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STANDPUNKT/316: Ein guter Krieg (Uri Avnery)


Ein guter Krieg

von Uri Avnery, 14. September 2013



HIER IST wieder ein jüdischer Witz: Ein hungriger junger Jude sieht an einem im Ort gastierenden Zirkus ein Plakat: Jeder, der auf die 50 Meter hohe Stange klettert und auf die Zeltplane herunterspringt, wird einen Preis von 1000 Rubeln gewinnen.

Aus Verzweiflung geht er hinein, klettert auf die Stange und schaudert als er hinuntersieht.

"Spring, spring!" schreit der Zirkusdirektor.

"Springen kommt nicht in Frage!" ruft der Jude zurück. "Aber wie komme ich wieder runter?"

Genauso empfand Barack Obama, kurz bevor die Russen ihm die Möglichkeit dazu boten.



DAS SCHWIERIGE am Krieg ist, dass er zwei Seiten hat.

Man bereitet sorgfältig einen Krieg vor. Man hat einen perfekten Plan. Zukünftige Generäle werden ihn in ihren Akademien studieren. Aber wenn man dann den ersten Schritt macht, geht alles schief. Weil die andere Seite eine eigene Vorstellung hat und sich nicht so verhält, wie man es erwartet hat.

Ein gutes Beispiel wurde (nach dem hebräischen Kalender) genau heute vor 40 Jahren durch den ägyptischen und syrischen Angriff auf Israel geliefert. Unseren Plänen zufolge hätten sie das weder tun sollen noch tun können. Auf gar keinen Fall. Sie wussten, dass unsere Kräfte überlegen waren und ihre Niederlage unvermeidlich.

Der Chef des Armeenachrichtendienstes, der für die Information der Geheimdienste verantwortlich war, prägte den berühmten Ausdruck: "Low Probability" (Geringe Wahrscheinlichkeit). Obwohl Hunderte von Anzeichen darauf hindeuteten, dass ein Angriff drohte, brachte es die Regierung von Golda Meir und Mosche Dayan fertig, total überrascht zu sein, als die Ägypter den Suezkanal überquerten und die Syrer zum See Genezareth durchbrachen.

Einige Zeit vorher hatte ich die Knesset gewarnt, dass die Ägypter im Begriff seien, einen Krieg zu beginnen. Keiner nahm es ernst. Ich war kein Prophet. Ich war nur gerade von einer Friedenskonferenz mit arabischen Delegierten zurückgekehrt. Und ein ehemaliger ägyptischer Oberst von hohem Rang sagte zu mir, dass Anwar al-Sadat angreifen würde, wenn Israel seinen geheimen Friedensvorschlag und den Abzug vom Sinai nicht akzeptieren würde. "Aber ihr könnt nicht gewinnen!" protestierte ich. "Er wird nicht angreifen, um zu gewinnen, sondern um die eingefrorene Situation wieder in Bewegung zu bringen", antwortete er.


SEITDEM KLINGT der Ausdruck "geringe Wahrscheinlichkeit" bedrohlich in den Ohren der Israelis. Keiner hat ihn seitdem wieder gebraucht. Aber während der letzten beiden Wochen erlebte er plötzlich ein Comeback.

So unglaublich es klingt, ihm wurde von unserem Armeekommando neues Leben eingehaucht. Begierig darauf, dass die Amerikaner Syrien angreifen, und angesichts der großen Nachfrage nach Gasmasken in Israel, verkündet es, dass es eine sehr geringe Wahrscheinlichkeit gebe, dass Bashar al-Assad mit einem Angriff auf Israel Vergeltung üben würde.

Er würde es natürlich nicht wagen. Wie könnte er? Seine Armee steckt im Kampf gegen die Rebellen fest. Sie ist auf jeden Fall unserer Armee unterlegen und nach zwei Jahren Bürgerkrieg ist sie sogar noch schwächer als sonst. Also wäre es Tollheit, von seiner Seite aus uns zu provozieren. Absolut. Sehr, sehr geringe Wahrscheinlichkeit.

Oder?

Es wäre sicher so, wenn Assads Gehirn so arbeiten würde wie das eines israelischen Generals. Aber Assad ist kein israelischer General. Er ist der syrische Diktator, und sein Gehirn arbeitet ganz anders.

Wie wäre es mit dem folgenden Szenario?

Die Amerikaner greifen Syrien mit Raketen und Bomben an, mit der Absicht, die Rote Linie zu unterstreichen. Nur eine kurze, begrenzte Aktion.

Assad erklärt Israel dafür verantwortlich und schleudert seine Raketen auf Tel Aviv und Dimona.

Israel rächt sich mit einem schweren Angriff auf Syriens Einrichtungen.

Assad erklärt, dass der Bürgerkrieg vorbei ist und ruft alle Syrer und die ganze arabische und muslimische Welt auf, sich hinter ihm zu vereinen, um die heilige arabische Erde gegen den gemeinsamen zionistischen Feind, den Unterdrücker der palästinensischen Brüder, zu verteidigen.

Die Amerikaner werden zur Verteidigung Israels eilen und

Und das soll "geringe Wahrscheinlichkeit" sein?


DESHALB WAR ich genauso erleichtert wie Obama selbst, als die Russen ihm halfen von der hohen Stange herunterzuklettern. Wow!

Was wird nun mit den chemischen Waffen geschehen? Darüber mache ich mir wirklich wenig Sorgen. Ich dachte von Anfang an, die Hysterie darum sei bei weitem übertrieben. Assad ist in der Lage, all die gewünschten Gräueltaten auch ohne Giftgas auszuführen.

Es sollte daran erinnert werden, warum sein Vater dieses Gas ursprünglich produzieren ließ. Er glaubte, Israel entwickle Atomwaffen. Da er nicht in der Lage war, so teure und technisch fortgeschrittene Waffen selbst herzustellen, entschied er sich für billigere - chemische und biologische - Waffen zur Abschreckung. Nach einem geheimen CIA-Bericht von 1982 produzierte Israel auch schon solche Waffen selbst.

Wir stecken also jetzt in einem langen Prozess von Verhandlungen, gegenseitigen Beschuldigungen, Inspektionen, Materialtransfers usw. Das reicht für ein paar Monate, wenn nicht Jahre.

Doch nun gibt es keine amerikanische Intervention. Keinen regionalen Krieg - nur das übliche gegenseitige Blutvergießen in Syrien.


ISRAEL IST wütend. Obama ist ein Waschlappen. Ein Feigling. Wie kann er es wagen, auf die öffentliche Meinung in Amerika zu hören? Wer wird ihm jemals wieder glauben?

Nachdem diese rote Linie überquert worden ist, wer wird Obama die viel breitere Linie abnehmen, die er in den Sand des Irans gezogen hat?

Ehrlich gesagt, keiner. Aber nicht wegen Syrien.

Es gibt absolut keine Ähnlichkeit zwischen der Situation in Syrien und der im Iran. Selbst wenn die "begrenzte" Aktion zu einer großen Aktion geführt hätte, was ziemlich wahrscheinlich gewesen wäre, es wäre immer noch ein kleiner Krieg gewesen mit geringen Auswirkungen auf die nationalen Interessen Amerikas. Ein Krieg mit dem Iran ist eine völlig andere Sache.

Wie ich viele Male zuvor geschrieben habe, würde ein Krieg mit dem Iran zur unmittelbaren Schließung der Straße von Hormuz führen, und damit zu einer weltweiten Öl-Krise, einer globalen ökonomischen Katastrophe mit unvorstellbaren Konsequenzen.

Ich wiederhole: Es wird keinen amerikanischen - und keinen israelischen - Angriff auf den Iran geben. Punkt.


TATSÄCHLICH KOMMT Obama ziemlich gut aus dieser Krise heraus.

Sein Zögern, das in Israel so viel Verachtung hervorrief, gereicht ihm zur Ehre. Es ist richtig, zu zögern, statt in den Krieg zu eilen. Im Krieg werden Menschen getötet. Selbst ein gezielter Schlag kann sehr viele Menschen töten. In der beschönigenden militärischen Sprache wird dies "Kollateralschaden" genannt.

Wir sollten es wissen. Vor Jahren begann Israel im Libanon eine winzige Operation und tötete unabsichtlich eine Menge Leute in einem UN-Flüchtlingslager.

Obama benutzte militärische Gewalt in der Weise, wie sie benutzt werden sollte, nicht zum Kampf, wenn der Kampf vermieden werden kann, sondern um dem diplomatischen Druck mehr Gewicht zu geben. Die Russen hätten sich nicht bewegt und Assad hätte sich ihrem Druck nicht gebeugt, wenn es nicht die glaubwürdige Drohung eines amerikanischen Militärschlags gegeben hätte. Sogar Obamas Entscheidung, den Kongress um Genehmigung zu bitten, war in diesem Kontext richtig. Dies lieferte die Atempause, die die russische Initiative möglich machte. Ja, die Russen sind bei dem großen Spiel wieder dabei. Sie werden auch eine Rolle bei der kommenden Konfrontation mit dem Iran spielen. Sie sind einfach zu groß, um ignoriert zu werden. Und Vladimir Putin ist ein zu schlauer, raffinierter Spieler, als dass er beiseitegeschoben werden könnte.

Für Zuschauer mit literarischer Neigung ist das Zusammenspiel zwischen Obama und Putin faszinierend - so verschiedene Charaktere, solch verschiedene Motivationen. Wie die Schwert schwingenden und Dreizack schwingenden Gladiatoren in der alten römischen Arena.

Und die UN ist auch wieder zurück. Die gute alte UN, so unwirksam, so schwach, aber so nötig in Situationen wie dieser. Gott segne sie.


ABER WAS ist nun mit Syrien? Was ist mit den fortgesetzten Massakern, auch Bürgerkrieg genannt? Wird das ewig so weitergehen? Kann diese Krise in eine Lösung verwandelt werden?

Ich denke, das ist möglich.

Jetzt, da die USA und die Russen nicht mehr mit einander auf Kriegsfuß stehen und Iran mit einer viel vernünftigeren Stimme spricht (danke für die Grüße zu Rosh Hashana), könnten wir vielleicht vorsichtig, sehr vorsichtig an eine Lösung denken.

Ich kann mir z.B. eine gemeinsame amerikanisch-russische Initiative entlang folgender Linien vorstellen:

Syrien wird ähnlich wie Bosnien und die Schweiz zu einem föderalen Staat umgestaltet.

Dieser wird aus konfessionellen Kantonen nach bestehenden Linien zusammengesetzt werden: Sunniten, Alawiten, Kurden und Drusen etc.

Anstelle des allmächtigen Präsidenten wird es eine kollektive oder rotierende Präsidentschaft geben. Dies würde das Problem um die Person Assad lösen.

Dies wäre eine Lösung, mit der jeder leben könnte. Ich sehe keine andere Lösung, die ohne viel Blutvergießen gefunden werden kann. Ich denke nicht, dass man zum Status quo ante zurück gehen kann. Die Alternative zu dieser Lösung ist endloses Blutvergießen und das Auseinanderbrechen des Staates.

Falls eine solche Lösung gefunden werden würde, könnte diese Krise sogar wertvolle Früchte hervorbringen.

Was wieder zeigen würde, dass der einzige "gute Krieg" ein Krieg ist, der vermieden wird.


Copyright 2013 by Uri Avnery

(Aus dem Englischen: Ellen Rohlfs, vom Verfasser autorisiert)
Redigiert von der Schattenblick-Redaktion.

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Quelle:
Uri Avnery, 14.09.2013
www.uri-avnery.de
Der Schattenblick veröffentlicht diesen Artikel mit der freundlichen
Genehmigung des Autors.


veröffentlicht im Schattenblick zum 17. September 2013