Schattenblick → INFOPOOL → POLITIK → KOMMENTAR


KRIEG/1763: Syrien - nahöstliche Bereinigung ... (SB)



Was für eine Schande! Bundeskanzlerin Angela Merkel hat dem türkischen Präsidenten Erdogan finanzielle Unterstützung für den Bau von türkischen Flüchtlingsunterkünften im Norden Syriens (!) zugesagt. Damit soll Erdogans völkerrechtswidrige Besatzungspolitik und ethnische Säuberung im Nachbarland auch noch mit deutschen Steuergeldern finanziert werden. Merkel verkauft uns an den Autokraten, um ihren Flüchtlingsdeal und die Türkei an der Seite der NATO zu halten, koste es, was es wolle.
Sevim Dagdelen (Stellvertretende Vorsitzende der Linksfraktion) [1]

Kommt es zum Armdrücken zwischen der europäischen Führungsmacht und einem aufstrebenden Schwellenland, sollten die Kräfteverhältnisse eindeutig sein. Daß dennoch der Eindruck entstehen könnte, die Bundesregierung lasse sich von Recep Tayyip Erdogan erpressen oder vorführen, verdankt sich einer Gemengelage der beiderseitigen Interessen, die den Charakter einer Kollaboration annimmt. Deutsche Regierungen haben in der Vergangenheit mit Diktatoren zusammengearbeitet, deutsche Unternehmen wissentlich von repressiven Regimen profitiert, die ihnen die Arbeitskräfte durch Einschüchterung, Folter und Ermordung widerständiger Elemente zurichteten. Die Bundesregierung genehmigt Rüstungsgeschäfte mit Militärmachthabern und Despoten, warum sollte es sich also im Falle der Türkei anders verhalten, deren autokratischer Präsident sich diktatorische Zwangsmittel verschafft hat! Wenngleich deutscher Politik eine moderatere und unterwürfige Führung in Ankara in mancherlei Hinsicht gelegener käme, repräsentiert Erdogan doch trotz seiner irrwitzig anmutenden Manöver, neoosmanischen Ambitionen und übervollen Gefängnisse gerade wegen seiner brachialen Gewalttätigkeit eine Brechstange zur Durchsetzung deutscher Krisenauslagerung.

Die beiden Länder verbindet eine lange Geschichte, in Deutschland lebt die größte türkische Gemeinde außerhalb des Herkunftslandes. In ökonomischer Hinsicht ist die Bundesrepublik wichtigster Abnehmer türkischer Erzeugnisse, während deutsche Firmen aus niedrigen Löhnen, qualifizierten Arbeitskräften und der Unterdrückung von Arbeitskämpfen in der Türkei ihren Vorteil ziehen. Mit deutschen Waffen bekämpfen türkische Streitkräfte seit jeher die kurdische Bewegung, und 2019 erzielte der Export von Rüstungsgütern in die Türkei den höchsten Jahreswert seit 2005. Bereits 2018 machten solche Lieferungen fast ein Drittel aller deutschen Kriegswaffenexporte aus, womit die Türkei die Nummer eins unter den Empfängerländern war.

Die beiderseitigen Geheimdienste verfolgen die radikale türkische und kurdische Linke, in deutschen Gefängnissen sitzen politische Gefangene, die schon in der Türkei gefoltert und inhaftiert worden waren. Besondere Bedeutung kommt dem NATO-Mitglied an der südöstlichen Flanke und Brückenstaat zum Nahen und Mittleren Osten bei der Flüchtlingsabwehr zu, die unter der Regie der Bundesregierung im milliardenschweren Pakt zwischen Brüssel und Ankara besiegelt wurde und aus europäischer Sicht für eine gewisse Frist funktioniert hat. Erdogans Wert für deutsche Regierungspolitik läßt sich nicht zuletzt daran bemessen, daß dieses Flüchtlingsabkommen als beispielhaft gilt, aber alle Versuche, es auf andere Staaten insbesondere in Nordafrika zu übertragen, gescheitert sind. Mit einer Zusage von 6 Milliarden Euro, wovon nach Angaben der EU bereits 2,7 Milliarden Euro geflossen und für insgesamt 4,3 Milliarden projektbezogene Verträge unterzeichnet worden sind, hielten die europäischen Länder Millionen geflohene Menschen fern. [2]

Die Türkei hat ihren Teil des Abkommens erfüllt und 3,6 Millionen Flüchtlinge aus Syrien aufgenommen, mehr als alle anderen Länder der Welt zusammengenommen. Aus Sicht des Erdogan-Regimes waren sie insofern willkommen, als sie in Zeiten der Hochkonjunktur den Bedarf an billigen Arbeitskräften decken und die geplante ethnische Säuberung in den Kurdengebieten durch einen Austausch der Bevölkerung ermöglichen sollten. Zudem wurde die Südgrenze mit einer Mauer und anderen Sperranlagen abgeschottet, um die weitere Zuwanderung aus Syrien und entfernteren Ländern zu verhindern wie auch die kurdischen Gebiete im Nachbarland abzuschneiden.

In diesem Gesamtkomplex ist Erdogans Krieg gegen die kurdische Bevölkerung eine zentrale Komponente, die weit über eine Beschneidung autonomer Bestrebungen hinausgeht. Obgleich die kurdische Bewegung seit langem keinen eigenen Staat mehr fordert, sondern eine demokratische Föderation der Kurdengebiete unter Beibehaltung der bestehenden Landesgrenzen anstrebt, wird sie insgesamt als "terroristisch" bezichtigt und mit Repression überzogen. Ob in der Türkei, in Syrien oder im Irak greift die türkische Regierung die Kurdinnen und Kurden mit dem ganzen Arsenal militärischer, geheimdienstlicher, polizeilicher, juristischer und propagandistischer Mittel an.

Erklärtes Ziel ist die vollständige Brechung jeglichen Widerstands, die Zerstörung des emanzipatorischen Gesellschaftsentwurfs, ja sogar die Auslöschung der Kultur und ethnische "Säuberung" der kurdischen Siedlungsgebiete. Der geplante Bevölkerungsaustausch war stets ein integraler Bestandteil des Flüchtlingspakts mit der Europäischen Union, da mehrere Millionen aus Syrien geflohene Menschen nicht zuletzt deshalb befristet in der Türkei aufgenommen wurden, um sie im Südosten des Landes und in Nordsyrien unter Zersetzung der Kurdengebiete anzusiedeln. Dieser Prozeß hat im Kontext der im syrischen Grenzgebiet geplanten "Sicherheitszone" die Züge konkreter Umsetzung angenommen.

Während Erdogan die Flüchtlinge in der Türkei als Faustpfand hält, um die EU mit der Drohung, er könne die Schleusen öffnen, unter Druck zu setzen, trägt seine Kriegsführung und Okkupation in Nordsyrien maßgeblich dazu bei, zahllose weitere Menschen in die Flucht zu treiben. Die Bundesregierung weiß um die ethnischen Säuberungen und die Änderung der Demographie in Nord- und Ostsyrien durch die Ansiedlung arabischstämmiger, sunnitischer Syrer in den Gebieten der Selbstverwaltung, hält aber Ankara den Rücken frei und unterstützt die türkische Aggression mit zusätzlichen Geldern. So gab das Auswärtige Amt bekannt, daß weitere 25 Millionen Euro als Beitrag zur Bewältigung der humanitären Krise in der Region zur Verfügung gestellt werden. Die zugesagten Mittel dienten insbesondere der Errichtung von Unterkünften für Binnenvertriebene, die vor den andauernden Kampfhandlungen in Richtung der türkisch-syrischen Grenze fliehen.

Mit den Geldern sollen nationale und internationale Partnerorganisationen Notunterkünfte errichten, aber nur im Nordwesten Syriens. Ein vergleichbare Zahl von Flüchtlingen, die aus Afrin, Ras al Ain (Sere Kaniye) oder Tell Abyad (Gire Spi) vor Erdogans Truppen in das Selbstverwaltungsgebiet in den Nordosten geflohen sind, wird dabei verschwiegen und geht leer aus. Dort spitzt sich die Lage dramatisch zu, da mangels internationaler Unterstützung die medizinische Versorgung mehrerer hunderttausend Flüchtlinge zusammenzubrechen droht. Ihre Ernährungslage wie auch die der gesamten Bevölkerung wird immer schlechter, weil die Türkei die Getreidesilos der neu annektierten Gebiete geplündert und im Herbst große Teile der Ernte durch Brände vernichtet hat.

Empfänger der deutschen Hilfsgelder soll der Türkische Rote Halbmond sein, der davon angeblich auf syrischem Boden 25.000 Blockhäuser in der Provinz Idlib zur Unterbringung von Flüchtlingen bauen wird. Die Hilfsorganisation ist jedoch in eine schwere Korruptionsaffäre verstrickt, die mit Blick auf die tatsächliche Verwendung der Gelder gravierende Zweifel auf den Plan ruft. Offenbar wurden acht Millionen US-Dollar an Spendengeldern an die salafistische Ensar-Stiftung weitergeleitet, was der spendende Gasnetzbetreiber Baskentgaz zur Auflage gemacht habe, während der Rote Halbmond 75.000 US-Dollar für die Transaktion einstreichen konnte. Kurz vor der Spende wurde der Gasnetzbetreiber von der Torunlar-Holding gekauft, deren Besitzer Erdogans Schulfreund Aziz Torun ist. Die Ensar-Stiftung steht der AKP und besonders dem Erdogan-Clan nahe und hat das Geld offenbar an die von ihr gegründete Türgev-Stiftung weitergereicht, die von Erdogans Tochter Esra Albayrak geführt wird, der Ehefrau des derzeitigen Finanzministers Berat Albayrak. Nachdem publik wurde, daß der Rote Halbmond sein Spendenaufkommen zwischen 2016 und 2019 um das 32fache gesteigert hat, wurden Vorwürfe laut, es handle sich um eine "Steuerhinterziehungs- und Steuervermeidungsschleuse" für AKP-nahe Unternehmen. Es steht also zu befürchten, daß die 25 Millionen Euro aus Deutschland nicht Flüchtlingen zugute kommen, sondern in die Taschen des Erdogan-Clans wandern werden. [3]

Das sollte auch der Bundesregierung bekannt sein, die augenscheinlich bereit ist, nicht nur die türkische Kriegs- und Besatzungspolitik finanziell zu unterstützen, sondern sogar den Clan des Machthabers zu alimentieren, solange dieser für eine Lösung des "Flüchtlingsproblems" sorgt - und sei es um den Preis der Förderung einer Islamistenhochburg, während zugleich ein emanzipatorischer Gesellschaftsentwurf vernichtet und eine ethnischen Säuberung in den kurdischen Gebieten durchgeführt wird.


Fußnoten:

[1] www.theeuropean.de/sevim-dagdelen/bundeskanzlerin-merkel-unterstutzt-den-erpresser-erdogan/

[2] www.tagesschau.de/ausland/merkel-erdogan-165.html

[3] www.heise.de/tp/features/Deutschland-finanziert-tuerkische-Besatzungszone-in-Nordsyrien-4653260.html

7. Februar 2020


Zur Tagesausgabe / Zum Seitenanfang