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STELLUNGNAHME/070: Brasilien - Eine Demokratie ohne rechtsstaatliche Garantien? (poonal)


poonal - Pressedienst lateinamerikanischer Nachrichtenagenturen

Brasilien
Eine Demokratie ohne rechtsstaatliche Garantien?

Von Tomás Matamala


(Berlin, 25. November 2019, radio matraca) - Ist es möglich, dass ein Anhänger von Diktatoren und Folter, der Verachtung gegenüber Homosexuellen, Frauen und Minderheiten schürt, zum Präsidenten gewählt wird? Ja. Während seines Wahlkampfs machte Jair Bolsonaro, rechtmäßig gewähltes Oberhaupt der brasilianischen Regierung, keinen Hehl aus seiner intoleranten, rassistischen, klassistischen, homophoben Grundhaltung, die sämtlichen Errungenschaften und Abkommen im Kontext von Menschenrechten, Meinungsfreiheit und Vielfalt widerspricht.

Das Abkommen der internationalen Staatengemeinschaft Agenda 2030 für nachhaltige Entwicklung formuliert als Ziel Nummer 16: Friedliche und inklusive Gesellschaften für eine nachhaltige Entwicklung fördern, allen Menschen Zugang zur Justiz ermöglichen und leistungsfähige, rechenschaftspflichtige und inklusive Institutionen auf allen Ebenen aufbauen.

Es ist offensichtlich, dass wir noch sehr weit davon entfernt sind, in friedlichen, gerechten und inklusiven Gesellschaften zu leben. Wie ein Blick auf die einschlägigen Daten zeigt, blieben in den letzten Jahren alle Versuche, die Gewalt zu beenden, Rechtsstaaten zu fördern, Institutionen auf allen Ebenen zu stärken oder den Zugang zur Justiz zu vereinfachen, überwiegend erfolglos. Im Gegenteil; Millionen Menschen wurden ihrer Sicherheit, ihrer Rechte und ihrer Chancen beraubt.


Millionen Menschen werden ihrer Rechte beraubt

Obwohl sich viele Länder verstärkt bemühen, Menschenrechtsverletzungen öffentlich zu machen und Gesetze und Verfahren zu entwickeln, die die Gestaltung offenerer und gerechterer Gesellschaften zu fördern sollen, kommt es immer wieder zu Ereignissen, die einer gegenläufigen Entwicklung Vorschub leisten.

Nach Angaben der Vereinten Nationen wurden zwischen dem 1. Januar und dem 31. Oktober 2018 in 41 Ländern insgesamt 397 Menschenrechtsaktivist*innen, Journalist*innen und Gewerkschafter*innen ermordet. Das heißt: Jede Woche haben durchschnittlich neun Menschen ihr Engagement für gesellschaftliche Teilhabe und Gleichberechtigung mit dem Leben bezahlt. Besonders besorgniserregend ist die steigende Tendenz; zwischen 2015 und 2017 lag der Durchschnitt bei einer Person pro Tag. Etwa die Hälfte der Opfer arbeitete in verschiedenen Gruppen zu Landfragen, zu Umwelt, Armut, Minderheitenrechten und indigenen Völkern oder zu den Auswirkungen wirtschaftlicher Aktivitäten.

Wie wichtig es ist, die Werte des demokratischen Rechtsstaats unter allen Umständen zu wahren, haben insbesondere die jüngsten Verbrechen gegen die Menschheit in Lateinamerika und auch in Brasilien gezeigt.

Der brasilianische Präsident Bolsonaro hält Hasstiraden und beruft sich auf diskriminatorische Ideologien, die die Auslöschung ganzer Bevölkerungssegmente ins Auge fassen. Das brachte uns zu der Frage: Wie kann es sein, dass eine Demokratie keine rechtsstaatlichen Garantien mehr einhält?

In einer Demokratie geht es nicht nur darum, dass das Regierungsgeschäft übernimmt, wer die meisten Stimmen erhalten hat. Es geht auch darum, Freiheiten und Rechte von Minderheiten zu respektieren. Nach Ansicht Bolsonaros sollen sich diese jedoch der Mehrheit beugen. Das würde bedeuten, dass die Demokratie vom Druck der Macht erstickt wird. Diese Entwicklung beobachtet man immer wieder, und zwar in verschiedenen Teilen der Erde: in Nicaragua, Ungarn, USA, Italien und in Chile.


Die neue Rechte versteht es, neue Informationstechnologien zu nutzen

Mit unseren Gästen sprachen wir über den Aspekt der Kommunikation in Bolsonaros Wahlkampf. Um Informationen und Falschinformationen, Wahrheiten und Post-Fakten zu verbreiten, bediente seine Partei sich viel und gern der neuen Medien. Die Methoden, die Bolsonaro in seinem Wahlkampf einsetzte, zeugen von der Existenz einer gut gerüsteten neuen Rechten, die es perfekt versteht, die neuen Informationstechnologien und Netzwerke für sich zu nutzen.

Bei unseren Gesprächen über Gerechtigkeit, das historische Gedächtnis und die Menschenrechte in Brasilien kamen wir auf die Idee, dass das Fehlen einer tiefen, systematischen Aufarbeitung des politischen und historischen Gedächtnisses den Aufschwung der repressiven staatlichen Diskurse, die eine deutliche Nähe zum gewaltvollen Weltbild aus der Diktatur aufweisen, wesentlich befördert hat. Gewalt und Intoleranz vermochten dieses Vakuum für sich zu nutzen, und so konnte sich der rechtsautoritäre Diskurs konsolidieren.

Die Daten der Vereinten Nationen über Menschenrechtsverletzungen in Ländern, die sich nicht notwendigerweise im Konflikt befinden, zeigen, dass ein Viertel der ermordeten Aktivist*innen Journalist*innen und Blogger*innen waren. Menschenrechtsaktivist*innen, Journalist*innen und Gewerkschafter*innen werden so lange Zielscheibe der Gewalt bleiben, bis die Mitgliedsstaaten ihrer Pflicht nachkommen und diejenigen schützen, die sich für Grundrechte und Freiheiten einsetzen.

Deshalb erachten wir es als notwendig, dass die Einrichtung nationaler Menschenrechtsinstitute schneller vonstatten geht. Die Menschenrechtsorganisationen dienen dem Schutz von Aktivist*innen und sollen staatliche Gewalt öffentlich machen. Diese Fälle gibt es, und es kann sie auch in Zukunft geben. Im Jahr 2018 gab es nur in 39% aller Länder ein nationales Menschenrechtsinstitut, das bedeutet gegenüber 2015 einen Zuwachs von sieben Ländern bzw. drei Prozent. Läuft die Entwicklung in diesem Tempo weiter, wird im Jahr 2030 in gerade mal 50% aller Länder ein staatliches Menschenrechtsinstitut dafür Sorge tragen, dass die Staaten ihrer Verpflichtung hinsichtlich der Menschenrechte nachkommen.

Dieser Artikel ist eine übersetzte Zusammenfassung eines Gesprächs von Radio Matraca desde Berlín mit zwei in Berlin lebenden brasilianischen Aktivist*innen des Kollektivs Refracta, Beatriz Cerqueira und Vinicius Mendes (Anm. d. Poonal-Redaktion).

Audiobeitrag zum Artikel:
https://www.npla.de/thema/repression-widerstand/quo-vadis-brasil/


URL des Artikels:
https://www.npla.de/thema/tagespolitik/eine-demokratie-ohne-rechtsstaatlichen-garantien/


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veröffentlicht im Schattenblick zum 27. November 2019

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