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STANDPUNKT/560: Das Zentrum hält nicht stand (Uri Avnery)


Das Zentrum hält nicht stand

von Uri Avnery, 28. Mai 2016


"DEN BESTEN fehlt es an Überzeugung, während die Schlechtesten voll leidenschaftlicher Besessenheit sind."

Gibt es eine bessere Beschreibung für das, was jetzt in Israel geschieht?

Doch diese Worte wurden vor fast hundert Jahren von dem irischen Dichter W.B. Yeats geschrieben.


YEATS SCHRIEB das Gedicht kurz nach dem schrecklichen Morden und den Zerstörungen des Ersten Weltkriegs. Er glaubte, die Welt sei an ihr Ende gekommen, und erwartete die Wiederkunft Christi. Als Teil des Chaos sah er im selben Gedicht voraus: "dass das Zentrum nicht standhalten kann". Ich glaube, er entnahm diese Metapher den Schlachten früherer Jahrhunderte, wenn die gegeneinander kämpfenden Armeen sich in zwei Reihen gegenüber standen. Die Hauptkraft war in der Mitte und die beiden Flanken beschützten sie.

In der klassischen Schlacht versuchte jede Seite eine der Flanken des Feindes zu zerstören, um das Zentrum zu umzingeln und anzugreifen. So lang wie das Zentrum standhielt, war die Schlacht unentschieden.

In Israel, wie in den meisten modernen Demokratien, ist das Zentrum zusammengesetzt aus zwei oder mehr etablierten Parteien, die eine geringfügig links und die andere geringfügig rechts. Die Linke ist die klassische Arbeiterpartei - jetzt verbirgt sie sich hinter dem Namen "zionistisches Lager" (welches automatisch die arabische Minderheit ausschließt, etwa 20% der Wählerschaft). Die Rechte ist der Likud, die gegenwärtige Inkarnation der alten "Revisionisten"-Partei, die vor fast hundert Jahren von Vladimir Jabotinsky gegründet wurde, einem liberalen Nationalisten im italienischen Risorgimento-Stil.

Dies war die israelische Mitte, unterstützt von einigen kleinen Parteien.

Seit dem Tag ihrer Gründung regierte sie Israel. Die eine Partei bildete die Regierung, die andere war die loyale Opposition und sie wechselten alle paar Jahre die Rollen, wie es in einer ordentlichen Demokratie sein sollte.

An den Flanken gab es die arabischen Parteien (die jetzt erzwungenermaßen vereinigt sind) und die kleine aber prinzipientreue Meretz auf der Linken und mehrere religiöse und protofaschistische Parteien auf der Rechten.

Es war ein "normales" System, eines, wie es das in vielen anderen demokratischen Ländern gibt.

Nun nicht mehr.


BEI MITTE-LINKS herrscht jetzt eine Stimmung von Resignation und Niederlage. Die alte Partei ist einer Anzahl politischer Zwerge in die Hände gefallen, deren Streitigkeiten untereinander die Ausübung aller ihrer eigentlichen Funktionen unmöglich machen.

Der gegenwärtige Führer Yitzhak Herzog, der Nachkomme einer guten Familie, trägt nach dem Gesetz den glorreichen Titel "Führer der Opposition", weiß aber nicht einmal, was eine Opposition ist. Einige nennen seine Partei "Likud 2". Zu allen lebenswichtigen Themen wie Frieden mit dem palästinensischen Volk und der arabischen Welt, soziale Gerechtigkeit, Menschenrechte, Demokratie, Trennung von Staat und Religion, Korruption schweigt die Partei. Alle praktischen Zwecke betreffend ist sie todgeweiht oder schon gestorben.

"Den Besten fehlt es an Überzeugung" wie Yeats beklagte. Die besten Elemente der israelischen Gesellschaft sind entmutigt, geschlagen und stumm.

Bei Mitte-Rechts sieht es noch schlimmer aus und noch gefährlicher. Der Likud, einmal eine liberale, demokratische Partei des rechten Flügels, ist einer feindlichen Übernahme zum Opfer gefallen. Sein extremistischer Flügel hat jeden Andersdenkenden vertrieben und beherrscht die Partei nun vollständig. Im Sinne der Metapher hat die rechte Flanke das Zentrum übernommen.

"Während die Schlechtesten voll leidenschaftlicher Besessenheit sind." Sie erlassen die grauenhaftesten Gesetze in der Knesset. Sie unterstützen und ermutigen die Polizisten und Soldaten zu abscheulichen Handlungen. Sie versuchen das Oberste Gericht und das Armee-Kommando zu unterwandern. Sie sind fest entschlossen, noch mehr und größere Siedlungen zu bauen. Diese gefährlichen Rowdies sind tatsächlich "voll Besessenheit".

Dass Avigdor Lieberman nun zur Regierung gestoßen ist, vervollständigt dieses angsteinflößende Bild. Sogar der frühere Ministerpräsident Ehud Barak, ein gemäßigter Politiker, verkündigte öffentlich, die Regierung enthalte faschistische Elemente.



WARUM IST dies geschehen? Was ist der Grund?

Die übliche Antwort ist: "das Volk hat sich nach rechts bewegt". Doch dies erklärt nichts. Warum hat sie sich nach rechts bewegt? Warum?

Einige suchen die Erklärung in der demographischen Spaltung der israelisch-jüdischen Gemeinschaft. Juden, deren Familien aus islamischen Ländern kommen (Misrahim genannt) tendieren dahin, Likud zu wählen; Juden deren Familien aus Europa kommen (Askenazim) tendieren zur Linken.

Das erklärt nicht das Phänomen Lieberman, dessen Partei aus Immigranten aus der früheren Sowjetunion besteht. Es sind etwa eineinhalb Millionen, die allgemein "Russen" genannt werden. Warum sind die meisten von ihnen extreme Rechte, Rassisten, Araberhasser?

Eine Klasse für sich sind junge Linke, die sich weigern, eine Partei zu unterstützen. Stattdessen wenden sie sich einem Aktivismus außerhalb von Parteien zu, gründen regelmäßig neue Menschenrechts- und Friedensgruppen. Sie unterstützen die Palästinenser in den besetzten Gebieten, kämpfen für die "Reinheit unserer Waffen" in der Armee und tun wunderbare Arbeit für ähnliche Zwecke.

Es gibt Dutzende, ja vielleicht Hunderte solcher Vereinigungen, viele von ihnen vom Ausland unterstützt, die wunderbare Arbeit leisten. Aber sie hassen die politische Arena und schließen sich keiner Partei an und noch weniger würden sie sich zu einer gemeinsamen Partei zusammentun.

Ich glaube, dass dieses Phänomen den Trend erklärt. Immer mehr Leute, besonders junge Leute, kehren der "Politik" den Rücken, die für sie Parteipolitik bedeutet. Ihnen selbst "fehlt" durchaus nicht "jede Überzeugung", aber sie glauben, dass den politischen Parteien jede ehrliche Überzeugung fehlt, und deshalb wollen sie nichts mit ihnen zu tun haben.

Sie erkennen nicht, dass politische Parteien ein notwendiges Instrument sind, um in einer Demokratie eine Veränderung zu erreichen. Für sie sind Politiker eine Gruppe korrupter Heuchler, denen wirkliche Überzeugungen fehlen und mit denen sie nichts zu tun haben wollen.


DEMNACH KOMMEN wir zu einer erstaunlichen Tatsache: dass die Entwicklungen in Israel den Prozessen in vielen anderen Ländern ähneln, die nichts mit unseren speziellen Problemen zu tun haben.

Vor ein paar Tagen waren die Präsidentschaftswahlen in Österreich. Bislang war die österreichische Präsidentschaft wie in Israel ein zeremonielles Amt, das zwischen den zwei Hauptparteien pendelte. Dieses Mal geschah etwas noch nie Dagewesenes: die beiden zuletzt übrig gebliebenen Kandidaten kamen aus den Reihen der extremen Rechten und aus denen der Grünen. Die Wähler hatten einfach alle Kandidaten des zentralen Establishments ausgeschieden. Und was noch schlimmer ist: der faschismusnahe Kandidat verlor nur durch eine winzige Anzahl von Stimmen.

Österreich? Ein Land, das den (Österreicher) Adolf Hitler vor nur 80 Jahren begeistert willkommen hieß und das sämtliche Konsequenzen davon erleiden musste?

Die einzige Erklärung ist, dass die Österreicher ebenso wie die Israelis die Nase voll hatten von etablierten Parteien. Beide Nationen, die außer ihrer Größe nichts gemein haben, empfinden in dieser Hinsicht dasselbe.

In Frankreich feiert die Anti-Establishment-ultra-Rechte Marine Le Pen Triumphe. In Deutschland, Holland und Skandinavien spielt sich etwas Ähnliches ab.

In Großbritannien, der Mutter der Demokratie, ist die Öffentlichkeit im Begriff, für oder gegen den Austritt aus der EU zu stimmen. Die EU wird mit dem Establishment gleichgesetzt. Die EU zu verlassen, erscheint (jedenfalls mir) vollkommen irrational. Die Möglichkeit, dass das geschieht, ist anscheinend jedoch gegeben.


ABER WARUM nur über die kleinen Länder reden? Was ist mit der einzigen Supermacht, den Vereinigten Staaten von Amerika?

Seit Monaten hat die Weltöffentlichkeit mit wachsendem Erstaunen den unglaublichen Aufstieg des Donald Trump beobachtet - das Drama, das mit einer Komödie begann und immer erschreckender wird.

Was, um Gottes Willen, hat sich in dieser großen Nation ereignet? Wie können Millionen und Abermillionen sich um das Banner eines Großmauls, eines vulgären, ignoranten Kandidaten scharen, dessen Haupt- - und vielleicht einziger - Vorteil sein Abstand zu allen politischen Parteien ist? Wie konnte er die große alte Partei, einen Bestandteil der amerikanischen Geschichte, überwinden und tatsächlich zerstören?

Auf der anderen Seite steht Bernie Sanders, ein viel attraktiverer Charakter, der allerdings von seiner eigenen Partei verabscheut wird, weil seine Absichten weit von denen der Mehrheit der Amerikaner entfernt sind.

Die einzige Ähnlichkeit zwischen den beiden ist, dass sie ihre Parteien nicht mögen und ihre Parteien sie nicht mögen.


DIES SCHEINT nun ein weltumspannendes Muster geworden zu sein.

Wenn man bedenkt, dass dies zur selben Zeit in Dutzenden von großen und kleinen Ländern geschieht, die sonst absolut nichts miteinander gemein haben - sie haben verschiedene Probleme, verschiedene Themen, befinden sich in verschiedenen Situationen - dann ist das doch erstaunlich.

Für mich ist das ein Rätsel. Alle paar Jahrzehnte kommen neue Ideen und infizieren einen großen Teil der Menschheit. Demokratie, Liberalismus, Anarchismus, Sozialdemokratie, Kommunismus, Faschismus, wieder Demokratie und jetzt dieses meist rechtsradikale Chaos sind zu weltweiten Trends geworden. Das hat bislang noch keinen Namen.

Ich bin sicher, dass viel Leute, sowohl Marxisten als auch andere, eine vorgefertigte Erklärung haben. Ich bin von keiner überzeugt. Ich bin nur perplex.


KOMMEN WIR zurück zu uns armen Israelis: Ich habe gerade in Haaretz einen praktischen Plan veröffentlicht, um die Sintflut bei uns aufzuhalten.

Ich bin noch immer ein Optimist.



Copyright 2016 by Uri Avnery

(Aus dem Englischen: Ellen Rohlfs, vom Verfasser autorisiert)
Redigiert von der Schattenblick-Redaktion

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Quelle:
Uri Avnery, 28.05.2016
www.uri-avnery.de
Der Schattenblick veröffentlicht diesen Artikel mit der freundlichen
Genehmigung des Autors.


veröffentlicht im Schattenblick zum 31. Mai 2016

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