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STANDPUNKT/566: Was zum Teufel (Uri Avnery)


Was zum Teufel

von Uri Avnery, 2. Juli 2016


Was zum Teufel ist mit ihnen geschehen? Sind sie durchgedreht? Ausgerechnet die Briten?

Ich war immer ein Anglophiler. Auch als Jugendlicher, als ich Mitglied einer Terroristen-Organisation war, die die Briten aus unserem Land vertreiben wollte. Damals arbeitete ich im Büro eines Rechtsanwaltes, der englische Kunden hatte. Die meisten von ihnen mochte ich. (Für uns waren alle Briten "Engländer".)

Die Briten beeindruckten mich, weil sie ein höchst rationales Volk waren: Selbstbeherrscht, gemäßigt, der Zurschaustellung von Gefühlen abgeneigt.

Und nun sind ausgerechnet sie es, die in einer Angelegenheit von historischer Bedeutung eine völlig irrationale Entscheidung treffen, weil sie sich bei ihrer Abstimmung von ihrer Abneigung gegen "Fremde" leiten und in die Irre führen lassen.


DIESER GANZE Vorgang war so unbritisch, wie er nur sein kann.

Die Briten rühmen sich, die moderne Demokratie erfunden zu haben. Ihre "Elite" hatte sich nie Illusionen über den Normalbürger (und viel später dann die Normalbürgerin) gemacht. Britische Wähler trafen keine schicksalhaften Entscheidungen. Sie wählten Menschen, die kompetenter sind als sie, um die schicksalhaften Entscheidungen zu treffen, Menschen, die für diese Aufgabe geschult wurden. Eigentlich sogar Menschen, die für diese Aufgabe geboren wurden.

Die demokratisch gewählten Führer des britischen Volkes zeigten oft kaum verhehlte Verachtung denjenigen gegenüber, die sie gewählt hatten. Winston Churchill, der Inbegriff eines britischen Führers, sagte den berühmten Satz: "Das beste Argument gegen die Demokratie ist ein fünfminütiges Gespräch mit dem Durchschnittswähler."

Deshalb widerspricht jede Art von Volksabstimmung dem Charakter der britischen Demokratie. Ein Referendum ist eine Einladung zur Verantwortungslosigkeit. Eine Person folgt ihren flüchtigen Emotionen, am nächsten Tag könnte sie für das genaue Gegenteil stimmen - wenn es zu spät ist. Eine spontane "Ja"- oder "Nein"-Stimme kann bei vielen Menschen zufallsbedingt sein - besonders, wenn das Ergebnis von ein oder zwei Prozentpunkten abhängt. (Ein Referendum sollte mindestens eine Mehrheit von 75 oder 60 Prozent aufweisen.)

Das Referendum der letzten Woche zeigte, weshalb Referenden unverantwortlich sind. Eine Mehrheit - wenn auch nur eine dünne Mehrheit - der Briten stimmte demokratisch für den Austritt aus der Europäische Union.

Warum um Himmels willen?

Inzwischen wurden Tausende von Kommentaren ausgestrahlt und gedruckt. Tausende von Erklärungen wurden veröffentlicht. Aber am Ende läuft alles auf einen Punkt hinaus: Die Briten hatten von all diesen Franzosen und Deutschen und anderen "Ausländern", die ihnen sagen wollen, was sie für ihr eigenes Wohlergehen tun sollen, die Nase voll. Zum Teufel mit ihnen.

Ich habe noch das wunderschöne britische Plakat nach dem Fall Frankreichs im Jahre 1940 vor Augen: "Also gut, alleine!" Briten meiner Generation werden sich für immer an den Sinn dieses Mottos erinnern.

Aber jetzt ist nicht 1940. Die Welt hat sich weiterbewegt. Die Welt bewegt sich immer weiter. Der "Brexit" kann ein schönes Spielzeug sein. Aber er ist verhängnisvoll.


VON ALL den vielen Erklärungen, die zu dieser Entscheidung präsentiert wurden, ist die überzeugendste, dass es in der gesamten demokratischen Welt eine wachsende Abneigung, ja sogar Aversion, gegen das vorhandendene politische Establishment gibt.

Viele britische Wähler, so scheint es, stimmten nicht für oder gegen den Brexit, sondern für oder gegen die etablierten Parteien.

Dieses Empfinden beflügelt überall extrem faschistische - und in einigen Ländern auch radikale linke Parteien. Donald Trump ist das misratene Kind davon. In einer angenehmeren Form ist es Bernie Sanders auch.

In Israel haben wir dasselbe Gefühl, nur noch stärker. Der spontane Aufschrei, der am Tag nach dem Yom Kippur-Krieg von 1973 erscholl: "Genug!, wir haben die Nase voll von euch!" (oder "Genug! Ihr widert uns an!"), der Golda Meir and Moshe Dayan zum Rücktritt zwang, ist heute weiter verbreitet denn je zuvor.

Die demokratische Welt hat die Nase voll vom Establishment. Überall werden Politiker als korrupte Diener der Ultra-Reichen oder zumindest als "abgehoben" angesehen.

Die Brexit-Abstimmung ist Teil dieses weltweiten Trends. Er ist ein Protestvotum, das kaum etwas mit dem Thema des Referendums zu tun hat. Die EU wird als Verkörperung der oberen Klasse, der elitären, undemokratischen Bürokratie, eine Kopie der einheimischen "Elite" angesehen. Also, weg mit ihr!

Das ist ein kindisches Verhalten. Ein Hosenmatz, der seine Mutter tritt.



ABER ES ist mehr als das. Bedeutend mehr.

Es ist der letzte Widerstand des Nationalismus, ein Schritt zurück für die Menschheit.

Ich bin ein Nationalist. Ich glaube, dass sich die Menschheit immer noch im Stadium nationaler Identität befindet. Ich glaube, dass im gegenwärtigen Stadium der menschlichen Bestrebungen kein Glaube oder "- ismus" den Nationalismus überwinden kann.

Der Kommunismus versuchte es und scheiterte nach einem Jahrhunderte langen Kampf. Der Faschismus versuchte, übernational zu werden, versuchte es und scheiterte. Die christliche Religion hat es versucht und scheiterte. Wo auch immer diese und andere Überzeugungen versucht haben, sich gegen den Nationalismus zu stellen, wurden sie niedergeschmettert.

Vielleicht war das eklatanteste Beispiel der Kommunismus. Als die Sowjetunion von Deutschland angegriffen wurde, fiel sie zurück in "Patriotismus". Wo Kommunismus mit Nationalismus kombiniert ist, wie in Vietnam, gedeiht er.

Der Zionismus war siegreich, weil er die religiöse jüdische Gemeinschaft in eine moderne israelische Nation verwandelte.

Warum wurde vor 250 Jahren der Nationalismus zum Zeitgeist? Weil sein geistiger Inhalt mit den materiellen Rahmenbedingungen übereinstimmte. Wirtschaftliche, militärische und kommunikative Entwicklungen verlangten nach größeren Entitäten. Kleine regionale Entitäten - wie die Schotten, die Korsen, die Basken - konnten diese Bedürfnisse nicht erfüllen, konnten weder sich selbst verteidigen, noch mit größeren Wirtschaftseinheiten konkurrieren. So schlossen sie sich den neuen Nationalstaaten an: Großbritannien, Frankreich, Spanien. Das Deutsche Reich und die Republik Italien entstanden.

Diese Realität wird nun schnell hinfällig. Die Wirtschaft wurde globalisiert. Die Atombombe ist die Waffe der Großmächte, die globale Umwelt kann nur durch einen gewaltigen gemeinsamen Einsatz der gesamten Menschheit gerettet werden, das Internet und die Medien verbinden die Menschen völlig ungeachtet der Grenzen. Der Nationalstaat kann in der Isolierung nicht konkurrieren.

Aber menschliche Emotionen ändern sich nicht so schnell wie die materielle Realität. Die Menschen halten an alten Ideen fest. Nationen haben immer noch einen mächtigen Einfluss auf ihre Staatsbürger. Jedes internationale Fußballmatch zeigt dies deutlich und eindrucksvoll. Die Fußball-Hooligans sind eine wahre Widerspiegelung ihrer Nationen.

Das ist die tatsächliche Wurzel des Brexit. Nationalismus widersetzt sich regionaler und globaler Logik. Er kämpft um seine Existenz, er hängt an der Vergangenheit. Wie die Weber in dem Stück von Gerhart Hauptmann von 1882, die die neuen Maschinen des industriellen Zeitalters zerstörten, um die überholte Wirtschaftsordnung zu bewahren, von der ihr Lebensunterhalt abhing.

Geschichte kann recht amüsant sein. Eins der Ergebnisse dieser Bewegung in Richtung größerer post-nationalistischer Entitäten ist der Zusammenbruch der Nationen des 19. und 20. Jahrhunderts.

Wenn die wirkliche Souveränität von London, Paris und Madrid nach Brüssel umzieht, gibt es für Schotten, Korsen oder Basken keine Notwendigkeit, in ihrer größeren Nation zu bleiben. Sie können zu ihrem früheren Mini-Nationalismus zurückkehren und in der EU bleiben. Das Vereinigte Königinnenreich (nicht meine Erfindung) wird wieder zu Klein-England.


ALS TEENAGER schloss ich mich dem terroristischen Untergrund an, weil ich glaubte, dass wir unseren eigenen Nationalstaat haben sollten, der Israel wurde. Im Krieg von 1948 wurde ich überzeugt, dass es keinen Weg gab, die Palästinenser zu zwingen, ihr Verlangen nach einem eigenen Nationalstaat aufzugeben. So wurde der Gedanke der "Zwei-Staaten-Lösung" geboren. Aber nicht viel später plädierte ich für die Gründung einer "Semitischen Union", in der Israel, Palästina und die anderen arabischen Länder auf regionaler Basis kooperieren würden. (Kürzlich nahm eine israelische Gruppe, die sich "Zwei Staaten, ein Mutterland" nannte, denselben Gedanken wieder auf.

An der Entscheidung der Briten ist etwas Mitleiderregendes und Rührendes. Sie erinnern sich an die alte "Also dann, alleine"-Stimmung, den stolzesten Augenblick in ihrer gesamten Geschichte. Sie erinnern sich daran, wie ihre kleine Inselnation über die Meere und etwa ein Fünftel der Kontinente herrschte, darunter auch mein Land.

Aber es ist immer noch Wahnsinn.


DER MENSCHLICHE Fortschritt verlangt nach immer größeren Entitäten. Dieses Jahrhundert wird eine neue Weltordnung erleben. Leider werde ich dann nicht mehr da sein, aber ich sehe sie bereits im Geiste. Sie ist unvermeidbar.

Die Frage ist, ob diese Weltordnung demokratisch sein wird oder nicht. Es bleibt der Menschheit überlassen, sicherzustellen, dass sie es ist. Dasselbe gilt für die Europäische Union jetzt. Diejenigen, die ihr System nicht mögen, müssen für eine Wende kämpfen - für ihre wahre Demokratisierung, für effektive Sozial- und Menschenrechte. Dafür hätten die britischen Wähler stimmen müssen.

Stattdessen stimmten sie für: "Haltet die Welt an, wir wollen aussteigen!"



Copyright 2016 by Uri Avnery

(Vom Englischen ins Deutsche übersetzt von Inga Gelsdorf)
Redigiert von der Schattenblick-Redaktion

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Quelle:
Uri Avnery, 02.07.2016
www.uri-avnery.de
Der Schattenblick veröffentlicht diesen Artikel mit der freundlichen
Genehmigung des Autors.


veröffentlicht im Schattenblick zum 7. Juli 2016

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