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FLUCHT/033: Irak - Vertriebene Minderheit, die Tragödie der sunnitischen Araber (IPS)


IPS-Inter Press Service Deutschland GmbH
IPS-Tagesdienst vom 18. September 2015

Irak: Vertriebene Minderheit - Die Tragödie der sunnitischen Araber


Bild: © Chloe Cornish/IRIN

Viele Häuser von Bürgerkriegsvertriebenen sind verwüstet worden
Bild: © Chloe Cornish/IRIN

KIRKUK/IRAK (IPS/IRIN*) - Im Irak wimmelt es vor bewaffneten Männern: kurdische Peschmerga-Kämpfer im Norden, versprengte irakische Armeesoldaten im ganzen Land, schiitische Milizen und Einheiten der Volksmobilisierung im Zentrum sowie im Westen Kämpfer der Terrororganisation Islamischer Staat (IS).

Diese Gruppen demonstrieren an unterschiedlichen Kontrollpunkten ihre Macht und bestimmen, wer in welche Richtung weiterfahren darf. Die sunnitischen Araber haben es besonders schwer, in diesem tückischen Umfeld zu überleben.

Während die Massaker an den kleineren Minderheiten der Jesiden und Christen weltweit für Aufsehen sorgen, ist kaum bekannt, dass die meisten der etwa 3,2 Millionen irakischen Binnenflüchtlinge sunnitische Araber sind, die ebenfalls vom IS vertrieben wurden.

Die traditionellen Wohngebiete der Sunniten befinden sich größtenteils an der Frontlinie oder in den vom IS kontrollierten Gebieten. Die Feindseligkeiten von Seiten der Schiiten, Kurden und anderer Ethnien oder Religionsgruppen macht es den Sunniten schwer, anderswo unterzukommen.

Eine homogene Gemeinschaft sind sie nicht, obgleich ein Großteil von ihnen die extremistische IS-Miliz ablehnt. Dabei gehören sie streng genommen der gleichen islamischen Strömung an. "Gebt uns Waffen und wir bekämpfen sie auf der Stelle", sagte ein sunnitischer Scheich aus dem nördlich von Bagdad gelegenen Gouvernement Salah al-Din dem UN-Nachrichtendienst IRIN.


Sunniten gelten im Irak als Anhänger des IS

Andere Gemeinschaften halten sunnitische Araber für Sympathisanten des IS. Angesichts der angespannten Sicherheitslage werden Sunniten daher an vielen Checkpoints nicht durchgelassen.

"Aus der kriegsbedingten Vertreibung Kapital zu schlagen, ist kein akzeptabler Weg, um alte Rechnungen zu begleichen", meinte Christoph Wilcke von der Menschenrechtsorganisation 'Human Rights Watch'. Viele bewaffnete Gruppen tun jedoch genau das: Sie vertreiben die Sunniten, um deren Häuser zu plündern.

In den mehrheitlich von Schiiten bewohnten Gebieten im Süden des Iraks suchen vertriebene Sunniten in der Regel keine Zuflucht. Eher machen sie sich auf in Richtung der Hauptstadt Bagdad in die halbautonome Kurdenregion im Norden und die umkämpfte Provinz Kirkuk.

Die 31-jährige Hiam lebte einst mit ihrer Mutter, ihrer an Diabetes leidenden Schwester und ihrem lernbehinderten Bruder in der Stadt al-Dour in der von Sunniten dominierten Provinz Salah al-Din. Als im vergangenen Sommer der IS in das Gebiet einfiel, konnte die Familie die Mittel für die Flucht nicht aufbringen. Trotz aller Widrigkeiten arrangierte sie sich mit der Herrschaft der Islamisten.

Im März dieses Jahres griffen die irakische Armee und verbündete schiitische Kämpfer die IS-Stellungen in der Stadt an. Die Organisation 'Badr', der mächtigste Teil der berüchtigten Schiiten-Miliz, erklärte im Fernsehen, dass jeder, den das Militär in den vom IS besetzten Dörfern antreffe, ohne Gnade als Extremist behandelt werde.


Flüchtlinge zwischen allen Fronten

Aus Angst um ihr Leben retteten sich Hiam, ihre nächsten Verwandten und weitere Angehörigen vor der herannahenden Armee von einem Dorf zum anderen. Sie saßen in der Falle. Familien, die das IS-Territorium verlassen wollten, wurden von den Islamisten an den Kontrollpunkten festgehalten und als Feiglinge gebrandmarkt.

Schließlich gelangte die Familie nach Hawija, einer IS-Hochburg in der Provinz Kirkuk, wo Lebensmittel knapp sind. Extremisten nahmen Hiams männliche Verwandte mehrmals fest. Nach drei Monaten hielt es die Familie dort nicht mehr aus. Sie verkaufte alles, auch ihren Goldschmuck und das Auto, und zahlten einem Schleuser umgerechnet etwa 840 US-Dollar, damit er sie in Sicherheit brächte.

In den Nächten fuhren sie weiter, um den IS-Patrouillen zu entgehen, und gelangten schließlich zu den Hamrin-Bergen. Von dort aus war es möglich, zu Fuß das von der Regierung kontrollierte Territorium zu erreichen. Im Dunkeln verliefen sich die Flüchtlinge jedoch und hatten panische Angst, dem IS in die Hände zu fallen. Die Gruppe teilte sich.

Hiam wurde von ihrem Bruder getrennt. Ihre Gruppe hatte irgendwann kein Wasser mehr. Bei Temperaturen von etwa 40 Grad Celsius gab eine Cousine ihrer fünfjährigen Tochter ihren eigenen Urin zu trinken. "Die Sonne hat uns fast umgebracht", erinnert sich Hiam.

Es war eine Ironie des Schicksals, dass ihnen am nächsten Tag ausgerechnet die irakische Armee zur Hilfe kam, vor der sie drei Monate zuvor geflohen waren. Nur Hiams Bruder fehlte. Ein Soldat zeigte ihnen dann auf seinem Mobiltelefon ein Foto seiner Leiche. Er war an Dehydrierung gestorben.

Da al-Dour noch von der schiitischen Miliz besetzt war, harrte Hiams Familie über einen Monat lang in der Stadt Samarra aus. Erst Anfang August erlaubte die Miliz den Menschen, wieder heimzukehren. Als Hiam und ihre Angehörigen in al-Dour eintrafen, bot sich ihnen ein Bild des Grauens. Ihre Häuser waren niedergebrannt, ihr Hab und Gut gestohlen.


Kirkuk mit Flüchtlingsproblem überfordert

Dennoch ist es Hiams Familie im Vergleich zu anderen noch gut ergangen. Tausende sunnitische Araber konnten bisher nicht in ihre Dörfer zurückkehren. In ihren Notquartieren können sie aber nicht länger bleiben. Allein in Kirkuk leben laut der Internationalen Organisation für Migration (IOM) derzeit etwa 408.000 Binnenflüchtlinge.

Sa'ad stammt wie Hiam aus Salah al-Din. Er verdient sich in Kirkuk seinen Lebensunterhalt mit dem Verkauf von Speiseeis. Er weiß, dass sein Haus zerstört ist. "Ich wohne hier in einem Zelt", sagt er. "Doch der Winter steht vor der Tür, und ich habe Angst um meinen kleinen Sohn."

Die Bewohner von Kirkuk machen keinen Hehl aus ihrer Feindseligkeit gegenüber den Sunniten. Denn vor 20 Jahren hatte der damalige Diktator Saddam Hussein versucht, die Stadt zu arabisieren. Damals übten Sunniten überproportional viel Macht aus. Nach seinem Sturz kehrten wieder Kurden nach Kirkuk zurück. Die Stadt, die nahe der Grenze zu der Kurdenregion liegt, gehört aber weiterhin zum föderalen Staatsgebiet des Iraks. Ein Referendum, in dem die Bewohner der Grenzstädte selbst über ihre Verwaltung entscheiden sollten, blieb ein leeres Versprechen.

Eine Anordnung des irakischen Innenministeriums vom Juni dieses Jahres, Binnenflüchtlingen, die seit mindestens fünf Jahren an einem Ort leben, ein Bleiberecht zu gewähren, wurde in Kirkuk als Verfassungsbruch abgelehnt. Laut IOM halten sich dort etwa 22.000 Vertriebene aus der nordöstlich von Bagdad gelegenen Provinz Diyala auf. Wie Kirkuk gehört auch Diyala zu den von der Regierung kontrollierten Territorien. Der Provinzrat von Kirkuk forderte am 23. August dennoch alle aus Diyala stammenden Flüchtlinge auf, binnen eines Monats die Provinz zu verlassen. Bis dahin würden ihre Personalausweise einbehalten.

Der IS konnte zwar im Dezember 2014 aus Diyala vertrieben werden, doch die Lage in dem Gebiet ist weiterhin kritisch. Beobachter berichten, dass regelmäßig Menschen entführt oder ermordet werden.

Der Gouverneur von Kirkuk, Najmaldeen Karim, wirft der Regierung und internationalen Hilfsorganisationen vor, nicht ausreichend Hilfe zu leisten. Kirkuk könne die Unterbringung von etwa 110.000 Flüchtlingsfamilien kaum bewältigen. Die demografischen Veränderungen in der Stadt beunruhigten ihn, sagt er. In Kirkuk lebten auch noch viele Vertriebene, die während des Krieges von 2006 bis 2008 angekommen seien. Tausende von ihnen seien bisher nicht in ihre Heimat zurückgekehrt. (Ende/IPS/ck/18.09.2015)

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IPS-Tagesdienst vom 18. September 2015
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veröffentlicht im Schattenblick zum 22. September 2015

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