Schattenblick → INFOPOOL → POLITIK → KRIEG


FLUCHT/032: Europa - Flüchtlingskrise hausgemacht, Zustrom vor allem aus "Regimewechsel-Staaten" (IPS)


IPS-Inter Press Service Deutschland GmbH
IPS-Tagesdienst vom 4. September 2015

Europa: Flüchtlingskrise hausgemacht - Zustrom vor allem aus 'Regimewechsel-Staaten'

von Thalif Deen



Bild: © Rebecca Murray/IPS

Migranten vor dem Abtransport aus Kufra im Südosten Libyens
Bild: © Rebecca Murray/IPS

NEW YORK (IPS) - Die Kriege und die politische Instabilität, die Hunderttausende Flüchtlinge nach Europa treiben, sind in erster Linie auf die Militärinterventionen und Bestrebungen der USA und anderer westlicher Staaten mit dem Ziel zurückzuführen, einen Regimewechsel insbesondere in Ländern wie dem Irak, Afghanistan, Libyen und Syrien zu erreichen.

Die Vereinigten Staaten können dabei meist auf Deutschland, Frankreich, Großbritannien, Italien und Spanien zählen. Die Einhaltung einer Flugverbotszone zum Sturz des ehemaligen libyschen Machthabers Muammar Gaddafi wurde von Frankreich und Großbritannien mit Hilfe von Belgien, Dänemark, Norwegen und Kanada durchgesetzt.

Ende August hatte ein namentlich nicht genannter Vertreter eines osteuropäischen Landes, das der inzwischen 28 Länder umfassenden Europäischen Union angehört, die Frage gestellt: "Warum sollten wir diese Flüchtlinge aufnehmen, wenn wir gar nicht in ihre Länder einmarschiert sind?" Eine solche Frage hätte von allen ehemaligen Sowjetrepubliken inklusive Bulgarien, Litauen, Rumänien, der Slowakei, Slowenien, Tschechien und Ungarn kommen können. Auch sie sind EU-Mitglieder.

Die USA waren direkt am Regimewechsel in Afghanistan (2001) und dem Irak (2003) beteiligt und haben den Sturz des syrischen Präsidenten Baschar al-Assad unterstützt, der seit viereinhalb Jahren einen Krieg gegen das eigene Volk führt.

UN-Generalsekretär Ban Ki-moon brachte unlängst seine Bestürzung und Trauer über den Tod so vieler Flüchtlinge im Mittelmeer und in Europa zum Ausdruck. Er wies darauf hin, dass der Großteil der Menschen, "die diese beschwerliche und gefährliche Reise unternehmen, Flüchtlinge sind, die aus Ländern wie Syrien, dem Irak und Afghanistan kommen".


Destruktive Rolle der Europäer

Wie James A. Paul, ehemaliger Geschäftsführer der Denkfabrik 'Global Policy Forum' mit Sitz in New York, gegenüber IPS erklärte, könnte der Begriff 'Regimewechsel-Flüchtlinge' dazu beitragen, die Rhetorik der leeren Worte im Zusammenhang mit der Flüchtlingskrise zu verändern. Im europäischen Diskurs würden die Bürgerkriege in Nahost und Nordafrika gern auf Fanatismus, Korruption, Diktatur, wirtschaftliches Versagen und andere Gründe, für die man nicht die Verantwortung habe, zurückgeführt. Doch damit werde die Mitverantwortung der Europäer und der USA an der Flüchtlingskrise vertuscht.

"Über die von ihnen unterstützten Militärinterventionen und Regimewechsel, die die Heimatländer der Flüchtlinge auseinandergerissen sowie Bürgerkrieg und Staatsverfall nach sich gezogen haben, schweigen sich die Europäer lieber aus", meinte Paul. Doch die Herkunft der Flüchtlinge zeige, dass ein großer Teil aus Libyen, Syrien, dem Irak und Afghanistan komme.

Der Experte betonte weiter, dass viele auch vom Balkan kommen. Auch an den regionalen Kriegen der 1990er Jahre seien die Europäer beteiligt gewesen. Diese bewaffneten Konflikte hätten ebenfalls die dortigen Gesellschaften auseinandergesprengt und den wirtschaftlichen und sozialen Kollaps mit herbeigeführt.

Wie Vijay Prashad, Professor für internationale Studien am 'Trinity College' im US-amerikanischen Bundesstaat Connecticut, im IPS-Gespräch erklärte, hat die Genfer Flüchtlingskonvention von 1951 ausgedient. Die bisherige sei für die Zeit des Kalten Krieges geschrieben worden und habe sich an Flüchtlinge gerichtet, die aus der 'unfreien Welt' in der 'freien Welt' willkommen geheißen werden sollten. Viele Dritt-Welt-Länder hätten sich dieser Ideologie verweigert.

"Wir brauchen eine neue Vereinbarung", erklärte der Experte. Sie müsse sowohl die vom Internationalen Währungsfonds (IWF) mitverursachten Wirtschaftsflüchtlinge als auch die politischen Flüchtlinge berücksichtigen. Darüber hinaus forderte er die Anerkennung von Klima-, Regimewechsel- und NAFTA-Flüchtlingen. NAFTA steht für das Nordamerikanische Freihandelsabkommen zwischen den USA, Kanada und Mexiko.

Die Genfer Flüchtlingskonvention definiert einen Flüchtling als Person, die "aus der begründeten Furcht vor Verfolgung wegen ihrer Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen ihrer politischen Überzeugung sich außerhalb des Landes befindet, dessen Staatsangehörigkeit sie besitzt, und den Schutz dieses Landes nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Befürchtungen nicht in Anspruch nehmen will".


"Warum tut Europa nicht mehr?"

Angesprochen auf die kritische Äußerung des osteuropäischen Vertreters erklärte Prashad, dass er der gleichen Meinung sei, dass aber vom Libanon, von der Türkei, von Jordanien und anderen Ländern, die riesige Kontingente an Flüchtlingen aufgenommen haben, solche Einwände nicht zu hören seien. Interessanter als die Frage, warum man überhaupt die Flüchtlinge aufnehmen sollte, sei die Frage, warum Westeuropa und de USA nicht mehr für die Flüchtlinge täten.

Während westeuropäische Länder über die Ankunft hunderttausender Flüchtlinge an ihren Küsten klagen, ist die Zahl der Ankömmlinge im Vergleich zu den 3,5 Millionen Flüchtlingen, die von der Türkei, Jordanien und dem Libanon aufgenommen wurden, vergleichsweise niedrig. Dabei haben sie sich an keiner Invasion in die Herkunftsländer der Flüchtlinge beteiligt.

Paul erwähnte ferner die politischen Krisen, die der massive Flüchtlingsstrom nach Europa in einigen Zielländern ausgelöst habe. Als Beispiel nannte er Deutschland, wo es zu Schlachten zwischen Neonazis und Polizisten sowie Brandanschlägen auf Asylantenheime kommt. Die meisten Menschen weltweit reagierten schockiert auf das Flüchtlingsdrama, das das Mittelmeer, Lkws und Eisenbahntunnel zu Gräbern mache. Auch der Anblick tausender Kinder und Familien, die in Booten hilflos über das offene Meer trieben und sich mit Grenzzäunen und mobilen Einsatzkräften konfrontiert sähen, löse Entsetzen aus.

"Religiöse Führer werben für Toleranz, während EU-Politiker die Hände ringen und sich fragen, welche neuen Gesetze und Gelder vonnöten sind, um den Zustrom der vielen Menschen einzuschränken", so Paul. "Doch der wird immer größer. Und ein Ende ist nicht in Sicht. Zäune können den verzweifelten Massen einfach nicht standhalten. Das Problem wird sich nicht, wie von Deutschland vorgeschlagen, mit einigen Milliarden Euro an Wirtschaftshilfe aus der Welt schaffen lassen.

Paul zufolge wäre es wichtig, der Öffentlichkeit die Ursachen der Krise vor Augen zu führen. Doch die europäischen Politiker scheuten sich davor, die heiße Kartoffel anzufassen und ihre eigene Mitverantwortlichkeit einzugestehen.


Aus Lehren nicht gelernt

Seiner Meinung nach plädieren Franzosen für Militärinterventionen in den Krisen- und Konfliktländern an ihrer Nähe als Mittel gegen die eigene Tatenlosigkeit. Ein Sturz al-Assads scheine unter französischen Politikern besonders populär zu sein. Offensichtlich zögen sie es vor, die Tatsache zu unterschlagen, wie unproduktiv der Sturz Gaddafis in Libyen und ihre heimliche Unterstützung islamistischer Rebellen in dem Land gewesen sei.

"Die aggressive nationalistische Bestie innerhalb des politischen Establishments in den reichen Ländern ist offenbar nicht bereit, die Lehre zu ziehen und sich Rückschläge durch künftige Interventionen zu ersparen", so Paul. Aus diesem Grund sei es wichtig, sich den Faktor Regimewechsel anzusehen und der Öffentlichkeit klar zu machen, dass die Flüchtlingskrise 'made in Europe' sei - zu der natürlich die USA einen aktiven Beitrag geleistet hätten. (Ende/IPS/kb/04.09.2015)


Link:

http://www.ipsnews.net/2015/09/europe-invaded-mostly-by-regime-change-refugees/

© IPS-Inter Press Service Deutschland GmbH

*

Quelle:
IPS-Tagesdienst vom 4. September 2015
IPS-Inter Press Service Deutschland GmbH
Marienstr. 19/20, 10117 Berlin
Telefon: 030 / 54 81 45 31, Fax: 030 / 54 82 26 25
E-Mail: contact@ipsnews.de
Internet: www.ipsnews.de


veröffentlicht im Schattenblick zum 8. September 2015

Zur Tagesausgabe / Zum Seitenanfang