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FLUCHT/036: Fluchtursachen, Fluchtwege und die neue Rolle Deutschlands (NG/FH)


Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte Nr. 12/2015

Flucht. Letzter Ausweg
Fluchtursachen. Fluchtwege und die neue Rolle Deutschlands

Von Jochen Oltmer


Flucht bildet eine Erscheinungsform von Gewaltmigration. Sie tritt dann auf, wenn (halb-)staatliche Akteure die Handlungsmacht und damit die Freiheit und Freizügigkeit von Einzelnen oder Kollektiven weitreichend beschränken. Gewaltmigration kann durch eine Nötigung zur Abwanderung verursacht sein, die keine realistische Handlungsalternative zulässt. Sie kann Flucht vor Gewalt sein, die Leben, körperliche Unversehrtheit, Freiheit und Rechte direkt oder erwartbar bedroht, zumeist aus politischen, ethno-nationalen, rassistischen, genderspezifischen oder religiösen Gründen.

Gewaltmigration war und ist meist Ergebnis von Krieg, Bürgerkrieg oder Maßnahmen autoritärer Systeme. Vor allem der Erste und der Zweite Weltkrieg bildeten elementare Katalysatoren in der Geschichte der Gewaltmigration. Konflikte um und mit Minderheiten, (bewaffnete) Auseinandersetzungen um die Gestaltung des politischen Systems sowie Bestrebungen zur Homogenisierung der Staatsbevölkerungen kennzeichneten außerdem seit dem Zweiten Weltkrieg den langen Prozess der Dekolonisation, der umfangreiche Fluchtbewegungen und Vertreibungen mit sich brachte. Zentrale Folgen für das Gewaltmigrationsgeschehen hatte zudem der Kalte Krieg als globaler Systemkonflikt der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts.

In den Jahrzehnten seither traten zahlreiche umfangreiche Fluchtbewegungen insbesondere im Kontext der Szenarien von Krieg, Bürgerkrieg und Staatszerfall mit langer Dauer in vielen Teilen der Welt hinzu - in Europa (Jugoslawien), im Nahen Osten (Libanon, Iran, Irak, Syrien, Jemen), in Ostafrika (Äthiopien, Somalia, Sudan / Südsudan), in Westafrika (Kongo, Elfenbeinküste, Mali, Nigeria), in Südasien (Afghanistan, Sri Lanka) oder auch in Lateinamerika (Kolumbien). 2014 registrierte der Flüchtlingshochkommissar der Vereinten Nationen (UNHCR) 19,5 Millionen Flüchtlinge, womit beinahe der Höchststand des vergangenen Vierteljahrhunderts erreicht worden ist (1992: 20,5 Millionen). Hinzu traten 2014 insgesamt 38 Millionen "Binnenvertriebene", die der Gewalt und Verfolgung innerhalb eines Staates ausgewichen waren. Weitere 1,8 Millionen Menschen befanden sich im Asylverfahren und warteten auf eine Anerkennung als Flüchtlinge. Damit waren weltweit rund 60 Millionen Menschen auf der Flucht.

Die globalen Fluchtbewegungen zeigen eindeutige Muster: Flüchtlinge suchen in aller Regel Sicherheit in der Nähe der Konfliktherde, weil sie meist danach streben, die verlassene Region möglichst bald wieder aufzusuchen. Außerdem verfügen viele unter ihnen nicht über die Mittel für größere Fluchtdistanzen oder es gibt Restriktionen von Durchgangs- oder Zielländern, die eine Migration über weite Distanzen behindern bzw. verhindern. 95 % aller afghanischen Flüchtlinge (2014: 2,6 Millionen) leben vor diesem Hintergrund in den Nachbarländern Pakistan oder Iran. Ähnliches gilt für Syrien: Der Großteil der Flüchtlinge von dort, rund 4 Millionen, sind in die Nachbarländer Türkei (2014: 1,6 Millionen), Jordanien (700.000), Irak (220.000) und Libanon (1,2 Millionen) geflohen. Angesichts dessen überrascht es nicht, dass Staaten des globalen Südens 2014 nicht weniger als 86 % aller weltweit registrierten Flüchtlinge beherbergten - mit seit Jahren steigender Tendenz im Vergleich zum Anteil des globalen Nordens.

Flucht ist selten ein linearer Prozess, vielmehr bewegen sich Flüchtlinge meist in Etappen: Häufig lässt sich zunächst ein überstürztes Ausweichen in die nächste Stadt oder einen anderen als sicher erscheinenden Zufluchtsort in der unmittelbaren Nähe ausmachen, dann die Weiterwanderung zu Verwandten und Bekannten in einer benachbarten Region oder einem Nachbarstaat oder das Aufsuchen eines informellen oder regulären Lagers. Muster von (mehrfacher) Rückkehr und erneuter Flucht finden sich ebenfalls häufig. Hintergrund ist dabei nicht nur die Dynamik der sich stets verändernden und verschiebenden Konfliktlinien, sondern auch die Unmöglichkeit, an einem Fluchtort Sicherheit oder Erwerbs- bzw. Versorgungsmöglichkeiten zu finden. Häufig müssen sich Menschen auf Dauer oder auf längere Sicht auf die (prekäre) Existenz als Flüchtling einrichten: Daher rührt auch das Phänomen der Verstetigung von Lagern mit der Folge von "Camp-Urbanisierung" und der Entwicklung von "Camp-Cities" mit teilweisem Großstadtcharakter.

Fluchtziel Deutschland

Den Angaben des UNHCR zufolge ist zwar in den vergangenen vier Jahren die Zahl jener Flüchtlinge angestiegen, die weltweit Grenzen überschritten haben. Das Anwachsen bewegte sich aber immer noch im Rahmen dessen, was für die vergangenen Jahrzehnte seit den 90er Jahren zu beobachten war. Viel stärker wuchs demgegenüber die Zahl der Schutzsuchenden, die als "Binnenvertriebene" innerhalb der Konfliktstaaten auswichen. Umso mehr ist damit die Frage relevant, warum seit 2011/12 insbesondere die Bundesrepublik Deutschland verstärkt zum Ziel von Fluchtbewegungen geworden ist. Sechs Antworten seien hier skizziert:

Erstens: Netzwerke. Migration findet vornehmlich in Netzwerken statt, die durch Verwandtschaft und Bekanntschaft konstituiert sind. Deutschland ist auch deshalb zum wichtigsten europäischen Ziel syrischer Flüchtlinge geworden, weil es hier bereits vor Beginn des Bürgerkriegs in Syrien eine recht umfangreiche syrische Herkunftsgemeinschaft gab, die für Menschen, die vor dem Bürgerkrieg flohen, eine zentrale Anlaufstation bildete. Und weil migrantische Netzwerke die Wahrscheinlichkeit für weitere Migration erhöhen, Migration also Migration erzeugt, hat die Zuwanderung syrischer Flüchtlinge in die Bundesrepublik die in den vergangenen Monaten zu beobachtende hohe Dynamik gewonnen. Ähnliches gilt im Übrigen für wichtige andere Flüchtlingsbewegungen mit dem Ziel Deutschland.

Zweitens: Finanzielle Mittel. (Erhebliche) finanzielle Ressourcen bilden eine wesentliche Voraussetzung für Migration: Formalitäten für Ein- und Ausreisen müssen bezahlt werden, Reise- und Transportkosten kommen hinzu, Schlepper oder Vermittler gilt es (teuer) zu entlohnen, Wartezeiten auf den Etappen verschlingen Geld. Für die Allerärmsten ist die Umsetzung eines Migrationsprojekts über größere Distanzen illusorisch. Unzählige Studien belegen: Armut schränkt die Bewegungsfähigkeit massiv ein. Fluchtbewegungen über größere Distanzen unternehmen vornehmlich Bessergestellte, wie sich beispielsweise auch bei den Bewegungen aus Syrien und dem Irak in die Bundesrepublik beobachten lässt. Hinzu kommt: Wegen der relativen geografischen Nähe wichtiger Herkunftsräume von Flüchtlingen zu Europa (Syrien, Irak) halten sich die Kosten für das Unternehmen Flucht von dort in Grenzen - zumindest im Vergleich zu Bewegungen aus anderen globalen Konfliktherden etwa in West- oder Ostafrika, Südasien oder Lateinamerika, die selten Europa erreichen.

Drittens: Aufnahmeperspektiven. Staaten entscheiden mit weiten Ermessensspielräumen über die Aufnahme von Migrantinnen und Migranten und den Status jener, die als schutzberechtigte Flüchtlinge anerkannt werden. Die Bereitschaft, Schutz zu gewähren, bildet immer ein Ergebnis vielschichtiger Prozesse des Aushandelns durch Individuen, Kollektive und (staatliche) Institutionen, deren Beziehungen, Interessen, Kategorisierungen und Praktiken sich stets wandeln. Mit der permanenten Veränderung der politischen, administrativen, publizistischen, wissenschaftlichen und öffentlichen Wahrnehmung von Migration verbindet sich ein Wandel im Blick auf die Frage, wer unter welchen Umständen als Flüchtling verstanden und wem in welchem Ausmaß und mit welcher Dauer Schutz oder Asyl zugebilligt wird. Seit 2010 und bis weit in das Jahr 2015 hinein lässt sich eine relativ große Aufnahmebereitschaft in der Bundesrepublik Deutschland beobachten, insbesondere im Vergleich zu vielen anderen Ländern der EU. Verantwortlich dafür war eine vor dem Hintergrund der günstigen Situation von Wirtschaft und Arbeitsmarkt positive Zukunftserwartung in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft. Die seit Jahren laufende breite Diskussion um Fachkräftemangel und den Prozess der strukturellen Alterung der Gesellschaft führte ebenso zu einer Öffnung wie die Akzeptanz menschenrechtlicher Standards und die Anerkennung des Erfordernisses des Schutzes vornehmlich syrischer Flüchtlinge, aus der auch eine große Bereitschaft zu ehrenamtlichem Engagement resultierte.

Viertens: Aufhebung von Migrationsbarrieren. Die EU-Vorfeldsicherung, also das System der Fernhaltung von Fluchtbewegungen, ist aufgrund des "Arabischen Frühlings" und der Destabilisierung diverser Staaten am Rand der EU zusammengebrochen. Die "Mobilitätspartnerschaften" der EU und die vielgestaltige europäische migrationspolitische Zusammenarbeit mit Staaten wie Libyen, Ägypten, Tunesien, Marokko, Albanien oder der Ukraine hatte seit den 90er Jahren verhindert, dass Flüchtlinge die Grenzen der EU erreichen und um Asyl nachsuchen konnten. Die Destabilisierung der politischen Systeme wirkte mit den tiefgreifenden Folgen der Weltwirtschaftskrise seit 2007 zusammen, die die gesellschaftlichen Konflikte in den EU-Anrainerstaaten verschärften, die staatlichen Handlungsmöglichkeiten beschnitten sowie die Bereitschaft und die Reichweite einer Zusammenarbeit mit der EU minimierten.

Fünftens: Die Weltwirtschaftskrise wirkte auch in den inneren Ring der Vorfeldsicherung gegen Flüchtlinge hinein. Das seit den 90er Jahren entwickelte "Dublin-System" diente der bewussten Abschließung der EU-Kernstaaten und insbesondere der Bundesrepublik Deutschland gegen die weltweiten Fluchtbewegungen. Lange funktionierte es. Aufgrund der massiven Folgen der Weltwirtschaftskrise aber waren diverse europäische Grenzstaaten, vornehmlich Griechenland und Italien, immer weniger bereit, die Lasten des Dublin-Systems zu tragen und die Flüchtlinge, die vermehrt die EU erreichten, zu registrieren und in das jeweilige nationale Asylverfahren zu fügen.

Sechstens: Deutschland als Ersatz-Zufluchtsland. Die Weltwirtschaftskrise führte innerhalb der EU dazu, dass die Bereitschaft klassischer und sehr gewichtiger Asylländer wie Frankreich oder Großbritannien stark sank, Flüchtlingen Schutz zu gewähren. In diesem Kontext wurde die Bundesrepublik gewissermaßen ein Ersatz-Zufluchtsland und damit zu einem neuen Ziel im globalen Gewaltmigrationsgeschehen.


Jochen Oltmer ist Apl. Professor für Neueste Geschichte und Mitglied des Vorstands des Instituts für Migrationsforschung und Interkulturelle Studien (IMIS) der Universität Osnabrück.
joltmer@uni-osnabrueck.de

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Quelle:
Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte Nr. 12/2015, S. 19 - 21
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veröffentlicht im Schattenblick zum 15. Januar 2016

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