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STANDPUNKT/501: Das Preußen der Siedler (Uri Avnery)


Das Preußen der Siedler

von Uri Avnery, 17.10.2015


DIE ISRAELISCHE DEMOKRATIE rutscht abwärts. Sie rutscht langsam, behaglich, aber unverkennbar.

Wohin rutscht sie? Jeder weiß es: in eine ultra-nationalistische, rassistische, jüdisch-orthodoxe Gesellschaft.

Wer führt uns auf diesen Weg?

Die Regierung natürlich. Diese Gruppe von lärmenden Niemanden, die bei den letzten Wahlen an die Macht kam, angeführt von Benjamin Netanjahu.

Nicht wirklich. Nehmt all diese großmäuligen kleinen Demagogen, die Minister von diesem oder jenem (Ich kann mir nicht merken, wer nochmal der Minister von was ist) und sperrt sie ein, da wird sich nichts ändern. In 10 Jahren wird sich keiner mehr an die Namen von ihnen erinnern.

Wenn die Regierung nicht führt, wer tut es dann? Vielleicht der rechte Mob? Die Leute, die wir im Fernsehen sehen - mit Hass verzerrten Gesichtern, die beim Fußball-Spielen schreien bis sie heiser sind "Tod den Arabern" oder die nach jedem Vorfall in den jüdisch-arabischen Städten demonstrieren: "Alle Araber sind Terroristen! Tötet sie alle."

Dieser Mob kann dieselben Demonstrationen morgen gegen andere führen: gegen Schwule, Lesben, Richter, Feministen, gegen wen auch immer. Er ist nicht beständig. Er kann kein neues System aufbauen.

Aber es gibt eine Gruppe im Land, die stark genug ist, die genug zusammenhält und die entschlossen genug ist, den Staat zu übernehmen: die Siedler.


IN DER Mitte des letzten Jahrhunderts schrieb ein hervorragender Historiker, Arnold Toynbee, ein monumentales Werk. Seine zentrale These war, dass Zivilisationen wie menschliche Wesen sind: Sie werden geboren, wachsen, werden erwachsen, altern und sterben. Dies war nicht wirklich neu - der deutsche Historiker Oswald Spengler schrieb vor ihm etwas Ähnliches ("Den Untergang des Abendlandes"). Aber Toynbee, ein Brite, war weniger metaphysisch als sein deutscher Vorgänger und versuchte, praktische Schlussfolgerungen zu ziehen.

Unter Toynbees vielen Einsichten gab es eine, die uns jetzt interessieren sollte. Es geht um den Prozess, bei dem Grenzdistrikte die Macht und den Staat übernehmen.

Nehmen wir das Beispiel aus der deutschen Geschichte. Die deutsche Zivilisation wuchs im Süden und reifte im Süden - in der Nähe von Frankreich und Österreich. Eine reiche und kultivierte Oberklasse verbreitete sich im ganzen Land und in den Städten. Die patrizische Bürgerschicht förderte die Schriftsteller und Komponisten. Die Deutschen sahen sich selbst als "Ein Volk der Dichter und Denker".

Aber im Laufe der Jahrhunderte suchten die Jungen und Energischen aus der reichen Schicht, besonders die zweiten Söhne, die nichts erbten, für sich selbst eine neue Domäne. Sie gingen an die Ostgrenze, eroberten von den slawischen Bewohnern neues Land und erkämpften sich Grundbesitz.

Das östliche Land wurde Mark Brandenburg genannt. "Mark" bedeutet Grenzland. Eine Reihe fähiger Fürsten vergrößerte den Staat, bis Brandenburg eine führende Macht wurde. Damit noch nicht zufrieden, heiratete einer der Fürsten eine Frau, die als Mitgift ein kleines östliches Königreich, Preußen genannt, in die Ehe brachte. So wurde der Fürst König. Brandenburg vereinigte sich mit Preußen und vergrößerte sich durch Kriege und Diplomatie, bis Preußen halb Deutschland beherrschte.

Der preußische Staat, in der Mitte Europas gelegen, umgeben von starken Nachbarn, hatte keine natürlichen Grenzen - weder weite Meere noch hohe Gebirge oder breite Flüsse. Es war nur ein flaches Land. Also schufen die preußischen Könige eine künstliche Grenze: eine mächtige Armee. Graf Mirabeau, der französische Staatsmann sagte bekanntermaßen: "Andere Staaten haben Armeen. In Preußen hat die Armee einen Staat." Die Preußen prägten selbst den Satz: "Der Soldat ist der erste Mann im Staat."

Anders als in den meisten Ländern hatte das Wort "Staat" in Preußen fast das Ansehen eines heiligen Wertes. Theodor Herzl, der Gründer des Zionismus und ein großer Bewunderer von Preußen, übernahm dieses Ideal und nannte seine zukünftige Schöpfung: "Der Judenstaat"


TOYNBEE, DER sich nicht mit Metaphysik abgab, fand den irdischen Grund für das Phänomen heraus, dass zivilisierte Staaten von weniger zivilisierten aber kühneren Grenzbewohnern übernommen wurden.

Die Preußen mussten kämpfen: Land erobern, ein Teil von dessen Bevölkerung vernichten, neue Dörfer und Städte schaffen, Gegenangriffen nachtragender Nachbarn - Schweden, Polen und Russen - widerstehen. Sie mussten einfach kühn sein.

Zur selben Zeit führte das Volk im Inneren ein viel leichteres Leben. Die Bürger von Frankfurt, Hamburg, München und Nürnberg hatten ein leichteres Leben, verdienten Geld, lasen ihre großen Dichter und hörten ihre großen Komponisten. Sie konnten die primitiven Preußen mit Verachtung behandeln. Bis sie sich selbst 1871 in einem neuen germanischen Reich wiederfanden, das von den Preußen beherrscht wurde - von einem preußischen Kaiser.

Dieser Prozess hat sich im Laufe der Geschichte noch in vielen Ländern auf ähnliche Weise abgespielt: Die Peripherie wurde zum Zentrum.

In alten Zeiten - in der Antike - wurde das griechische Reich nicht von zivilisierten Bürgern einer griechischen Stadt, wie Athen, geschaffen, sondern von einem Führer aus dem mazedonischen Reich, von Alexander dem Großen. Später wurde das mediterrane Reich nicht von einer zivilisierten griechischen Stadt geschaffen, sondern von einer peripheren italienischen Stadt, Rom genannt.

Ein kleines deutsches Grenzland im Südosten wurde das riesige multinationale Reich, Österreich genannt, bis es von den Nazis besetzt wurde und Ostmark genannt wurde - östliche Grenze.

Es gibt eine Fülle von Beispielen.


DIE JÜDISCHE GESCHICHTE, die reale und die eingebildete, hat ihre eigenen Beispiele.

Wenn ein Steine werfender Junge aus der südlichen Gegend mit Namen David, König von Israel wurde, setzte er seine Hauptstadt aus der alten Stadt Hebron an einen neuen Ort, den er gerade erobert hat, Jerusalem. Dort war er weit weg von all den Städten, in denen sich eine neue Aristokratie eingerichtet hat und gedieh.

Viel später, in römischen Zeiten, kamen die Kämpfer des Grenzlands Galiläa nach Jerusalem, inzwischen eine zivilisierte Patrizier-Stadt, und zwangen die friedlichen Bürger, einen verrückten Krieg gegen die weitaus überlegeneren Römer anzufangen. Vergeblich versuchte der jüdische König Agrippa, Nachfolger von Herodes dem Großen, sie mit einer eindrucksvollen Rede zu stoppen, die Flavius Josephus überlieferte. Das Grenzvolk gewann die Oberhand, Judäa revoltierte, der ("Zweite") Tempel wurde zerstört und die Konsequenzen konnte man noch bis zur letzten Woche auf dem Tempelberg (auf Arabisch: Haram al Sharif - der heilige Schrein) in Jerusalem miterleben, wo arabische Jungs, Nachahmer von David, auf die jüdischen Imitatoren von Goliath Steine warfen.

Im heutigen Israel gibt es eine deutliche Trennung - und eine Gegnerschaft - zwischen den wohlhabenden großen Städten wie Tel Aviv und der viel ärmeren "Peripherie", deren Bewohner meist die Nachkommen von Einwanderern aus armen und rückständigen orientalischen Ländern sind.

Es war nicht immer so. Vor der Gründung des Staates Israel wurde die jüdische Gemeinde Palästinas ("Yishuv" genannt) von der Labor-Partei regiert, die von den Kibbuzim, den kommunalen Dörfern, beherrscht wurde, von denen viele entlang der Grenzen lagen (man könnte sagen, dass sie in Wirklichkeit die "Grenzen" der Jischuw bildeten). Dort wurde eine neue Rasse, eine Rasse harter Kämpfer, geboren, die verwöhnte Stadtbewohner verachtete.

Im neuen Staat sind die Kibbuzim zu bloßen Schatten ihrer selbst und die zentralen Städte zu Zentren der Kultur geworden, die von der Peripherie beneidet und sogar gehasst werden. So war es bis vor Kurzem. Jetzt ändert sich das schnell.


AM TAG nach dem Sechs-Tage-Krieg von 1967 hob ein neues israelisches Phänomen sein Haupt: Die Siedlungen in den damals neu besetzten palästinensischen Gebieten. Ihre Gründer waren die "national-religiösen" Jugendlichen.

Während der Tage des Yishuv wurden die religiösen Zionisten eher verachtet. Sie waren eine kleine Minderheit. Einerseits hatten sie nicht den revolutionären Schwung der säkularen, sozialistischen Kibbuzim. Andrerseits waren wirklich orthodoxe Juden überhaupt keine Zionisten und verurteilten das ganze zionistische Unternehmen als eine Sünde gegen Gott (War es nicht Gott, der die Juden wegen ihrer Sünden ins Exil geschickt und unter die Völker verstreut hatte?)

Aber nach der Eroberung von 1967 wurde die "national-religiöse" Gruppe plötzlich eine treibende Kraft. Die Eroberung des Tempelbergs in Ost-Jerusalem und all der anderen biblischen Stätte erfüllte sie mit religiösem Eifer. Statt eine marginale Minderheit zu bleiben, wurden sie eine mächtige treibende Kraft.

Sie schufen die Siedlerbewegung und bauten Dutzende von neuen Städten und Dörfern in der ganzen besetzten Westbank und Ost-Jerusalem. Mit Unterstützung aller aufeinander folgenden israelischen Regierungen, den Linken wie den Rechten, wuchsen und gediehen sie. Während das linke "Friedenslager" herunterkam und dahinwelkte, breiteten sie ihre Schwingen aus.

Die "national-religiöse" Partei, einmal eine der moderatesten Kräfte in der israelischen Politik, verwandelte sich in die ultra-nationalistische, fast faschistische Partei "Jüdisches Heim". Die Siedler wurden auch eine dominierende Kraft in der Likud-Partei. Sie kontrollieren nun die Regierung. Der Siedler Avigdor Lieberman ist Führer einer noch stärker rechtsgerichteten Partei, offiziell in der Opposition. Der Star der "Mitte" Jair Lapid gründete seine Partei in der Ariel-Siedlung und redet jetzt wie ein extrem Rechter. Der Führer der Arbeitspartei Jitzchak Herzog macht einen schwachen Versuch, sie nachzuahmen.

Alle verwenden jetzt die Siedlersprache. Sie sprechen nicht mehr von der Westbank, sondern von "Judäa und Samaria".


ICH FOLGE Toynbee und erkläre dieses Phänomen durch die Herausforderung, die das Leben an der Grenze darstellt.

Selbst wenn die Situation weniger angespannt ist wie jetzt, sind die Siedler Gefahren ausgesetzt. Sie sind von arabischen Dörfern und Städten umgeben (wobei sie sich selbst in ihre Mitte gesetzt haben). Sie sind Steinwürfen und gelegentlichen Angriffen auf den Schnellstraßen ausgesetzt und leben unter dem ständigen Schutz der Armee, während die Menschen in israelischen Städten ein bequemes Leben haben.

Natürlich sind nicht alle Siedler Fanatiker. Viele von ihnen leben in einer Siedlung, weil ihnen die Regierung die Wohnung dort fast umsonst gibt: eine Villa mit Garten, von der sie im eigentlichen Israel nicht einmal zu träumen wagten. Viele von ihnen sind Regierungsangestellte mit gutem Gehalt. Viele lieben nur die Aussicht - all diese malerischen muslimischen Minaretts.

Viele Fabriken haben das eigentliche Israel verlassen, verkauften ihr Land für unglaubliche Summen und bekamen auch noch riesige Regierungszuschüsse, damit sie in die Westbank umzogen. Sie beschäftigen natürlich billige palästinensische Arbeiter aus den benachbarten Dörfern, deren Bezahlung nicht dem gesetzlich festgelegten Mindestlohn entspricht und für die keinerlei Arbeitsgesetze gelten. Die Palästinenser schuften für sie, weil sie sonst keine Arbeit bekommen können.

Aber selbst diese "bequemen" Siedler wurden zu Extremisten, um zu überleben und ihre Häuser zu verteidigen, während die Leute in Tel Aviv sich in ihren Cafés und Theatern amüsieren. Viele dieser Alteingesessenen haben sich schon einen zweiten Pass besorgt, einen deutschen, amerikanischen oder polnischen - nur für den Fall... Kein Wunder, dass die Siedler den Staat übernehmen.


DER PROZESS ist schon weit vorangeschritten. Der neue Polizeichef ist ein Kippa-tragender ehemaliger Siedler. Der Chef vom Geheimdienst ebenfalls. Immer mehr Offiziere der Armee und Polizei sind Siedler. In der Regierung und in der Knesset üben die Siedler sehr starken Einfluss aus.

Vor etwa 18 Jahren, als meine Freunde und ich als erste einen israelischen Boykott gegen die Produkte der Siedlungen ausriefen, sahen wir, was auf uns zukommt.

Dies ist jetzt die wirkliche Schlacht um Israel.



Copyright 2015 by Uri Avnery

(Aus dem Englischen: Ellen Rohlfs, vom Verfasser autorisiert)
Redigiert von der Schattenblick-Redaktion

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Quelle:
Uri Avnery, 17.10.2015
www.uri-avnery.de
Der Schattenblick veröffentlicht diesen Artikel mit der freundlichen
Genehmigung des Autors.


veröffentlicht im Schattenblick zum 20. Oktober 2015

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