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STANDPUNKT/482: Auf der Suche nach einem Helden (Uri Avnery)


Auf der Suche nach einem Helden

von Uri Avnery, 1. August 2015


VOR ETWA 60 Jahren schrieb der neue ägyptische Machthaber Gamal Abd-Al Nasser ein Buch über die "Philosophie der Revolution". In Nachahmung des Stückeschreibers Luigi Pirandello ("Sechs Charaktere auf der Suche nach einem Autor"), behauptete er, dass die Aufgabe, die arabische Welt zu vereinen, in der "Suche nach einem Helden" besteht.

Zur Zeit schreit die Aufgabe, eine israelische Kraft zu schaffen, die in der Lage ist, Benjamin Netanjahu und seine Gang politischer Hooligans loszuwerden, nach einem Helden.

Irgendwo unter den Millionen israelischer Männer und Frauen muss ein Held versteckt sein, der Israel retten wird.


ZEHAVA GALON, die Führerin der Meretz-Partei, schockierte letzte Woche viele ihrer Anhänger, als sie laut darüber nachdachte, dass ihre Partei sich mit einer anderen Partei zusammentun müsse, um zu überleben und sich an den Bemühungen zu beteiligen, die rechtsgerichtete Regierung zu ersetzen.

Offensichtlich sprach sie aus Furcht. Meretz, die linke zionistische Partei, war bei den letzten Wahlen fast ausgeschaltet worden. Auf der Höhe der Wahl-Kampagne zeigten Meinungsumfragen, dass die Partei die 4%-Hürde nicht überwinden könnte. Eine der Folgen wäre der Verlust all ihrer Stimmen gewesen.

Die Berichte alarmierten viele Wähler, die in der letzten Minute zur Wahl eilten, um Meretz zu unterstützen. Statt für Labor zu stimmen (dieses Mal verschleiert als "das zionistische Lager"), stimmten sie für Meretz und retteten sie. Sie kam mit fünf Sitzen in die Knesset, gerade noch über dem notwendigen Minimum.

Für Galon und ihre Kollegen war der Schock groß. Am Morgen der Wahl trat sie zurück, aber kurz darauf überlegte sie es sich anders und trat von ihrem Rücktritt zurück. Sie blieb Parteiführerin.

Jetzt fürchtet sie offensichtlich, dass Meretz bei den nächsten Wahlen verschwinden könnte. Sie möchte, dass sich Meretz in irgendeiner Weise mit wenigstens einer anderen Partei zusammentut.

Meretz liegt zwischen dem "Zionistischen Lager" und der "Gemeinsamen Liste", zu der sich die arabischen Parteien vereinigt haben, weil sie ebenfalls fürchteten, dass keine der einzelnen Parteien die 4%-Hürde nehmen könnte.

Das Problem (für Galon) ist, dass keine der beiden benachbarten Parteien irgendeine Bereitschaft zeigt, ihre Partei aufzunehmen.

Das "Zionistische Lager" (alias Arbeits-Partei) fürchtet sich sehr, als Linke bezeichnet zu werden. Es wünscht "Zentrum" zu sein, im Glauben, dass dort die Stimmen gefunden werden können, die es verzweifelt benötigt, um wieder an die Macht zu kommen. Eine Union mit Meretz zu akzeptieren, würde es mit einer noch schlimmeren Links-Tönung beflecken.

Andererseits kann auch die arabische Liste sich nicht mit Meretz vermählen. Die Liste besteht aus drei voneinander abweichenden Kräften: den Kommunisten (die einige jüdische Mitglieder einschließt), den Islamisten und den arabischen Nationalisten. Wenigstens die zwei letzteren werden keine zionistisch-jüdische Partei in ihrem Bündnis akzeptieren.

Galons Wunschvorstellung hat deshalb sehr wenig Chancen, in Erfüllung zu gehen. Meretz, die auf ihrem Höhepunkt 12 Knesset-Mitglieder hatte, ist in existentieller Gefahr. Das würde heißen, dass die ohnehin schon geringen Chancen, der extrem rechten Koalition die Macht zu entreißen, noch geringer würden.


AN DER ganzen Auffassung ist etwas grundsätzlich falsch.

Politik ist kein Legospiel. Man kann Parteien nicht wie Bauklötze behandeln, zusammensetzen oder auseinandernehmen. Parteien bestehen aus Menschen, von denen jeder seine eigene Meinung hat.

Wenn man zwei Verlierer-Parteien zusammenfügt, schafft man nicht notwendigerweise eine gewinnende Partei. In der Politik sind zwei plus zwei nicht immer vier. Wenn man Glück hat, können es fünf sein. Aber sie können auch leicht auf drei absinken.

Eine aus Meretz und dem Zionistischen Lager vereinigte Partei kann viele der Wähler der Mitte verlieren, die linke Haltungen verabscheuen, und gleichzeitig kann sie Linke verlieren, die ihre kostbare Stimme nicht dem Zionistischen Lager geben wollen, das sie - nicht ohne Grund - als einen verwässerten Likud betrachten.

Die Haltung des Zionistischen Lagers ist bestenfalls wischiwaschi. Sein Führer Jitzchak Herzog hatte sich angeboten, als Netanjahus Helfer im dummen Propaganda-Krieg gegen das Abkommen der USA mit dem Iran in die USA zu fliegen. Die Partei erhebt ihre Stimme nicht dagegen, dass in der besetzten Westbank fast täglich Palästinenser erschossen werden. Im Kampf gegen die Magnaten, die Israels ohnehin geringe Naturressourcen plündern, ist von ihr nur ein Flüstern zu hören.

Sie erhebt kaum ihre Stimme gegen die gegen den Obersten Gerichtshof gerichtete Likud-Kampagne. (Ein stellvertretender Likud-Minister verlangte den Ausschluss arabischer Richter, die die Nationalhymne, die die "jüdische Seele" feiert, nicht mitsingen.

Meretz ist nicht viel mutiger. Sie spricht kaum das Wort "Frieden" aus, sie spricht lieber über ein "politisches Abkommen". Keiner stirbt für ein "politisches Abkommen".

Viele Meretz-Wähler mit profunden zionistischen Überzeugungen werden nicht für eine Liste stimmen, die arabische Mitglieder wie das Knesset-Mitglied Hanin Zuabi einschließt, eine provozierende Person, die sich einen Sport daraus macht, jüdischen Durchschnittsisraelis eine Nase zu drehen und ihre Gemüter zu erschüttern.



ABER DAS Hauptproblem betrifft die Führung.

Zehava Galon ist eine nette Person. Sie ist ehrenhaft und aufrichtig. Sie denkt und sagt das Richtige. Man konnte sie mit gutem Gewissen wählen.

Das Problem ist, dass sie kein Charisma hat. Man kann für sie stimmen, sie unterstützen, sie gern haben. Aber man kann sich nicht für sie begeistern. Sie ist keine mitreißende Rednerin, sie löst weder Hingabe noch Verehrung aus.

Leider gilt dies auch für alle anderen Führer der potentiellen Allianz. Yitzhak Herzog, Zipi Livni und Shelly Jachimovitch sind alles gute Leute. Ich würde, ohne zu zögern, von jedem von ihnen einen Gebrauchtwagen kaufen. Sie sprechen oft sensible Dinge aus. Aber keiner von ihnen kann Leute aufrütteln, sie anheizen, sie dazu bringen, ihnen in Massen nachzufolgen.

Noch schlimmer ist, dass keiner von ihnen etwas Neues zu sagen hat. Alle können ziemlich langweilig sein. Wenn man sie im Fernsehen beobachtet, reißt einen das nicht aus dem Sessel und auf die Straße, um "weg mit Netanjahu!" zu rufen.



ISRAEL BRAUCHT einen Helden. Einen wahren Führer.

Eine Person (männlich oder weiblich) die die Leute inspiriert, die ihre Liebe und Verehrung auf sich zieht, die sie dazu bringt, einen Wandel herbeizuwünschen.

Nicht nur am Wahltag, einmal alle paar Jahre, sondern jeden Tag, jetzt.

Es ist nicht nur eine Sache der Persönlichkeit, des Charisma, auch wenn dies wesentlich ist. Es ist vor allem eine Sache der Ideen, der Überzeugungen.

Die Menschen in Israel haben den Eindruck, dass die Linke nichts Neues zu bieten hat. Keine neuen Gesichter, keine neuen Ideen, seit langer, langer Zeit keine neuen Slogans. Die Linke - wie soll man es ausdrücken - rüttelt nicht auf.

Keiner wird für etwas sterben, das sich "Mitte-Links" nennt. Das ist ein amerikanischer Import, ohne Wurzeln in der politischen Tradition Israels. Es vermittelt die Idee von etwas Kraftlosem, Unverbindlichen, Vagen, ein bisschen hiervon und ein bisschen davon.

Was wir brauchen, ist jemand, der eine neue Flagge hebt, der eine neue Überzeugung ausstrahlt, der in der Lage ist, die ewigen Wahrheiten in neue ideologische Gewänder zu kleiden - Frieden, ja, Gleichheit, ja, Gerechtigkeit und Patriotismus, ja - in einer Weise, dass die Leute und besonders junge Leute sich dafür begeistern.

In der jüdischen Legende ist es der Makkabäer, der die Flagge hochhält und schreit: "Wer für Gott ist, der folge mir!" Etwas in dieser Art brauchen wir jetzt.


NACH DEN letzten Wahlen hoffte ich, dass jetzt so etwas geschehen würde. Jeder war schockiert. Netanjahus Überraschungssieg und die Errichtung einer sehr, sehr weit rechts liegenden Regierung hätten jeden rechtdenkenden (und linksdenkenden) israelischen Patrioten aus seiner Gleichgültigkeit reißen sollen.

Nun, das geschah nicht. Ein paar Tage lang gab es viel Aufregung; Politiker sprachen über "einen neuen Anfang" und das war es denn auch. Alles kehrte gemütlich zu dem zurück, wie es vorher war.

Außer dass es eine von Leuten zusammengesetzte Regierung gibt, die sich keiner von uns vor dreißig Jahren hätte vorstellen können. Wie ein Schwarm Moskitos haben sie sich auf das Land gesetzt, haben Gesetze vorgeschlagen und erlassen, dass einem die Haare zu Berge stehen. Zehn Jahre Gefängnis fürs Werfen eines Steins - doch nicht, wenn der Werfer ein jüdischer Siedler ist, der Soldaten gegenübersteht, wie es mehrfach in dieser Woche geschah. (Jemand witzelte: Hätte Goliath den jungen David ins Gefängnis geworfen, würde die Bibel ganz anders aussehen.)

Wie ist es möglich, dass dieser Haufen fanatischer Anti-Demokraten Minister und stellvertretende Minister werden? Netanjahu gab sich große Mühe, alle gemäßigten, vernünftigen Schüler Wladimir Jabotinskis und Menachem Begins, die mit ihm hätten konkurrieren können, auszubooten. Stattdessen förderte er eine Gruppe ungebärdig ehrgeiziger Niemands, die keine andere Qualifikation außer einem Anflug von Gewalttätigkeit hatten. Sie bemannen (und befrauen) jetzt die Ministerien.

Ich glaube daran, dass man einen Führer nach den Leuten beurteilen kann, mit denen er sich umgibt. Ein selbstsicherer Führer wählt ernste und kompetente Mitarbeiter. Ein Führer, der selbst unsicher ist, umgibt sich mit unbedeutenden Personen, die seine Position nicht gefährden und im Vergleich mit ihnen wie ein Genie aussieht. Kurz gesagt: Netanjahu.


ES GIBT einen Punkt in Zehava Galons Vorschlag, der besondere Aufmerksamkeit verdient. Sie schlug die Möglichkeit einer Union zwischen Meretz und der Arabischen Liste nicht aus. Im heutigen Israel käme dies einer geistigen Revolution nahe.

Während der ersten Jahrzehnte Israels war die Verbindung zwischen dem israelischen Friedenslager und den arabischen Bürger eng und wurde enger. Ich selbst habe am Organisieren vieler gemeinsamer Demonstrationen für Frieden und Gleichheit teilgenommen.

Während der letzten paar Jahrzehnte, hat sich dieser Prozess umgekehrt, bis fast nichts mehr davon übrigblieb. Die arabischen Bürger sind von der jüdischen Linken tief enttäuscht; jüdische Linke befürchten als "Araber-Liebhaber" und Anti-Zionisten gebrandmarkt zu werden.

Dasselbe geschah zwischen der israelischen Friedensbewegung und den Palästinensern in den besetzten Gebieten. Israelische Linke hatten Angst, sie könnten für unpatriotisch gehalten werden. Nach Yitzhak Rabins Ermordung empfanden die Palästinenser, dass israelische Linke sich nicht sehr von israelischen Rechten unterscheiden. Seit Arafats Tod fürchten Palästinenser außerdem alles, was nach "Normalisierung" aussieht, alles, was als Duldung der Besetzung gedeutet werden könnte.

Es kann von keinem vernünftigen Israeli erwartet werden, an den Frieden zu glauben, wenn nicht einmal israelische Linke mit arabisch politischen Kräften in Israel zusammen arbeiten können, geschweige denn mit den Palästinensern in den besetzten Gebieten.

Solch eine Zusammenarbeit aufzubauen wäre deshalb ist die vorrangige Pflicht jedes Neuerwachens der israelischen Friedenskräfte, dazu der Aufbau einer neuen Bewegung mit breiter Basis, um die rechtsgerichtete Koalition zu stürzen, die Israel runterzieht, weg vom Frieden, weg von Demokratie, weg von Gerechtigkeit.

Wenn der Held das hört, dann möge er doch bitte aufstehen.



Copyright 2015 by Uri Avnery

(Aus dem Englischen: Ellen Rohlfs, vom Verfasser autorisiert)
Redigiert von der Schattenblick-Redaktion

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Quelle:
Uri Avnery, 01.08.2015
www.uri-avnery.de
Der Schattenblick veröffentlicht diesen Artikel mit der freundlichen
Genehmigung des Autors.


veröffentlicht im Schattenblick zum 4. August 2015

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