden, um etwas Geld zu verdienen, um ihre nicht-israelischen Ehepartner zu überzeugen. Bald, sehr bald sogar würden sie zurückkehren und zu vollwertigen Israelis werden.

Nicht mehr. Die heutigen Emigranten proklamieren stolz, dass sie nicht mehr hier leben und ihre Kinder aufziehen wollen, dass sie schließlich an Israel verzweifelt seien und dass sie ihre Zukunft im neuen Heimatland sehen. Sie geben nicht einmal vor, dass sie den Plan hätten, zurückzukommen.

Andererseits haben Israelis aufgehört, die Emigranten wie Verräter, Deserteure, Abschaum der Menschheit zu behandeln. Vor noch nicht langer Zeit nannte Yitzhak Rabin, der ein Talent hatte, hebräische Phrasen zu erfinden, die Emigranten noch "Abfall an Schwächlingen" (Im Hebräischen klingt es weit beleidigender).

Die fast offizielle Bezeichnung der Emigranten war "Yordim", diejenigen, die hinuntergehen. Immigranten werden "Olim" genannt, diejenigen, die nach oben gehen.

Heute werden Emigranten nicht mehr verflucht - was auch schwerfiele, weil viele von ihnen Söhne oder Töchter der israelischen Elite sind.


ES GAB eine Zeit, als es in Israel, besonders unter Historikern, Mode war, Vergleiche zwischen Israel und dem mittelalterlichen Kreuzfahrer-Königreich zu ziehen.

Die meisten Leute glauben, dass das Kreuzfahrer-Königreich von Jerusalem etwa hundert Jahre Bestand gehabt habe und vom großen Saladin in der historischen Schlacht bei den Hörnern von Hattim, nahe Tiberias, zerstört worden sei.

Aber das war nicht der Fall. Das Königreich existierte noch weitere hundert Jahre ohne Jerusalem und mit Acco als Hauptstadt. Es wurde nicht durch eine Schlacht zerstört, sondern durch Auswanderung. Es gab einen steten Strom von Kreuzfahrern - sogar Söhne und Töchter der 6. oder 7. Generation - die, als sie von dem Unternehmen enttäuscht waren, Schluss machten und nach Europa "zurückkehrten".

Natürlich sind die Unterschiede zwischen den beiden Fällen immens - verschiedene Zeiten, verschiedene Situationen, verschiedene Ursachen. Doch für mich, einen dilettantischen Studenten der Kreuzzüge, sind die Ähnlichkeiten bedeutend. Ich bin beunruhigt.

Unter Historikern gab es eine Debatte über eine wichtige Frage: Hätten die Kreuzfahrer mit den Muslimen Frieden schließen und ein integraler Teil des mittelalterlichen Orients werden können?

Wenigstens ein prominenter Kreuzfahrer, Raymond von Tripoli, scheint einen solchen Verlauf für möglich gehalten zu haben, doch allein die Natur des Kreuzfahrerstaates verhinderte dies. Schließlich kamen die Kreuzfahrer deshalb nach Palästina, um die Ungläubigen zu bekämpfen (und ihr Land wegzunehmen). Mit Ausnahme einiger kurzer Waffenstillstände, kämpften sie vom ersten bis zum letzten Tag.

Die Zionisten sind bis jetzt diesem Weg gefolgt. Wir sind unaufhörlich in Kriege verwickelt. Einige schwache Anstrengungen einiger Zionisten am Ort gleich zu Beginn, eine Allianz mit den Arabern gegen die osmanischen Türken (die damals das Land regierten) zu schmieden, wurden von der zionistischen Führung ignoriert und wir sind immer noch in Kämpfe verwickelt. (Erst heute, als ich die Morgenzeitung las, bemerkte ich wieder, dass etwa 70 Prozent der Nachrichten direkt oder indirekt den zionistisch-arabischen Konflikt betreffen.)

Es stimmt, von der Zeit vor der Gründung Israels an bis zum heutigen Tag hat es immer Stimmen gegeben (darunter auch meine), die die Integration in die Region befürwortet haben, aber sie wurden von den israelischen Regierungen ignoriert. Alle jeweiligen Führer zogen einen ständigen Konflikt-Zustand vor, der Israel ermöglicht, sich ohne Grenzen auszudehnen.


BEDEUTET DIES, dass wir an unserem Staat verzweifeln müssen, wie es diese Jugendlichen in Berlin tun?

Meine Antwort ist: überhaupt nicht. Nichts ist vorherbestimmt. Wie ich unseren Freunden Unter den Linden zu sagen versuche - alles hängt von uns ab.

Aber zuerst müssen wir uns selbst fragen: Welche Art von Lösung wollen wir?

Meine Freunde und ich gewannen einen historischen Sieg, als unser Konzept - Zwei Staaten für zwei Völker - zum Weltkonsens wurde. Aber jetzt haben einige Leute erklärt, dass "die Zwei-Staaten-Lösung" tot sei.

Dies verwundert mich. Wer ist der Arzt, der den Totenschein ausstellte? Aus welchen Gründen? Es gibt viele unterschiedliche Formen, die eine Lösung hinsichtlich der Siedlungen und Grenzen annehmen kann. Wer hat entschieden, dass sie alle unmöglich sind?

Nein, der Totenschein ist eine Fälschung. Das Zwei-Staaten-Ideal lebt, weil es die einzige lebenswerte Lösung hier ist.


ES GIBT zwei Arten von hoch motivierten politischen Kämpfern: diejenigen, die nach idealen Lösungen Ausschau halten und jene, die sich für realistische Lösungen einsetzen.

Die erste Art ist bewundernswert. Sie glauben an eine ideale Lösung, die in der Praxis von idealen Leuten unter idealen Umständen ausgeführt werden kann.

Ich unterschätze solche Leute nicht. Manchmal bereiten sie den theoretischen Weg für Leute vor, die ihren Traum nach zwei oder drei Generationen realisieren.

(Ein Historiker schrieb einmal, dass jede Revolution mit der Zeit irrelevant geworden ist, wenn sie ihre Ziele erreicht hat. Einige Theoretiker der einen Generation legen das Fundament, in der nächsten Generation gewinnt die Idee Anhänger, und wenn sie endlich von der dritten Generation verwirklicht wird, ist sie bereits veraltet.)

Ich will mich für eine realistische Lösung einsetzen - eine Lösung, die von realen Leuten in der realen Welt ausgeführt werden kann.

Die Ein-Staat-Lösung ist ideal aber unrealistisch. Sie könnte real werden, wenn alle Juden und alle Araber nette Leute wären, einander umarmen, ihren Groll vergessen, zusammen leben wollen, dieselbe Flagge grüßen, dieselbe Nationalhymne singen, in derselben Armee und Polizei dienen, denselben Gesetzen gehorchen, dieselben Steuern zahlen, ihre religiösen und historischen Narrative ändern, vorzugsweise einander heiraten. Das wäre schön. Vielleicht sogar möglich - in fünf oder gar zehn Generationen.

Wenn nicht, würde die Ein-Staat-Lösung einen Apartheidsstaat bedeuten, ständigen Krieg im Inneren, viel Blutvergießen, vielleicht am Ende einen Staat mit arabischer Mehrheit und jüdischer Minderheit, die noch dazu durch ständige Auswanderung weiter vermindert würde.

Die Zwei-Staaten-Lösung ist nicht ideal, aber realistisch. Sie bedeutet, dass jedes der beiden Völker in seinem eigenen Staat leben kann, den es sein eigen nennt, unter der eigenen Flagge, mit eigenen Wahlen, eigenem Parlament und Regierung, eigener Polizei und eigenem Bildungssystem, seinem eigenen Olympia-Team.

Die beiden Staaten werden - freiwillig oder notwendigerweise - gemeinsame Institutionen haben, die sich im Laufe der Zeit und von selbst von einem notwendigen Minimum zu einem viel größeren Optimum entwickeln werden. Vielleicht werden sie sich einer Föderation annähern, wenn sich die gegenseitigen Beziehungen erweitern und der gegenseitige Respekt sich vertieft.

Wenn die Grenzen zwischen den beiden Staaten erst einmal festliegen, wird sich das Problem der Siedlungen lösen lassen - einige werden sich durch Landtausch Israel anschließen, einige werden ein Teil Palästinas werden oder aufgelöst werden, militärische Beziehungen und gemeinsame Verteidigung werden von den realen Umständen gestaltet.

Alles das wird äußerst schwierig werden. Wir wollen uns keine Illusionen machen. Aber es kann von realen Menschen ausgearbeitet werden und ist in einer realen Welt möglich.


FÜR EBEN diesen Kampf rufe ich die Söhne und Töchter, die neue israelische Diaspora, in Berlin und in aller Welt auf, nach Hause zu kommen und sich wieder mit uns zu verbinden.

Verzweiflung ist einfach, sie ist auch bequem, ob in Berlin oder Tel Aviv. Wenn wir uns in diesem Moment umschauen, dann ist Verzweiflung auch durchaus logisch.

Aber Verzweiflung korrumpiert. Verzweifelte Menschen schaffen nichts, das haben sie noch nie getan.

Die Zukunft gehört den Optimisten.



Copyright 2016 by Uri Avnery

(Aus dem Englischen: Ellen Rohlfs, vom Verfasser autorisiert)
Redigiert von der Schattenblick-Redaktion

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Quelle:
Uri Avnery, 13.08.2016
www.uri-avnery.de
Der Schattenblick veröffentlicht diesen Artikel mit der freundlichen
Genehmigung des Autors.


veröffentlicht im Schattenblick zum 16. August 2016

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