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STANDPUNKT/109: Eine Änderung der Tagesordnung? (Adam Keller)


Crazy Country - Freitag, 19. August 2011

Eine Änderung der Tagesordnung?

Von Adam Keller


Irgendjemand auf der wilden Sinai-Halbinsel traf eine Entscheidung und schickte einen großen, wohlausgerüsteten Stoßtrupp los, der über die Grenze in den israelischen Negev eindrang, Busse und Autos angriff, Soldaten in Scharmützel verwickelte, drauflos schoß und wahllos tötete und tötete. Und eh man sich's versah, gab es binnen einer Minute eine Änderung der Tagesordnung, und die öffentliche Stimmung schlug um in Alarmzustand und Krieg vor den Toren. Und in allen Kommunikationsmedien war nicht weiter von sozialem Protest die Rede, sondern von nichts als Terrorismus, Armee und Sicherheitsfragen.

Es war ein schwieriger Monat für Ministerpräsident Netanjahu gewesen - wirklich, ein sehr harter Monat. Ein Ministerpräsident im Belagerungszustand und in der Klemme: Zeltlager über Zeltlager schossen im ganzen Land aus dem Boden, Demonstrationen, Proteste und noch mehr Demonstrationen. Die Forderungen nach bezahlbarem Wohnraum, nach sozialer Gerechtigkeit und einem Sozialstaat besetzten die zentrale Bühne, und die freie Marktwirtschaft, an deren Förderung Natanjahu in seiner Zeit als Finanzminister so hart gearbeitet hatte, geriet plötzlich ins Zwielicht. Was hat er nicht alles versucht? Er setzte die Peitsche ein und das Zuckerbrot, er versuchte, die Protestierenden mit Komitees und Vergünstigungen und Kaninchen zu ködern, die er aus dem Hut zog, und er versuchte, sie als Linke zu brandmarken und als verwöhnte Sushi-Esser, und sie protestierten und demonstrierten weiter und erweiterten die Zeltlager, und ihre Kundgebungen erreichten die Höchstmarke von 300.000 in Tel Aviv. Gestern Morgen noch zogen die Protestierenden vor das Haus von Ejal Gabbai, Natanjahus Bürovorsteher, und er fand deutliche Worte und machte ihnen klar, daß das System der freien Marktwirtschaft nicht geändert wird, die Reichen nicht besteuert werden und es keinen Sozialstaat in Israel geben wird. Und diese unverschämten jungen Leute akzeptierten diese Klarstellungen ihrer Regierung einfach nicht und kündigten lediglich an, ihre Proteste und Demonstrationen weiter zu verstärken.

Wie, wie nur konnte man die allgemeine Aufmerksamkeit ablenken und der Tagesordnung eine andere Richtung geben? Vielleicht würde endlich der September kommen, in dem die Palästinenser vor die UNO treten und ihren eigenen Staat einfordern und auf diese Weise helfen, die öffentliche Meinung in Israel auf etwas anderes zu lenken? Aber die große Show bei der UNO findet erst am 20. September statt, wie übersteht man einen weiteren Monat bis dahin? Was ist, wenn die Palästinenser Ende September Massendemonstrationen veranstalten und soziale Gerechtigkeit einfordern, fordern, im eigenen Land frei zu sein und nicht länger unter Besatzung zu leben - wäre das ausreichend, für eine Änderung der Tagesordnung? Es könnte gar ein wenig Sympathie unter den Israelis erregen.

Aber noch ist nicht alles verloren, und die Entlastung für den getriebenen Netanjahu kam aus der gewohnten Ecke, aus Sinais Wüste kam die aufsehenerregende Initiative zur Änderung der allgemeinen Tagesordnung in Israel. Und es traf sich, daß die wunderbaren Sicherheitsdienste Israels schon seit langem den Plan gefaßt hatten, Anführer in Gaza zu liquidieren, der lediglich umgesetzt werden mußte, und umgesetzt wurde er auf der Stelle, und umgehend startete die israelische Luftwaffe nach Rafah und führte den Luftschlag - ein sofortiger und gewaltiger Erfolg -, und gleich danach konnte der Ministerpräsident eine auf allen Kanälen ertönende, eindringliche patriotische Ansprache an die Nation halten, um den tapferen Soldaten und den unerschrockenen Piloten und den emsigen Sicherheitsagenten seine Gratulation zu übermitteln und den Palästinensern eine ernste Warnung und den Trauernden sein Mitgefühl auszusprechen, den Verwundeten eine schnelle Genesung zu wünschen; und wie wunderbar fühlte es sich endlich wieder an, eine lange Rede zu halten, ohne ein einziges Wort über soziale Probleme zu verlieren, genau wie in der guten alten Zeit. Und natürlich wußten die Israelis im Süden, sobald Gaza unter Beschuß lag, daß die Zeit gekommen war, die Schutzräume aufzusuchen und auf das Schlimmste gefaßt zu sein, und tatsächlich ließen die Kassam- und die Grad-Raketen nicht lange auf sich warten, natürlich lösten sie den Gegenangriff der Luftwaffe auf weitere Ziele in Gaza aus und brachten noch mehr Raketen über Israel, die Eskalation findet auf beiden Seiten gleichermaßen statt - und wer würde jetzt noch wagen, Einsparungen im Verteidigungshaushalt zu fordern, um soziale Probleme anzugehen?

Aber wie verhalten sich nun die Aktivisten des Sozialprotestes? Werden sie sich still der Änderung der Tagesordnung fügen und kleinlaut von der Szene abtreten? Wenn es das ist, worauf Natanjahu setzt, sollte er lieber noch einmal nachdenken.

Ich möchte den Aktivisten des Sozialprotestes das Wort übergeben, mit einer Auswahl von Mitteilungen, die in den letzten 24 Stunden auf der offiziellen Wohnraumprotestseite bei Facebook veröffentlicht wurden:
http://www.facebook.com/j14rev


Quelle des englischen Orginaltextes:
A changed Agenda?
http://adam-keller2.blogspot.com/2011/08/changed-agenda.html


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Quelle:
© 2011 by Adam Keller, 19. August 2011
Internet: http://adam-keller2.blogspot.com
in einer Übersetzung des Schattenblick aus dem Englischen


veröffentlicht im Schattenblick zum 21. August 2011