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KRIEG/1788: Stellvertreterkrieg im Nahen Osten ... (SB)



Das bedeutet jedoch nicht, dass die Kräfte unter dem Befehl von Haftar und die Regierung von Sarradsch, die einzige die von der UN anerkannt wird, auf der selben Stufe stehen. Daher ist die Nato bereit, die Regierung in Tripolis zu unterstützen.
NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg [1]

Der riesige Flächenstaat Libyen verfügt über die ergiebigsten Erdölvorkommen Afrikas, ist aufgrund seiner Lage von enormer geostrategischer Bedeutung sowohl für den Nahen Osten als auch einen hegemonialen Zugriff auf den Kontinent und zugleich die zentrale Flüchtlingsroute in Richtung Europa. Im Jahr 2011 wurde der Staat durch den Angriffskrieg von NATO-Mächten zerschlagen, Präsident Muammar Al-Ghaddafi gestürzt und umgebracht. Wie überall, wo die westliche Doktrin ihre Keule geschwungen und mit Waffengewalt ein "kreatives Chaos" geschaffen hat, um sich der fragmentierten Gemengelage zu bemächtigen, herrschen seither Krieg, Unterdrückung und Not. Neun Jahre währt in dem nordafrikanischen Land nun schon ein Stellvertreterkrieg von Warlords, zahlreichen Milizen und Söldnern, der von Regional- und Großmächten finanziert, munitioniert und damit immer weiter angeheizt wird.

Millionen von Menschen, die in diesem Schlachten getötet, verletzt, vertrieben, ausgebeutet und verelendet werden, sind kein Kollateralschaden von Neokolonialismus und Imperialismus, sondern dessen Treibstoff, Verhandlungsmasse und Zweck. Herrschaft drängt um ihrer Sicherung und Fortschreibung willen unvermeidlich zur Expansion, die das Regime des höchstentwickelten Raubes weltweit zu exekutieren trachtet. Diese Ratio kennt keine Koexistenz von Gesellschaftssystemen, Blöcken oder konkurrierenden Staaten, sondern ausschließlich die wachstums- und profitgetriebene, auf überlegener Waffengewalt gründende Unterwerfung und Einverleibung jeglicher Sphären, die sie noch nicht verschlungen und verstoffwechselt hat. Kriege und Krisen sind die zwangsläufige Folge dieses Regimes, das sich aus einem eskalierenden Verbrauch speist, der dem Nutzen weniger dient und die überproportionalen Schadensfolgen auf die Mehrheit der Menschheit abwälzt.

Unter diesen Voraussetzungen gibt es im libyschen Krieg keine Friedenslösung, sondern nur Sieg oder Niederlage, allenfalls einen brüchigen Waffenstillstand oder ein befristetes Regulativ, das den nächsten Konflikt in sich birgt. Auch die Bundesregierung ist an keinem Ausgang des Hauens und Stechens interessiert, der von den Menschen in Libyen eigenständig und unter Ausschluß fremder Mächte herbeigeführt oder wenigstens maßgeblich mitbestimmt wäre. Daß die diversen Volksgruppen und Stämme des Landes seit jeher verfeindet seien und sich folglich niemals einigen würden, ohne dazu gezwungen zu werden, blendet wie im Falle des gewaltsam zerstörten Jugoslawiens so auch in Libyen die Jahre einer stabilen Regierung und Austarierung der Partikularinteressen durch einen relativ hohen Lebensstandard der Bevölkerung aus. Ghaddafi finanzierte aus den Öleinnahmen nicht zuletzt den bestentwickelten Sozialstaat des Kontinents und hegte panafrikanische Träume wie er auch eine westafrikanische Währungsunion anstrebte. Gründe genug, um den "Diktator" zu stürzen und das Land "zu befreien".

Daran war Deutschland nur mittelbar beteiligt, so daß es sich heute als angeblich neutraler Vermittler in Szene setzen kann, obgleich sich beispielsweise die Waffenexporte an die Türkei, Ägypten und die Vereinigten Arabischen Emirate allein im ersten Quartal dieses Jahres auf rund 331 Millionen Euro beliefen. [2] Die Bundesregierung drängte bei der Berliner Libyen-Konferenz im Januar auf Schritte der Deeskalation, wozu insbesondere die Einhaltung des UN-Waffenembargos gehörte. Wer sich nicht daran halte, müsse mit Konsequenzen rechnen, drohte Außenminister Heiko Maas. Zugleich rüsten deutsche Waffenschmieden die Kriegsparteien auf, die einander auf dem libyschen Schlachtfeld feindlich gegenüberstehen. Wollte man von einer diplomatischen Meisterleistung insbesondere der Bundeskanzlerin sprechen, so bestand diese darin, die Formel der Nichteinmischung durchzusetzen, um damit der deutschen Einmischung den Weg zu bereiten. Dazu war es erforderlich, alle Beteiligten darauf einzuschwören, daß keiner der maßgeblichen Akteure diesen Stellvertreterkrieg für sich entscheiden könne, weshalb eine Übereinkunft kompromißfähig sei, die vorerst auch die Gegenseite bremst.

Die Bundesrepublik schafft mit ihrer diplomatischen Initiative wie auch der Beteiligung an der EU-Marinemission "Irini" im östlichen Mittelmeer Fakten, um ihren Führungsanspruch in Europa zu stärken, den hegemonialen Übergriff nach Afrika auszuweiten, die Konkurrenten um die regionalen Ölvorkommen zurückzudrängen und die europäische Flüchtlingsabwehr zu konsolidieren. Libyen spielt in mehrfacher Hinsicht eine zentrale Rolle in den strategischen Entwürfen Berlins. Es geht um die Kontrolle der Fluchtrouten in Richtung Europa, dessen vorgelagerte Flüchtlingsabwehr unter deutscher Führung konzipiert und durchgesetzt wurde. Zudem war das Land 2018 nach Rußland und Norwegen drittgrößter Erdöllieferant der Bundesrepublik, wobei der Konzern Wintershall-DEA dort einer der größten Förderer ist. Und nicht zuletzt sieht die deutsche Exportwirtschaft in Libyen einen vielversprechenden Absatzmarkt, wie das schon vor 2011 der Fall gewesen war. Insbesondere aber geht es für die Bundesregierung darum, den Fuß in die Tür zu dem umkämpften Land zu setzen, um die deutsche Ausgangsposition für künftige Raubzüge, politische Einflußnahme und militärische Interventionen in dieser Weltregion zu stärken.

In der gemeinsamen Abschlußerklärung der Berliner Libyen-Konferenz hatten sich alle Beteiligten dazu verpflichtet, eine Einmischung in den bewaffneten Konflikt oder in die inneren Angelegenheiten Libyens zu unterlassen. Zudem sollten internationale Anstrengungen zur Überwachung des Waffenembargos verstärkt, die Milizen umfassend demobilisiert und entwaffnet und Verletzungen eines Waffenstillstands sanktioniert werden. Dieses Vorhaben schien jedoch bereits im Ansatz gescheitert zu sein. Keine der Vereinbarungen wurde eingehalten, das Gegenteil war der Fall. Die Erzfeinde prügelten ungezügelt aufeinander ein, die Waffentransporte nahmen zu, der Krieg eskalierte. Inzwischen scheint jedoch eine Situation eingetreten zu sein, die Berlin in die Hände spielen könnte. Um nicht ins Hintertreffen zu geraten, haben die Drahtzieher beider Seiten derart nachgelegt, daß das Kampfgeschehen plötzlich wieder unentschieden anmutet. Damit zeichnet sich eben jene Konstellation ab, die Angela Merkel ins Visier nahm: Dieser Krieg ist nicht länger auf vergleichsweise niedrigem Niveau lokaler Akteure, sondern nur noch in direkter Konfrontation maßgeblicher Militärmächte zu gewinnen. Der Schritt vom Stellvertreterkrieg zum Regional-, wenn nicht gar Weltkrieg ist zwar nie auszuschließen, aber offenbar keine Option, welche die beteiligten Mächte sehenden Auges riskieren oder gar anstreben würden.

Rußland und die Türkei sparen nicht mit Drohungen, während sie Milizen und Söldner wie auch schweres Kriegsgerät ins Land bringen. Ein unmittelbares militärisches Aufeinandertreffen suchen sie aber wie schon in Syrien zu vermeiden. Die USA steuern Beweise für eine angebliche Stationierung russischer Kampfjets bei, die man glauben kann oder auch nicht. [3] Indessen will Washington zwar die Russen bremsen, hegt aber auch gewisse Sympathien für General Khalifa Haftar, der im amerikanischen Exil mit der CIA zusammengearbeitet hat. Die NATO neigt zu dessen Gegenspieler Fajes Al-Sarradsch, doch sind ihre Mitglieder uneins. Gleiches gilt für die EU, da Frankreich Haftar unterstützt, Italien jedoch die sogenannte Einheitsregierung.

Und das ist nur der Anfang einer langen Kette höchst verworrener Verstrickungen der direkt oder mittelbar beteiligten Kriegsparteien, zwischen denen sich diverse einander ergänzende oder widersprechende Frontverläufe herausgebildet haben. Sarradsch muß sich mangels Hausmacht von einheimischen und nun auch syrischen islamistischen Milizen schützen lassen, aber auch der im Land fester verankerte Haftar bedient sich nicht nur russischer, sondern auch sudanesischer und Assad-treuer syrischer Söldner. [4] Es ist mitnichten ein Bürgerkrieg, in dem sich zwei einheimische, klar voneinander zu unterscheidende Konfliktparteien gegenüberstünden. Auch bei den externen Unterstützern kann man nicht von tragfähigen Bündnissen sprechen, sondern lediglich von befristeten Übereinkünften mit teils ambivalenten Interessenlagen.

Die Milizen repräsentieren Momentaufnahmen unablässiger Machtkämpfe, die sich nicht nur gegen den aktuellen äußeren Feind, sondern in einem Konzentrationsprozeß auch gegen die internen Konkurrenten richten, die unterworfen und integriert werden sollen. Da die Investitionen in Libyen im wesentlichen Kriegsgelder sind, die zur wichtigsten Erwerbsquelle werden, bringt der andauernde Konflikt im militärischen wie ökonomischen Sinn vor allem weiteren Krieg hervor. Eben dies war gemeint, als die westlichen Mächte nach 09/11 zum globalen "Antiterrorkrieg" ohne absehbares Ende bliesen. Der weltweite Waffengang sollte nicht mehr enden, bis die finalen Gegner Rußland und China die Waffen gestreckt und sich unterworfen hätten.

Es geht in dieser Kette um weit mehr als Libyen, dessen spezifische Situation indessen eng damit zusammenhängt, daß Rußland kein zweites Mal den Fehler begehen will, den westlichen Mächten dort freie Hand zu lassen. Zudem ist diese Konfliktlage infolge der ebenfalls lang anhaltenden Kämpfe in Syrien mit entsprechenden Fraktionierungen aufgeladen. Der Vormarsch der NATO mittels eines Stellvertreterkriegs wurde im syrischen Konflikt gebremst, und dieses Szenario scheint sich nun in Libyen fortzusetzen. Daher ist nicht auszuschließen, daß der als diplomatische Mission getarnte deutsche Masterplan, die Konfliktparteien jedweder Couleur auf dem libyschen Schlachtfeld ausbluten zu lassen, um in einer unlösbar anmutenden Pattsituation als ehrlicher Makler den rettenden Friedensengel zu geben, am Ende sogar noch zum Zuge kommt - doch das heimgesuchte Libyen damit vom Regen in die Traufe.


Fußnoten:

[1] www.heise.de/tp/features/Libyen-Haftar-verliert-die-Tuerkei-gewinnt-4725092.html

[2] www.jungewelt.de/artikel/378666.libyen-ankara-am-drücker.html

[3] www.spiegel.de/politik/ausland/libyen-wladimir-putins-kampfjets-fliegen-im-buergerkrieg-a-a2d896d3-3c5b-49f7-b1c0-64421a03a5c4

[4] www.zeit.de/politik/ausland/2020-05/libyen-konflikt-tripolis-haftar-abzug-russische-soeldner

29. Mai 2020


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