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KRIEG/1755: Waffen für die Türkei - Doppelstrategie ... (SB)



Dagdelen nannte die neuen Zahlen einen "Offenbarungseid" der Bundesregierung. Sie belegten "in erschreckender Weise die skrupellose Hochrüstung der Türkei". (...) "So entlarvt sich das ganze Gerede von einer restriktiven Rüstungsexportpolitik selbst als großer Schwindel."
Sevim Dagdelen (Stellvertretende Vorsitzende der Linksfraktion) [1]

Der Angriffskrieg des Erdogan-Regimes in Nordsyrien nötigte auch der Bundesregierung eine Reaktion ab, die jedoch so zahnlos ausfiel, daß man eher von einer symbolpolitischen Geste als einer wirksamen Sanktion sprechen mußte. Außenminister Heiko Maas gab bekannt, daß keine Lieferungen von Rüstungsgütern mehr an den NATO-Partner genehmigt werden, die in dem Konflikt genutzt werden können. Andere Waffenexporte sollten aber weiterhin erlaubt und bereits genehmigte Geschäfte von dem Lieferstopp nicht betroffen sein. Bundeskanzlerin Angela Merkel hat unterdessen etwas schärfer gefaßte Sanktionen angedeutet. Wie sie in ihrer Regierungserklärung zum bevorstehenden EU-Gipfel im Bundestag erklärte, sei der türkische Angriff auf die kurdische YPG "ein humanitäres Drama mit großen geopolitischen Folgen". Deshalb werde die Bundesregierung "unter den jetzigen Bedingungen auch keine Waffen an die Türkei liefern". Forderungen, den "Flüchtlingspakt" mit der Türkei zu stoppen, wies die Kanzlerin zurück. [2]

Damit hat Angela Merkel wie so oft ein mehrdeutiges Signal in die Welt gesetzt, ohne zu erläutern, worauf es konkret hinauslaufen soll. Nimmt man die Kanzlerin beim Wort, erteilt die Bundesregierung jetzt gar keine Liefergenehmigungen mehr für die Türkei, egal um welche Waffen es sich handelt. Darüber hinaus könnte ihre Aussage bedeuten, daß auch die Auslieferung bereits genehmigter Geschäfte gestoppt wird. Das wäre dann ein kompletter Rüstungsexportstopp, wie er für Saudi-Arabien bereits besteht und wie ihn Teile der Opposition seit Tagen auch für die Türkei fordern. Eine Bestätigung in der einen oder anderen Richtung gab es aber zunächst nicht. [3]

Dafür brachte jedoch eine Anfrage von Sevim Dagdelen, stellvertretende Vorsitzende der Linksfraktion im Bundestag, an das Wirtschaftsressort harte Fakten an den Tag. Aus der Antwort des Ministeriums zu neuen Exportzahlen geht hervor, daß die Türkei in den ersten acht Monaten dieses Jahres Kriegswaffen für 250,4 Millionen Euro aus Deutschland erhalten hat. Obgleich noch vier Monate bis zum Jahresende fehlen, ist das schon jetzt der höchste Jahreswert seit 2005. Bereits im vergangenen Jahr machten die Lieferungen an die Türkei mit 242,8 Millionen Euro fast ein Drittel aller deutschen Kriegswaffenexporte (770,8 Millionen Euro) aus. Damit war die Türkei klar die Nummer eins unter den Empfängerländern deutscher Rüstungsgüter und das könnte trotz eines teilweisen Rüstungsexportstopps wegen der Syrien-Offensive auch in diesem Jahr wieder der Fall sein.

Als rechtfertige dies die Genehmigung des Rüstungsexports, erklärte das Wirtschaftsministerium, daß es sich bei den gelieferten Waffen um "Ware ausschließlich für den maritimen Bereich" handle. Aus dieser wortkargen Mitteilung darf man wohl schließen, daß es wahrscheinlich zum großen Teil um Material für sechs U-Boote der Klasse 214 geht, die in der Türkei unter maßgeblicher Beteiligung des deutschen Konzerns Thyssenkrupp Marine Systems gebaut werden. Die Bundesregierung hatte die Lieferung von Bauteilen bereits 2009 genehmigt und den Export mit einer sogenannten Hermes-Bürgschaft in Höhe von 2,49 Milliarden Euro abgesichert. Inzwischen werden zumindest solche Bürgschaften für Kriegswaffenexporte in die Türkei nicht mehr erteilt.

Auch was die neuen Exportgenehmigungen der Bundesregierung für die Türkei betrifft, legen diese für 2019 erstmals seit drei Jahren wieder zu, wobei die Steigerung überdies deutlich ausfällt. Bis zum 9. Oktober gab die Bundesregierung grünes Licht für Rüstungslieferungen im Wert von 28,5 Millionen Euro, mehr als doppelt soviel wie im ganzen Jahr 2018 mit 12,9 Millionen Euro. Dabei hat sich die Zahl der Einzelgenehmigungen sogar von 58 im gesamten Jahr 2018 auf 182 in den ersten neuneinhalb Monaten dieses Jahres mehr als verdreifacht. 2016 waren noch Rüstungsgüter für 84 Millionen Euro genehmigt worden. Laut Zahlen des Stockholmer Friedensforschungsinstituts Sipri zählte Deutschland in den vergangenen zehn Jahren zu den fünf wichtigsten Waffenlieferanten der Türkei nach den USA, Südkorea, Italien und Spanien.

Daß die Bundesregierung Einschränkungen des Rüstungsexports an das Erdogan-Regime im Munde führt, doch zugleich im laufenden Jahr mehr Ausfuhren von Kriegswaffen in die Türkei denn je genehmigt, wurde von Dagdelen, wie eingangs zitiert, scharf kritisiert. Die boomende Zusammenarbeit zwischen Berlin und Ankara auf dem Feld militärischer Güter korrespondiert mit einer diesjährigen Trendwende beim gesamten deutschen Waffenexport. Nachdem dessen Volumen in den vergangenen drei Jahren kontinuierlich geschrumpft war und zuletzt bei 4,8 Milliarden Euro gelegen hatte, genehmigte die Bundesregierung im ersten Halbjahr 2019 insgesamt Rüstungsausfuhren im Wert von 5,3 Milliarden Euro und damit bereits mehr als im gesamten Vorjahr. Im Vergleich zum Vorjahreszeitraum bedeutet das ein Plus von 107 Prozent.

Wenngleich sich die sechs U-Boote noch im Bau befinden und daher im aktuellen Krieg der Türkei in Nordsyrien nicht zum Einsatz kommen, mildert das die gebotene Kritik an der rüstungstechnischen Unterstützung des Erdogan-Regimes nicht im mindesten. Ankara greift mit expansionistischen Ambitionen über die türkischen Landesgrenzen hinaus und beansprucht weitere Gebiete für sich. Das gilt für die sogenannte Sicherheitszone im Norden Syriens wie auch griechische Inseln in der östlichen Ägäis und die Gewässer vor Nordzypern, die nach Auffassung der Türkei zu ihrem Festlandsockel gehören. Türkische Streitkräfte halten die international nicht anerkannte Türkische Republik Nordzypern seit 1974 gewissermaßen besetzt, und Ankara will mit Bohrungen vor der Küste die Anteile der türkischen Zyprer am Erdgasgeschäft sichern.

Nachdem türkische Schiffe unter Deckung durch die Marine Erdgaserkundungen vor der Küste Zyperns aufgenommen hatten, trat die Europäische Union auf den Plan und erklärte das Vorhaben für illegal. Die Außenminister der EU-Staaten beschlossen im Sommer Strafmaßnahmen gegen die Türkei. So sollen unter anderem EU-Gelder gekürzt und die Verhandlungen über ein Luftverkehrsabkommen eingestellt werden. Wie es in Brüssel hieß, seien die Provokationen der Türkei inakzeptabel und man stehe in diesem Konflikt auf der Seite Zyperns. Sollte Ankara nicht einlenken, seien auch andere Arten von Sanktionen denkbar, die sich gezielt gegen an den Bohrungen beteiligte Unternehmen oder Einzelpersonen richten könnten.

Daß die Bundesregierung trotz der türkischen Aggressionspolitik im östlichen Mittelmeer gegenüber dem europäischen Mitgliedsstaat Zypern Kriegswaffen für Erdogans Marine ausliefern läßt, sei in hohem Maße unverantwortlich, kritisierte damals die Linken-Politikerin Dagdelen. "Die Rüstungsexporte in das autoritäre Regime Türkei müssen gestoppt werden, sowohl Genehmigungen als auch die tatsächliche Ausfuhr." [4] Die Aufrüstung der türkischen Marine mit deutscher Hilfe ist mittelfristig ebenso brisant wie die Leopard-Panzer und anderen Kriegswaffen aus deutscher Produktion, die gegenwärtig im Zuge des Vernichtungs- und Vertreibungskriegs gegen die kurdische Bevölkerung und aller bei ihr schutzsuchenden Menschen in Nordsyrien zum Einsatz kommen. Diese U-Boote verfügen über die weltweit höchstentwickelten konventionellen Antriebe, sind sehr schwer zu orten und können wochenlang tauchen, was sie zu bedeutenden maritimen Waffensystemen nicht nur im Mittelmeer macht.

Darüber hinaus können sie mit atomar bestückten Marschflugkörpern aufgerüstet werden, so daß sie über Zweitschlagkapazitäten verfügen. Obgleich die Türkei über keine eigenen Atomwaffen verfügt, sind solche doch in dem NATO-Land stationiert. Zudem hat Erdogan bereits laut über eine eigenständige atomare Aufrüstung nachgedacht, während in der Türkei das erste Atomkraftwerk zur vorerst zivilen Nutzung errichtet wird. Wenn es auch tausend Gründe gibt, einen Sturz des Erdogan-Regimes lange vor Fertigstellung des Akws und Einsatzbereitschaft der U-Boote anzustreben, zeugt doch auch dieser Kontext von einer katastrophalen Bereitschaft der Bundesregierung, die Karte der Rüstungsexporte um buchstäblich jeden Preis zu spielen.

Wären die aktuellen Umfragewerte von SPD und Union die maßgeblichsten Parameter in dieser Frage, böte das Stimmungsbild der Medien und in der Bevölkerung derzeit durchaus Anlaß, Erdogans Angriffskrieg heftig in die Parade zu fahren. Zwar hält sich die Unterstützung der bedrängten Kurdinnen und Kurden in engen Grenzen, doch fürchten viele Menschen hierzulande ein Wiedererstarken des IS und Millionen weiterer Flüchtlinge, die sich in ihrer Not auf den Weg nach Europa machen. Daß die Bundesregierung den Eindruck erweckt, sie übe Druck auf Ankara aus, während sie im Gegenteil die Aufrüstung des Erdogan-Regimes forciert, zeugt von fundamentalen Interessen an einer Zusammenarbeit in essentiellen Aspekten, die weit tiefer als der Wellenschlag aktueller Tagespolitik reichen.


Fußnoten:

[1] www.stern.de/politik/deutschland/tuerkei-erhielt-2019-waffen-im-wert-von-250-millionen-euro-aus-der-brd-8957548.html

[2] www.jungewelt.de/artikel/364949.bundestag-merkel-humanitäres-drama.html

[3] www.spiegel.de/politik/deutschland/angela-merkel-bundesregierung-liefere-keine-waffen-mehr-an-die-tuerkei-a-1292024.html

[4] www.sueddeutsche.de/politik/deutschland-ruestung-exporte-tuerkei-1.4526495

18. Oktober 2019


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