Schattenblick →INFOPOOL →POLITIK → MEINUNGEN

STANDPUNKT/332: Der Mord (Uri Avnery)


Der Mord

von Uri Avnery, 16.11.13



VOM ERSTEN Augenblick an hatte ich nicht den leisesten Zweifel daran, dass Yasser Arafat ermordet wurde.

Es war einfach logisch.

Auf dem Rückweg von der Beerdigung traf ich zufällig Gamal Zahalka, ein Knesset-Mitglied von der national-arabischen Balad Partei, einen hoch qualifizierten Pharmazeuten mit Doktortitel. Wir tauschten unsere Ansichten aus und kamen zu derselben Schlussfolgerung.

Die Untersuchungsergebnisse der Schweizer Experten von letzter Woche bestätigten nur meine Überzeugung.


ZUNÄCHST EINE simple Tatsache: Menschen sterben nicht ohne Grund.

Ein paar Wochen, bevor dies geschah, besuchte ich Arafat. Er schien durchaus bei guter Gesundheit zu sein. Als wir gingen, bemerkte ich zu Rachel, meiner Frau, er scheine mehr auf Draht und aufgeweckter zu sein als während unseres letzten Besuches.

Als er plötzlich sehr krank wurde, gab es keinen offensichtlichen Grund. Die Ärzte im französischen Militärhospital, zu dem er auf Drängen seiner Frau Suha gebracht wurde und wo er starb, fanden keine Erklärung für seinen Zustand. Sie fanden keine Krankheit. Absolut nichts.

Was an sich sehr seltsam war: Arafat war der Führer seines Volkes, der de facto Oberhaupt eines Staates war, und man kann sicher sein, dass die französischen Ärzte keinen Stein auf dem andern ließen, um den Fall zu diagnostizieren.

Da blieb nur Strahlung und Gift. Warum wurde kein Gift bei der Autopsie entdeckt? Die Antwort ist einfach: um ein Gift zu entdecken, muss man wissen, nach welchem man sucht. Die Giftliste ist fast unbegrenzt, und die Routinesuche ist auf eine kleine Zahl begrenzt.

Arafats Leiche wurde nicht nach radioaktivem Polonium untersucht.


WER HATTE die Gelegenheit, ihm das Gift zu verabreichen?

Praktisch jeder.

Während meiner vielen Besuche bei ihm, wunderte ich mich immer über die laschen Sicherheitsvorkehrungen.

Bei unserem ersten Treffen im belagerten Beirut wunderte ich mich über sein Vertrauen mir gegenüber. Zu jener Zeit war bekannt, dass Dutzende von Mossad-Agenten und Phalangisten-Spione die Stadt nach ihm durchkämmten. Er konnte nicht sicher sein, dass ich nicht selbst ein verdeckter Mossad-Agent sein könnte oder dass mir einer folgte oder dass ich nicht irgendein Gerät mit mir trug, das den Ort verraten würde.

Später in Tunis wurden die Besucher nur oberflächlich durchsucht. Die Sicherheitsvorkehrungen des israelischen Ministerpräsidenten sind unendlich viel strenger.

In der Mukata'a in Ramallah gab es auch nicht mehr Sicherheitsmaßnahmen.

Ich hatte mehrmals mit ihm gegessen und wunderte mich abermals über seine Unbekümmertheit. Amerikanische und andere ausländische Gäste, die pro-palästinensische Aktivisten waren (oder so taten, als wären sie es), wurden von ihm nach Belieben eingeladen, saßen neben ihm und hätten ihm leicht Gift ins Essen streuen können. Arafat scherzte mit seinen Gästen und und reichte ihnen eigenhändig auserlesene Leckerbissen.

Gewisse Gifte benötigen keine Lebensmittel. Ein leichter physischer Kontakt genügt.


DOCH DIESER Mann war einer der bedrohtesten Personen auf der Welt. Er hatte viele Todfeinde; ein halbes Dutzend Geheimdienste war auf seine Vernichtung aus. Wie konnte er nur so leichtsinnig sein?

Als ich mit ihm demonstrierte, erzählte er mir, er glaube, er stünde unter göttlichem Schutz.

Als er einmal in einer Privatmaschine von Tschad nach Libyen flog, verkündete der Pilot, dass das Benzin ausginge und sie mitten in der Wüste notlanden müssten. Arafats Leibwächter bedeckten ihn mit Kissen und bildeten einen Ring um ihn. Sie wurden alle getötet; aber er überlebte fast ohne einen Kratzer.

Seitdem wurde er sogar noch fatalistischer. Er war ein auf unaufdringliche Weise frommer Muslim. Er glaubte, dass Allah ihm die Aufgabe anvertraut habe, das palästinensische Volk zu befreien.



WER ALSO hat den Mord begangen?

Für mich kann es keinen wirklichen Zweifel geben.

Wenn auch viele ein Motiv hatten, so hatte nur eine Person die nötigen Mittel und einen tiefen und andauernden Hass gegen ihn: Ariel Sharon.

Sharon war wütend, als Arafat ihm in Beirut durch die Lappen ging. Hier war sein Opfer so nah gewesen und dann so fern. Dem arabisch-amerikanischen Diplomaten Philip Habib gelang es, eine Vereinbarung zu erzielen, die es den PLO-Kämpfern, darunter Arafat, ermöglichte, sich mitsamt ihren Waffen ehrenhaft aus der Stadt zurückzuziehen. Ich lag auf dem Dach einer Halle im Beiruter Hafen, als die Jeeps der PLO-Kämpfer mit fliegenden Fahnen zu den Schiffen eilten.

Ich konnte Arafat nicht sehen. Seine Männer versteckten ihn in ihrer Mitte.

Seitdem machte Sharon keinen Hehl aus seiner Entschlossenheit, ihn zu töten. Und wenn er sich zu etwas entschlossen hatte, dann gab er niemals auf. Selbst wenn bei viel kleineren Dingen sein Plan durchkreuzt wurde, kam er immer wieder auf ihn zurück, bis er Erfolg hatte.

Ich kannte Sharon gut. Ich kannte seine Entschlossenheit. Als ich zweimal das Gefühl hatte, dass sich Sharon seinem Ziel näherte, ging ich mit Rahel und einigen Kollegen in die Mukata'a, um als menschliche Schutzschilde zu dienen. Später lasen wir voller Befriedigung in den Zeitungen ein Interview mit Sharon, in dem er sich beklagte, dass er nicht in der Lage gewesen sei, den geplanten Mord durchzuführen, weil "einige Israelis dort waren.".


DIE LIQUIDIERUNG Arafats war mehr als eine persönliche Rache. Es war ein nationales Ziel.

Für Israelis war Arafat die Verkörperung des palästinensischen Volkes, ein Objekt abgrundtiefen Hasses. Er wurde mehr gehasst als jedes andere menschliche Wesen, außer Adolf Hitler und Adolf Eichmann. Dieser Mann war die Personifizierung des Generationen dauernden Konflikts mit dem palästinensischen Volk.

Es war Arafat, der die moderne nationale palästinensische Bewegung ins Leben gerufen hatte, deren oberstes Ziel es war, den zionistischen Traum zu vereiteln, das ganze Land zwischen Meer und Jordan zu besitzen. Er war es, der den bewaffneten Kampf (auch Terrorismus genannt) führte, und als er sich einem friedlichen Abkommen zuwandte, den Staat Israel anerkannte und das Osloer Abkommen unterzeichnete, wurde er noch mehr gehasst. Frieden war an die Rückgabe von viel Land an die Araber gebunden, und was könnte schlimmer sein?

Der Hass auf Arafat hatte längst aufgehört, rational zu sein. Bei vielen äußerte er sich durch eine umfassende physische Ablehnung, durch eine tödliche Mischung aus Hass, Aversion, Feindschaft und Misstrauen. In den etwa vierzig Jahren, nachdem er die Bühne betreten hatte, waren in Israel Millionen und Abermillionen Worte über ihn geschrieben worden und ich glaube, dass ich niemals ein einziges positives Wort über ihn gehört oder gelesen habe.

Während all dieser Jahre betrieb eine Armee bezahlter Propagandaschreiberlinge eine erbarmungslose Dämonisierungskampagne gegen seine Person. Jede vorstellbare Anklage wurde gegen ihn vorgebracht. Die Behauptung, dass er AIDS habe, was jetzt wieder in den israelischen verdeckten Propagandabemühungen steckt, sowie die Behauptung dass er homosexuell sei, wurde schon damals erfunden, um alle homophoben Vorurteile gegen ihn zu mobilisieren. Es ist unnötig zu sagen, dass nie ein Beweis darüber vorgelegt wurde. Die französischen Ärzte fanden keine Spur von AIDS.


KANN DIE israelische Regierung darüber entscheiden, solch eine Tat auszuführen? Es ist eine bewiesene Tatsache, dass sie es kann.

Im September 1997 wurde eine israelische Exekutionsgruppe nach Amman gesandt, um Chalid Mishal, den Hamas-Führer, zu ermorden. Das gewählte Mittel Levofentanyl war ein tödliches Gift, das auch keine Spuren hinterlässt und sich wie ein Herzinfarkt auswirkt. Es wird durch eine leichte Körperberührung verabreicht.

Die Tat wurde vereitelt. Die Killer wurden von Passanten erkannt; sie flohen in die israelische Botschaft, die daraufhin belagert wurde. König Hussein - gewöhnlich ein israelischer Kollaborateur - war wütend. Er drohte damit, die Täter aufzuhängen, wenn nicht sofort das lebensrettende Gegengift geliefert würde. Der damalige Ministerpräsident Benjamin Netanjahu gab sofort nach und sandte den Mossad-Chef mit dem geforderten Gegengift nach Amann. Mishal wurde gerettet.

2010 wurde ein anderer Trupp mit einem Mordauftrag in ein Hotel nach Dubai gesandt: ein anderer Hamas-Mitarbeiter, Mahmoud al-Mabhouh, war diesmal das Ziel. Sie verpfuschten auch diesen Auftrag - obwohl es ihnen gelang, ihre Beute zu töten, indem sie sie erst mit einem geheimen Gift lähmten und dann erstickten. Auch dieses Gift hinterließ keine Spuren. Sie wurden aber von den Hotelkameras gefilmt und ihre Identität wurde aufgedeckt.

Gott weiß, wie viele nicht verpatzte Morde auf diese Weise ausgeführt worden sind.

Israel ist natürlich nicht allein auf diesem Feld. Zuvor war ein russischer Spion, Alexander Litvinenko, unbesonnen genug, Vladimir Putin zu missfallen. Er wurde mit demselben radioaktiven Polonium vergiftet wie Arafat, aber bevor er starb, entdeckte ein aufmerksamer Arzt das Gift. Zuvor wurde ein bulgarischer Dissident vergiftet, indem er mit einem winzigen Pellet berührt wurde, das von einem Regenschirm abgefeuert wurde.


WARUM TÖTETE Sharon Arafat nicht früher? Schließlich wurde der palästinensische Führer sehr lang auf seinem Grundstück in Ramallah belagert. Ich selbst sah, wie israelische Soldaten nur wenige Meter entfernt von seinem Büro standen.

Die Antwort ist politisch bedingt. Die USA fürchteten, dass sich die ganze Region gegen sie erheben würde, wenn Israel dabei ertappt würde, wie es den PLO-Chef ermordet, der von Millionen in der ganzen arabischen Welt als Held angesehen wird. George Bush junior verbot dies. Die Lösung war, dies in einer Weise zu tun, dass es nicht auf Israel hinweisen würde.

Das war übrigens recht typisch für Sharon. Ein paar Wochen vor der Invasion in den Libanon 1982 erzählte er dem US-Außenminister Alexander Haig von seinem Plan. Haig verbot es, wenn es keine glaubwürdige Provokation gäbe. Siehe da, ein niederträchtiger Anschlag auf das Leben des israelischen Botschafters in London wurde verübt. Diese Provokation wurde als unerträglich genug betrachtet, und der Krieg begann.

Aus demselben Grund leugnet die Netanjahu-Regierung jetzt energisch eine Beteiligung an der Ermordung Arafats. Statt mit der Ermordung zu prahlen, versichert unsere Propagandamaschine, dass die Schweizer Experten inkompetent seien oder lögen (wahrscheinlich sind auch sie Antisemiten) und dass die Schlussfolgerungen falsch seien. Ein angesehener israelischer Professor hat die Erklärung von sich gegeben, alles sei Unsinn. Selbst die alte Geschichte über AIDS wird wieder erzählt.

Sharon in seinem endlosen Koma kann nicht reagieren. Aber seine alten Assistenten sind erfahrene Lügner und wiederholen ihre verlogenen Geschichten.


FÜR MICH ist der Mord an Arafat ein Verbrechen an Israel.

Arafat war der Mann, der bereit war, Frieden zu schaffen, und in der Lage war, alle Teile des palästinensischen Volkes dazu zu bringen, ihn zu akzeptieren. Er legte auch die Bedingungen fest: ein palästinensischer Staat mit Grenzen, die die Grüne Linie zur Grundlage haben, mit seiner Hauptstadt Ost-Jerusalem.

Dies ist genau das, was seine Mörder verhindern sollten.


Copyright 2013 by Uri Avnery

(Aus dem Englischen: Ellen Rohlfs, vom Verfasser autorisiert)
Redigiert von der Schattenblick-Redaktion.

*

Quelle:
Uri Avnery, 16.11.2013
www.uri-avnery.de
Der Schattenblick veröffentlicht diesen Artikel mit der freundlichen
Genehmigung des Autors.


veröffentlicht im Schattenblick zum 19. November 2013