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STANDPUNKT/413: Meine ruhmreichen Brüder (Uri Avnery)


Meine ruhmreichen Brüder

von Uri Avnery, 27.12.2014



ALS ICH 15 war und ein Mitglied des Irgun-Untergrundes (nach den Kriterien von heute eine ehrenhafte terroristische Organisation) sangen wir "(In der Vergangenheit) hatten wir die Helden Bar Kochba und die Makkabäer / Jetzt haben wir neue: / Die nationale Jugend." Die Melodie war ein deutsches militärisches Marschlied.

Warum schauten wir nach Helden in ferner Vergangenheit aus?

Wir benötigten verzweifelt nationale Helden, um sie nachzuahmen. 18 Jahrhunderte lang hatten Juden nicht gekämpft. Antisemiten sagten, dass sie eine Rasse von Feiglingen seien. Verstreut in aller Welt sahen sie keinen Grund für Kaiser oder Könige zu kämpfen, die sie meistens verfolgten. (Obgleich einige von ihnen es taten. Der erste authentische Held der neuen zionistischen Entität in Palästina war Josef Trumpeldor, einer der wenigen jüdischen Offiziere in der Armee des Zaren. Er verlor einen Arm im russisch-japanischen Krieg 1905 und wurde bei einem Scharmützel mit Arabern in Palästina getötet.)

Also fanden wir die Makkabäer, die Zeloten und Bar Kochba.


DIE MAKKABÄER, zu deren Ehre wir in dieser Woche Chanukka feierten, revoltierten 167 v. Chr. gegen "die Griechen". Howard Fast nannte sie in seiner berühmten Novelle "Meine ruhmreichen Brüder".

Tatsächlich waren "die Griechen" Syrer. Als das Reich Alexanders des Großen zwischen seinen Generälen aufgeteilt wurde, übernahm Seleucus Syrien und das Land im Osten. Gegen dieses Mini-Reich erhoben sich die Makkabäer.

Es war nicht nur ein national-religiöser Kampf gegen das Regime, das den Juden die hellenische Kultur aufzwingen wollte, sondern auch ein grausamer Bürgerkrieg. Der Hauptkampf galt den "Hellenisten", der kulturellen, modernen jüdischen Elite, die griechisch sprach und ein Teil der zivilisierten Welt sein wollte. Die Makkabäer waren fundamentalistische Anhänger der alten Religion.

Wenn wir einen heutigen Begriff verwenden, waren sie die ISIS ihrer Zeit. Aber das ist nicht das, was wir lernten (und was auch heute noch in der Schule gelehrt wird.)

Die Makkabäer (oder nach ihrem Dynastie-Namen Hasmonäer) errichteten einen jüdischen Staat, den letzten in Palästina, der 200 Jahre bestand. Im Gegensatz zu Nachfolgern und Imitatoren besaßen sie viel politischen Scharfsinn. Schon während ihrer Rebellion kontaktierten sie die aufkommende römische Republik und sicherten sich ihre Hilfe.

Die Makkabäer gewannen allerdings durch eine Laune des Schicksals. Ihre Revolte war ein riskantes Abenteuer. Sie verdankten letztendlich ihren Sieg den inneren Problemen, die das Seleukidenreich bedrängte.

Die Ironie dieser Geschichte ist, dass die hasmonäischen Könige selbst durch und durch hellenisiert wurden und griechische Namen trugen.


DIE NÄCHSTE große Rebellion begann im Jahr 66 AD. Im Gegensatz zu der makkabäischen Revolte, war es eine total verrückte Affäre.

Die Zeloten gehörten verschiedenen einander konkurrierenden Gruppen an, die sich bis zum bitteren Ende nicht einigen konnten. Ihre Rebellion, die "Große Rebellion" genannt, war auch eine fanatisch national-religiöse Angelegenheit.

Zu jener Zeit füllten messianische Ideen die Luft in Palästina. Das Land absorbierte religiöse Ideen aus allen Richtungen - hellenische, persische, ägyptische - und vermischte sie mit den jüdischen Traditionen. In dieser fieberhaften Atmosphäre wurde das Christentum geboren und das Buch des Hiob und andere spätere Bücher der hebräischen Bibel geschrieben.

Während der Messias jeden Moment erwartet wurde, taten jüdische Fanatiker etwas, das uns heute unglaublich erscheint: sie erklärten dem römischen Reich, das damals auf der Höhe seiner Macht stand, den Krieg. Das ist so, als würde Israel heute gleichzeitig den USA, China und Russland den Krieg erklären - etwas worüber sogar Benjamin Netanjahu zweimal nachdächte, bevor er es in die Tat umsetzen würde.

Es dauerte ein Weile, ehe die Römer ihre Legionen gesammelt hatten - und das Ende konnte vorausgesehen werden: Die jüdische Gemeinde im Land wurde zerquetscht, der Tempel wurde zerstört (vielleicht durch Zufall) und die Juden wurden aus Jerusalem und vielen anderen Orten in Palästina vertrieben.

Die Zeloten glaubten aber immer an ihren Gott. Im belagerten Jerusalem, verbrannten sie - obwohl schon fast vor Hunger sterbend - einander den Weizen, sicher, dass Gott sie versorgen würde. Aber Gott schien anderweitig beschäftigt gewesen zu sein.

Auf der Höhe der Belagerung Jerusalems wurde der hochverehrte Rabbi Jochanan Ben-Zakkai von seinen Schülern in einem Sarg aus der Stadt geschmuggelt und die Römer gestattete ihm, in Jawne eine Religionsschule zu eröffnen. Diese wurde zum Zentrum einer neuen Art antiheroischen Judentums.


AUS DER von den Zeloten verursachten Katastrophe, wurde jedoch keine Lehre gezogen. Weniger als 70 Jahre später begann ein Abenteurer mit Namen Bar Kochba ("Sohn eines Sterns") noch einen Krieg mit dem römischen Reich, der noch schwachsinniger war, als der letzte.

Anfangs siegte Bar Kochba - wie die Zeloten - einige Male, bevor die Römer ihre Militärkräfte versammeln konnten. Zu jener Zeit unterstützten ihn die Rabbiner. Aber sein Größenwahn veranlasste sie, ihre Unterstützung wieder zurück zu ziehen. Man sagt von ihm, er hätte zu Gott gesagt: "Du musst mich nicht unterstützen, aber störe mich wenigstens nicht!"

Die unvermeidbare Niederlage Bar Kochbas war sogar eine noch größere Katastrophe als die vorherige. Massen von Juden wurden in die Sklaverei verkauft, einige wurden in der römischen Arena den Löwen vorgeworfen. Eine Legende erzählt, dass Bar Kochba mit bloßen Händen mit einem Löwen kämpfte und ihn tötete.

Der grundlegende zionistische Glaubenssatz jedoch, die Juden seien mit Gewalt aus Palästina vertrieben worden und das sei der Beginn der Diaspora (des "Exils") gewesen, ist eine Legende. Die jüdische Bauernbevölkerung blieb im Land, und die meisten wurden Christen und später Muslime. Die heutigen Palästinenser sind wahrscheinlich die Nachkommen dieser jüdischen Bevölkerung, die an ihrem Boden festhielt. Schon David Ben-Gurion hat diese Theorie einmal vertreten.

Die jüdische Religion wurde tatsächlich im babylonischen Exil geboren, etwa 500 Jahre vor Christus und von Anfang an lebte die Mehrheit der Juden außerhalb Palästinas, in Babylon, Ägypten, auf Zypern und in vielen anderen Ländern rund ums Mittelmeer. Palästina blieb ein bedeutendes religiöses Zentrum, das eine wichtige Rolle in der Übergangszeit des Judentums zu einer Diaspora-Religion wurde, die sich vor allem auf den Talmud gründete.


DAS CHANUKKA-Fest symbolisiert den Wandel des Judentums nach der Zerstörung des Tempels - und den Gegenwandel, der durch die Zionisten in moderner Zeit bewirkt wurde.

Die Rabbiner waren gegen den Heldenkult, ob er nun gottesfürchtig war oder nicht. Sie setzten die Schlachten der Makkabäer herab und fanden einen anderen Grund, um Chanukka zu feiern. Es schien so, als ob ein großes Wunder geschehen sei, das viel bedeutender war als die militärischen Siege: als der Tempel wieder eingeweiht wurde, nachdem er von den "Griechen" entweiht worden war, hätte das Öl im Leuchter nur noch für einen Tag gereicht. Durch göttliche Einmischung reichte die kleine Menge Öl jedoch eine ganze Woche lang. Chanukka ist diesem großen Wunder gewidmet. (Das Wort Chanukka bedeutet Einweihung).

Das Buch der Makkabäer, das vom Kampf und dem Sieg erzählt, wurde in die hebräische Bibel nicht aufgenommen. Das hebräische Original ist verloren gegangen.

(Chanukka war, wie Weihnachten, ursprünglich ein heidnisches Fest, das zur Wintersonnenwende gefeiert wurde, so wie das Passahfest und Ostern sich auf die heidnische Feier der Frühjahrs-Tagundnachtgleiche gründen.)

Die jüdischen Weisen waren entschlossen, ein für allemal die Sucht nach Revolten und militärischen Abenteuern auszumerzen. Chanukka wurde nicht nur in ein harmloses Fest des heiligen Öls verwandelt, die Zeloten und Bar Kochba wurden ignoriert oder in rabbinischen Schriften verharmlost. Dies gestaltete das Judentum und das jüdische Leben bis zum heutigen Tag. Die Juden sollen Gott anbeten und nicht menschliche Helden.

So war es, bis der Zionismus auf der Bühne erschien. Die alten Helden wurden wieder erweckt, und man verwandelte sie nachträglich in Zionisten. Die Makkabäer, die Zeloten und Bar Kochba wurden unsere Vorbilder. Der Massen-Selbstmord der Zeloten auf dem Massadaberg nach der großen Revolte wurde als Ruhmestat gefeiert; Generationen von Kindern wurde und wird es gelehrt und sie bewundern sie.

Heute haben wir nationale Helden in Hülle und Fülle und brauchen all diese alten Mythen nicht mehr. Aber Mythen sterben langsam, wenn überhaupt. Immer mehr Stimmen von Historikern und ähnlichen Leuten zweifeln vorsichtig an ihrer Rolle in der jüdischen Geschichte. (Ich war mit einem Essay, den ich vor etwa vier Jahrzehnten schrieb, vielleicht der erste.)


ALL DIES mag das Sprichwort bestätigen: "Nichts ändert sich so sehr wie die Vergangenheit. Oder mit Goethes Worten: "Was ihr den Geist der Zeiten heißt, / Das ist im Grund der Herren eigner Geist, / In dem die Zeiten sich bespiegeln."

Der Zionismus war eine große spirituelle Revolution. Er nahm eine alte ethnisch-religiöse Diaspora und schuf eine moderne Nation nach europäischer Art. Um dies zu bewirken, musste er zuerst einmal die Geschichte umformen.

Er konnte sich auf die Arbeiten einer neuen Generation jüdischer Historiker gründen, die von Heinrich Graetz angeführt wurde, der ein neues Bild der jüdischen Vergangenheit malte, die von deutschen nationalistischen Historikern ihrer Zeit beeinflusst war. Graetz selbst starb ein paar Jahre vor dem ersten zionistischen Kongress, aber sein Einfluss war und bleibt sehr groß.

Während die Deutschen Hermann, den Cherusker wieder erweckten und ein riesiges Denkmal für ihn dort errichteten, wo sein großer Sieg über die Römer im Teutoburger Wald stattgefunden hat - kurz vor der jüdischen Großen Revolte - erweckten die frühen Zionisten die jüdischen Helden, ignorierten aber die Katastrophe, die sie verursacht hatten. Viele europäische Völker, große und kleine, taten dasselbe. Es war der Zeitgeist.

Drei Generationen israelischer Kinder wuchsen vom Kindergarten an mit diesen Mythen auf. Diese Kinder sind fast vollständig von der Weltgeschichte abgeschnitten. Sie lernen, dass die Griechen das Volk waren, dessen Joch die Makkabäer abschüttelten, aber sie lernen fast nichts über die griechische Philosophie, Literatur und Geschichte. So wird eine sehr enge, egozentrische Einstellung geschaffen - gut für Soldaten, aber gar nicht gut für Menschen, die Frieden stiften wollen.

Diese Kinder lernen nichts über die Geschichte der Araber, über den Islam und den Koran. Für sie ist der Islam eine primitive, mörderische Religion, die darauf erpicht ist, Juden zu töten.

Die Ausnahme ist das autonome orthodoxe Schulsystem, das nichts anderes als den Talmud lehrt und deshalb gegenüber dem Heldenkult immun ist, aber auch gegenüber der Weltgeschichte (natürlich mit Ausnahme der Pogrome).

Die große politische Veränderung, die wir dringend benötigen, muss von einem großen Wandel unserer historischen Anschauung begleitet werden.

Für die Einschätzung der Rolle der jüdischen Helden des Altertums ist wohl eine weitere Revision fällig.



Copyright 2014 by Uri Avnery

(Aus dem Englischen: Ellen Rohlfs, vom Verfasser autorisiert)
Redigiert von der Schattenblick-Redaktion

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Quelle:
Uri Avnery, 27.12.2014
www.uri-avnery.de
Der Schattenblick veröffentlicht diesen Artikel mit der freundlichen
Genehmigung des Autors.


veröffentlicht im Schattenblick zum 30. Dezember 2014


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