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STANDPUNKT/457: Fortwährende Verblendung - Anmerkungen zum Wahlausgang in Israel (spw)


spw - Ausgabe 2/2015 - Heft 207
Zeitschrift für Sozialistische Politik und Wirtschaft

Fortwährende Verblendung
Anmerkungen zum Wahlausgang in Israel

von Moshe Zuckermann


Der Wahlausgang in Israel begann mit einem Paukenschlag. Nicht etwa, was den Sieg derer, die gesiegt haben, anbelangt. Der war mehr oder minder absehbar. Aber für die Branche der Statistiker und Hochrechner ereignete sich ein Super-GAU: Am späten Abend des Wahltags ging man mit der Gewissheit schlafen, dass die Wahl knapp ausgegangen sei, eine Patt-Situation mit 27 Mandaten für Netanjahus Likud-Partei und 27 Mandaten für die Parteienfusion "Das zionistische Lager" unter Führung von Yitzhak Herzog und Tzipi Livni. Als man aber am nächsten Morgen die offiziellen Nachrichten zu hören bekam, stellte sich heraus, dass Netanjahu auf 30 Mandate angestiegen, während Herzog/Livni auf 24 Mandate abgesunken waren. Das ist eine für derlei Erhebungen, zumindest im Hinblick auf Erfahrungen vergangener Jahre, nahezu unfassbare Diskrepanz. Was war geschehen? Hatten die Stichproben-Befragten an den Wahlurnen über ihre reale Wahl gelogen? Hatten sich die Hochrechner etwa untereinander abgesprochen? Oder hatten sie gar wider besseres Wissen ihren Auftraggebern nach dem Mund geredet, mithin dem Publikum etwas anderes vorgesetzt als den Auftraggebern? Was immer dieses Vorhersagen-Desaster bewirkt haben mag - die freudige Überraschung aufseiten des rechten Blocks wie denn das nicht minder überraschte Entsetzen aufseiten dessen, was man in Israel als den "linken Block" zu apostrophieren pflegt, waren unermesslich.

Dafür gab es zwar keinen objektiven Grund, denn schon im Vorfeld wurde, den statistischen Vorhersagen zufolge, klar, dass selbst ein Wahlsieg von Herzog/Livni sie kaum dazu befähigt hätte, eine Regierungskoalition zu bilden, die eine substantielle Wende der israelischen Politik im Innern wie in der Außenpolitik herbeizuführen vermocht hätte (dazu gleich mehr). Und doch war die Sensation groß, denn Netanjahu schien im Wahlkampf angeschlagen; man sprach vom Verblassen seines politischen Zaubertalents, von seiner anscheinenden Ermüdung. Und dann kam die Aufholjagd in den letzten zwei Wochen: Netanjahu flog in die Vereinigten Staaten, um (gegen den Willen des US-Präsidenten) seine Kritik an Obamas Iran-Politik vor dem Kongress kundzutun, mithin die bilateralen Beziehungen von Israel und den USA aufs Spiel zu setzen. Nach Israel zurückgekehrt, führte er einen rabiaten Wahlkampf, ein Gemisch aus gut orchestrierter Hysterie, Selbstviktimisierung und Panikmache, das in der unglaublichen Verlautbarung kulminierte, "Schwärme von Arabern" bewegten sich zu den Wahlurnen und gefährdeten den Herrschaftserhalt der Rechten. Derlei Rassismen sind in Israels politischer Kultur gang und gäbe; aber aus dem Munde eines Premierministers war dies selbst für israelische Verhältnisse eine Sonderleistung an ideologischer Perfidie, bei der Netanjahu freilich genau wusste, was er tat: Er wollte Ängste schüren, seine Klientel in panischen Schrecken versetzen, er wollte finstere Ressentiments anrühren, Gefühle von Verfolgten und Umzingelten entfachen - und er verstand genau, wie er dabei vorzugehen hatte. So besehen, war Netanjahus infame Agitation nur die eine Seite der niederträchtigen Politpraxis; die bedenklichere erwies sich in seinem Erfolg - in der inneren Bereitschaft seiner Wählermassen, sich von der schändlichen Manipulation anrühren, von der Arglist (ver)leiten zu lassen.

Denn die Voraussetzungen für die erfolgreiche Wirkung der Natanjahuschen Taktik ist in Israels politischer Kultur von jeher schon angelegt. Eine Kultur ist es, die sich, zumindest was die Außenpolitik anbelangt, in erster Linie durch eine Melange aus ideologisierter Angst und einer Mentalität der Selbstviktimisierung nährt. Historisch - und das ist ihr ursprünglicher Wahrheitskern - darf sie sich dabei auf die lange jüdische Verfolgungsgeschichte mit der Shoah als Kulminationspunkt sowie auf das von der Feindschaft der arabischen Nachbarstaaten ausgehende Sicherheitsproblem berufen. Gleichwohl kann schon längst davon ausgegangen werden, dass Israel nicht mehr in seiner Existenz bedroht ist, schon gar nicht durch die Palästinenser. Zu groß ist dafür seine militärische Vormacht, zu eng seine geopolitische Verbandelung mit dem Westen. Sicherheit ist zum Fetisch, mithin zur "Sicherheits"-Ideologie geronnen, die sich in die militaristische Mentalität der allermeisten Israelis tief eingefräst hat. Ähnliches kann man von der kollektiven Erinnerungs- und Gedenkkultur behaupten. Diese hat wenig, wenn überhaupt etwas, mit genuinem Andenken an die Shoah bzw. an historische Gewaltereignisse gegen Juden zu tun. Vielmehr handelt es sich bei ihr zumeist um Instrumentalisierung der geschichtlichen Erinnerung zur ideologischen Bedienung des zionistischen Narratives sowie von partikularen Interessen israelischer Politiker. Je mehr sich Israels Praxis der Okkupation in all ihrer Facetten der Gewalt und der brutalen Unterdrückung entfaltet, desto mehr verbreitet sich das Selbstbild der Israelis als die eigentlichen Opfer; je massiver die Kritik an der israelischen Politik weltweit erklingt, desto selbstgewisser wird sie in Israel als Antisemitismus abgetan. Immer schon zog man es vor, "die Welt" als Feind anzusehen, statt sich selbstkritisch mit der eigenen Unrechtspraxis und den Okkupationsverbrechen auseinanderzusetzen. Seit Jahrzehnten schon suhlt man sich mit Vorliebe im Selbstbild des "einsamen Volkes", welches das Schicksal seiner "Auserwähltheit" geduldig zu ertragen habe, sich mithin einzig "auf das Schwert" verlassen könne.

Die Selbstviktimisierung als Matrix des Selbstverständnisses weiß sich dabei einer Selbstbestimmung ex negativo verschwistert: So wie der klassische Zionismus als Reaktion auf den europäischen Antisemitismus im 19. Jahrhundert erwuchs; so wie das Zentralpostulat des Zionismus sich in der Ideologie der "Negation der Diaspora" manifestierte; so wie die Shoah zum Argument für die raison d'être des zionistischen Israel verkam; und so wie die permanente Bedrohung zu Ideologie der "Sicherheit" gerann - so erwies sich der vorgebliche Friedenswille Israels zunehmend als Chimäre, die den Frieden viel effektiver als "no partner"-Ideologie auf palästinensischer Seite darzustellen verstand, als ihn positiv vorantreiben zu wollen. Die Verblendung war gleichsam strukturell im Unwillen angelegt, den territorialen Preis für den Frieden zu zahlen, selbst dann nicht, als sich reale Möglichkeiten zu seiner Verwirklichung abzuzeichnen begannen. Eher nahm man es hin, dass ein israelischer Staatsführer ermordet wurde; eher nahm man periodisch auftretende Kleinkriege in Kauf; eher manövrierte man Israel in eine historische Sackgasse der Perspektivlosigkeit, als sich um positive Zielsetzungen für die Zukunft, für reale Sicherheit, für den ehrlich gemeinten Frieden zu kümmern und sie zu verwirklichen trachten.

Die Tiefendimensionen dieser letztlich selbstzerstörerischen Tendenz mögen hier unerörtert bleiben. Fest steht aber, dass Benjamin Netanjahu in der Schlussphase seiner Wahlkampagne die aus dieser Gesamtausrichtung generierten Ängste und Selbsttäuschungen, Panik- und Hassgefühle aufs meisterlichste zu schüren verstand. Seine demagogische Perfidie und populistische Hetze konnten sich dabei des fruchtbaren Bodens der Bereitschaft seiner Klientel, sich von seiner manipulativen Polemik verführen zu lassen, gewiss sein. Genau genommen, wurden seine Anhänger aber zu nichts verführt; es musste lediglich effektiv angerührt werden, was in ihnen ohnehin schon angelegt war.

Gleichwohl sei festgestellt, dass es bei dieser Schlusshysterie des Wahlkampfs um Netanjahus Machterhalt ging. Es ging mitnichten um wesentliche programmatische Anliegen, schon gar nicht um ernstzunehmende Gesinnungskämpfe. Nicht von ungefähr gewann Netanjahu bzw. die Likud-Partei den Mandatsvorsprung primär auf Kosten des "Jüdischen Heims" Naftali Bennetts. Es handelte sich bei diesem Sieg also lediglich um eine Verschiebung innerhalb des rechtsnationalen Blocks, dessen Sieg aber letztlich von vornherein feststand. Denn trotz des Kopf-an-Kopf-Rennens zwischen Netanjahus Likud und dem "Zionistischen Lager" von Herzog/Livni war die Wahrscheinlichkeit, dass die beiden Protagonisten des sogenannten linksliberalen Blocks eine regierungsfähige Koalition werden bilden können, bereits im Vorfeld mehr als fraglich. Die Wahl gewinnt, wer die Klientel dafür hat, und die große Mehrheit der israelischen Bevölkerung ist nun einmal rechts gerichtet und hat nichts im Sinn mit dem, was ein realer linker Block als Alternative zum jahrzehntelang vorherrschenden Regierungs(dis)kurs aufzubieten hätte.

Zu fragen bleibt allerdings, ob es eine inhaltliche politische Alternative überhaupt gab, mithin ob die reale Möglichkeit für eine substantielle politische Wende mit Herzog/Livni tatsächlich bestand. Die Frage muss verneint werden. Nicht etwa, weil mit den beiden Führern des "Zionistischen Lagers" nicht anständigere, im politischen Stil moderatere, zivilgesellschaftlich sympathischere Politiker zum Zuge gekommen wären. Der von Rassismus, antidemokratischen Tendenzen und deutlichen Ansätzen der Faschisierung gebeutelten israelischen Gesellschaft hätte es vermutlich (auch im Hinblick aufs Ansehen in der Welt) gut getan, Netanjahu, Lieberman, Bennett und Konsorten loszuwerden. Die äußere Schminke wäre schon als solche ein Erfolg gewesen. Man darf sich nur nicht der Illusion hingeben, dass sich damit auch in der Substanz der israelischen Politik etwas geändert hätte. Davon kann nicht die Rede sein.

Denn nicht von ungefähr durfte der rechtsradikale Naftali Bennett eine Kampagne unter dem Motto "Wir hören auf, uns zu entschuldigen" (dafür, dass wir den Anspruch auf ganz Eretz Israel aufrecht erhalten) führen; Avigdor Lieberman posaunen, arabische Terroristen köpfen zu wollen; Netanjahu seine 2009 deklarierte Verpflichtung auf die Zwei-Staaten-Lösung unverhohlen widerrufen, und dergleichen mehr - während das "Zionistischen Lagers" sich hütete, in seiner Wahlkampagne das Okkupationsregime als solches auch nur zu thematisieren, geschweige denn, eine dezidierte Politik zu seiner Beendigung anzustreben. Nicht nur wären damit kaum Wähler zu gewinnen gewesen, sondern es spricht auch nichts dafür, dass Yitzhak Herzog und Tzipi Livni eine finale Friedensregelung mit den Palästinensern real anvisieren. "Friedensgespräche" - ja, ohne Ende, je mehr, desto besser, aber ja nicht verwirklichen wollen, was das Ziel solcher Gespräche zu sein hätte. Denn beide wissen, was jeder Politiker in Israel weiß: Jeglicher regierungsoffizielle Versuch, besetzte Gebiete zu räumen, Siedlungen abzubauen, die Jerusalem-Frage und das Flüchtlingsproblem praktisch zu regeln, würde fast automatisch zum Herrschaftsverlust führen. Der allergrößte Teil der israelischen Bevölkerung ist an einem solchen Friedensschluss nicht interessiert. Dass aber mit dem Ausbleiben einer Zwei-Staaten-Lösung, die diese praktischen Schritte zur Voraussetzung hätte, objektiv eine binationale Struktur entsteht, und zwar unweigerlich, beeindruckt offenbar weder die Bevölkerung noch die Politiker, die nach vorgeblicher Gesinnungsmaßgabe die Friedenslösung zu befördern hätten. Die staatsmännische Rigorosität eines Yitzhak Rabin weist keiner seiner Nachfolger in der Parteiführung auf. Nicht ausgeschlossen, dass sein Schicksal die Betroffenen abschreckt, mithin auch gelehrt hat, wie es in der gegenwärtigen historischen Phase um die vorherrschende Ideologie innerhalb des Wahlvolks bestellt ist.

Aber auch bei der Bewältigung der sozialen Frage darf man sich vom "Zionistischen Lager" nicht viel erhoffen. Große sozial-ökonomische Klüfte haben sich in den letzten beiden Jahrzehnten in Israel geöffnet, und doch wählen gerade die Massen, die ein reales Interesse daran hätten, die Partei, die diesen Zustand durch den von ihr beförderten Turbokapitalismus herbeigeführt hat, abzuwählen, ebendiese Partei. Das hat zum einen damit zu tun, dass die Arbeitspartei sich bereits vor Jahren der letzten Reste ihres sozialdemokratischen Erbes entledigt hat. Ihr Bestreben, die 1977 verlorene Macht wiederzuerlangen, setzte sie nicht in eine dezidierte Opposition gegenüber der Likud-Partei um, vielmehr versuchte sie, sich dieser anzugleichen - mit großem Erfolg offenbar; nicht von ungefähr fing sie sich die pejorative Bezeichnung "Likud B" ein, wobei man sich sarkastisch fragte: Wozu die Imitation wählen, wenn sich das Original anbietet? Zum anderen hat dies aber auch mit einem historischen Ressentiment der orientalischen Juden gegenüber der von ihnen als aschkenasisch-überheblich angesehenen Arbeitspartei zu tun, ein eingefrästes Ressentiment, das immer wieder bewirkt, dass das sozial-ökonomische Interesse der Betroffenen dem Primat ihrer ethnischen Animosität unterworfen wird. Bei der diesjährigen Wahl dürfte das ideologische Gemisch aus Netanjahus Angstmache-Kampagne und dem ethnischen Ressentiment gegenüber dem aschkenasischen Establishment (der Arbeitspartei bzw. des "Zionistischen Lagers") den Ausschlag gegeben haben.


Prof. Moshe Zuckermann lehrt Geschichte und Philosophie an der Universität Tel Aviv.

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Quelle:
spw - Zeitschrift für sozialistische Politik und Wirtschaft
Ausgabe 2/2015, Heft 207, Seite 4-7
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veröffentlicht im Schattenblick zum 13. Mai 2015

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