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KRIEG/1748: Afghanistan - Kriegslage zugespitzt ... (SB)



Einen Dollar pro Tag braucht ein Mensch nach unserer Definition zum Leben, um die notwendigsten Bedürfnisse decken zu können. Und es stellt sich heraus, dass mehr als die Hälfte der Bevölkerung weniger als das zur Verfügung hat. Besonders schlimm ist, dass fast drei Viertel der Bevölkerung nahe an der Grenze zur Armut sind.
Shubham Chaudhuri (Landesdirektor der Weltbank für Afghanistan) [1]

Afghanistan gilt als der Inbegriff eines Landes, das von Armut, Elend und Krieg ohne Aussicht auf ein Ende dieser Verheerungen geprägt ist. Nach Jahrzehnten der Eskalation lebensfeindlicher Verhältnisse drängt sich der Eindruck auf, daß das am Hindukusch nie anders gewesen und gleichsam das Wesensmerkmal einer rückständigen Gesellschaft ist, die den Anschluß an die Moderne aufgrund der ihr innewohnenden Strukturen zwangsläufig verfehlt hat. Daß diese kolonialistische Sichtweise trügt, bezeugen Berichte aus den 1960er und 70er Jahren, die eine differenzierte Perspektive eröffnen und zumindest ahnen lassen, daß eine andere Entwicklung möglich gewesen wäre, hätten ausländische Interventionen nicht ihre Ansätze zerstört und das Land bis heute mit imperialistischer Aggression überzogen. Angesichts seiner zentralen geographischen Lage ist Afghanistan Brückenkopf und Drehscheibe des Ringens der Großmächte um geostrategische Positionen, Rohstoffe und deren Transportwege, in jüngerer Zeit auch reichhaltige Vorkommen weltweit begehrter Bodenschätze. Für die westlichen Okkupanten ist das Land gewissermaßen ein nach Zentralasien weisender Keil zwischen China und Rußland, den beiden mutmaßlichen Widersachern in den finalen Schlachten um globale Vorherrschaft.

Wer sich mit den Warlords und islamistischen Fraktionen befaßt, wird immer wieder auf deren Unterstützung durch Regional- oder Großmächte stoßen, die auf diese Weise ihre Stellvertreterkriege austragen und ihren Einfluß in Afghanistan auszubauen trachten. Es wurden Milliarden in die Kriegsführung investiert und weitere Milliarden ins Land gepumpt, um kleine und große Statthalter zu alimentieren, die einander aufs Blut bekämpfen und nur in einem einig sind: Ihrem Desinteresse an dem Schicksal der Bevölkerung, das sie als willige Werkzeuge ihrer Auftraggeber mit Füßen treten. Wenngleich die Sieger dieses endlos anmutenden Hauens und Stechens noch lange nicht feststehen, werden dessen Verlierer tagtäglich produziert. Auch Deutschland mischt dabei kräftig mit, steht doch die Bundeswehr seit langem als Besatzungstruppe im Land, während Potemkinsche Dörfer diverser Ausbildungs- und Aufbauprojekte vorgehalten werden, deren Finanzierung in den Taschen lokaler Schutzherren oder Marionetten landet.

Nach einer jüngst veröffentlichten Studie des US-Forschungsinstituts Gallup lebt ein großer Teil der afghanischen Bevölkerung in Armut und Elend. 85 Prozent der Befragten hätten angegeben, sie litten unter ihrer Lebenssituation. Das ist die höchste Zahl seit Beginn solcher Untersuchungen im Jahr 2001. Nach Einschätzung der Weltbank lebt die Hälfte der Bevölkerung unter der von den Vereinten Nationen definierten Armutsgrenze. Armut sei ein großes und weit verbreitetes Problem, sagt der eingangs zitierte Shubham Chaudhuri, der für Afghanistan zuständige Landesdirektor der Weltbank. Das Leben der Menschen sei geprägt von Hoffnungslosigkeit, heißt es in dem Gallup-Bericht. Afghanistan gehört zu den Ländern mit der niedrigsten Bildungsrate weltweit. Nach Angaben der UNESCO können unter den über 15jährigen nur drei von zehn lesen und schreiben. Und jedes vierte Kind muß seinen Eltern bei der Arbeit helfen, statt zur Schule zu gehen, weil die Familien anders nicht überleben können.

Nach Angaben der Vereinten Nationen war im vergangenen Jahr die höchste Zahl ziviler Opfer seit dem Beginn der Militärintervention der USA und der NATO vor 18 Jahren zu verzeichnen. Besonders betroffen seien Kinder, sagte Richard Bennett von der Unterstützungsmission UNAMA Anfang des Jahres in Kabul: "3804 Zivilisten wurden im Jahr 2018 getötet, darunter eine Rekordzahl von Kindern. Fast 1.000 Jungen und Mädchen sind im vergangenen Jahr infolge des Konflikts gestorben, 927 um genau zu sein. Insgesamt gab es 10.993 Zivilisten, die getötet oder verletzt wurden." Dabei werden 2243 Tote und 4737 Verletzte auf Gewalt von seiten der regierungsfeindlichen Elemente zurückgeführt, während 1185 Tote und 1427 Verletzte mit der Regierung verbündeten Kräften zugeschrieben werden. Selbstmordanschläge und Luftangriffe verursachten jeweils die größte Zahl an zivilen Opfern, die die UNAMA je für diese beiden Kategorien von Gewalt registriert hat. [2]

Die Schreckensbilanz grassierender Armut und eskalierender Kriegsgewalt wird im Gallup-Bericht euphemistisch auf die schlechte Sicherheitslage, die politische Instabilität und die Anzeichen einer geringer werdenden internationalen Unterstützung zurückgeführt. Daraus abzuleiten, daß das Engagement der westlichen Mächte gescheitert sei, wo doch anstelle von Fortschritten nur eine Verschlimmerung der Verhältnisse eingetreten sei, hieße indessen, der Propaganda vorgehaltener Einsatzziele auf den Leim zu gehen, die immer wieder neu aufgewärmt wird. Die Bundeswehr ist nicht in Afghanistan, um Demokratie zu bringen, die Infrastruktur aufzubauen oder die Befreiung der Mädchen und Frauen vom patriarchalen Joch zu befördern. Sie repräsentiert deutsche Interessen mit Waffengewalt, sich Einfluß in der Region zu verschaffen, was in seiner perspektivischen Bedeutung weit über einen Abgleich mit konkret realisiertem ökonomischen Zugewinn oder anderen vordergründigen Parametern hinausweist. In einer Kette sukzessive ausgeweiteter Kriegsbeteiligung geht es insbesondere darum, sich günstige Ausgangsbedingungen für den nächstfolgenden Waffengang zu verschaffen. Wer dabei nicht mitzieht droht auf der Strecke zu bleiben.

Die Lehre aus dem Massaker von Kundus, das auf deutschen Befehl verübt wurde, war bekanntlich nicht der Abzug der Bundeswehr aus Afghanistan, ja selbst eine angemessene finanzielle Entschädigung der Hinterbliebenen wurde verweigert. Oberst Klein wurde entlastet und bald darauf zum General befördert, hatte er doch den Beweis erbracht, daß auch die deutsche Truppe handfest kriegführen kann. Und da keine Besatzungsmacht an den Hindukusch gekommen ist, um freiwillig wieder zu gehen, dreht sich die Umwidmung des Einsatzes und ein möglicher Teilabzug in erster Linie um die Frage, auf welche Weise dennoch eine dauerhafte Präsenz und Einflußnahme gesichert werden könnte. Ein wesentlicher Ansatz ist die Umlastung der Risiken auf einheimische Sicherheitskräfte, die denn auch den mit Abstand höchsten Blutzoll im Kampf gegen Taliban, IS, Al Kaida und nicht selten auch die einheimische Zivilbevölkerung zu entrichten haben. Unter dem ISAF-Mandat hatten NATO-Soldaten in Afghanistan auch gekämpft, unter dem Mandat Resolute Support Mission (RSM) dürfen sie seit Anfang 2015 offiziell nur noch "trainieren, assistieren und beraten". Das zahlt sich insofern aus, als beim Einsatz in Afghanistan bisher 58 deutsche Soldaten zu Tode gekommen sind, während die teils noch im Kampfeinsatz stehenden US-Streitkräfte bereits rund 2400 Opfer zählen. Die afghanischen Opfer, soweit sie überhaupt registriert werden, übersteigen diese Zahlen um ein Vielfaches.

Das Bestreben der ausländischen kriegführenden Mächte, den aufwendigen und kostspieligen Einsatz ihrer Truppen zu reduzieren, um diese an anderen Schauplätzen einzusetzen, kreuzt sich mit dem gegenläufigen Interesse, die eigene Präsenz nicht soweit zurückzufahren, daß ihr Einfluß vollständig schwindet. Die US-Streitkräfte haben auch in Afghanistan eine Kette von Stützpunkten etabliert, die sie dauerhaft mit geringem permanenten Personalbedarf zu betreiben hoffen. Trumps Rückzug aus den Gesprächen mit den Taliban, die weit fortgeschritten zu sein schienen, ist daher nicht allein mit der Sprunghaftigkeit des US-Präsidenten zu erklären. Die Taliban fordern einen Fahrplan für den Rückzug sämtlicher ausländischen Streitkräfte, den Washington nicht in letzter Konsequenz mitvollziehen will. Derzeit sind schätzungsweise zwischen 13.000 und 14.000 US-Soldaten in Afghanistan stationiert. Bis zu 8475 von ihnen waren zuletzt an dem NATO-Ausbildungseinsatz beteiligt, der Rest unterstützt unter anderem an der Seite der afghanischen Streitkräfte direkt den sogenannten Anti-Terror-Kampf im Land. Nach Angaben des US-Sondergesandten für Afghanistan, Zalmay Khalilzad, hätten die US-Streitkräfte im Falle eines Deals innerhalb von 135 Tagen rund 5000 Soldaten von fünf Stützpunkten abgezogen. Diese Pläne sind nun Makulatur.

Das Scheitern der Friedensverhandlungen zwischen USA und Taliban hat auch für die Bundeswehr erhebliche Konsequenzen, da bei einem Deal nicht nur US-Truppen, sondern auch viele deutsche Soldaten das Land verlassen sollten. Hätten die USA beispielsweise 30 Prozent ihrer Soldaten abgezogen, wären auch Deutschland und andere Bündnispartner mit einem entsprechenden prozentualen Anteil gefolgt. Die Bundeswehr beteiligt sich derzeit mit bis zu 1300 Soldaten an dem Ausbildungseinsatz für die afghanischen Sicherheitskräfte, wobei sie diese Mandatsobergrenze mit aktuell rund 1180 Soldaten nicht ganz ausschöpft, deren Zahl im Falle eines Teilabzugs auf unter 1000 gesunken wäre. In Kreisen der NATO wird Trumps Kehrtwende offenbar nicht nur negativ gesehen. Dort war unter anderem befürchtet worden, daß es im Fall eines schnellen Truppenabzugs zu einer weiteren Destabilisierung des Landes kommen könnte. [3]

Die Reduzierung der NATO-Truppen war vor allem als simulierter Beitrag zum Friedensprozeß mit Signalwirkung an die Taliban gedacht. Der Abbruch der Verhandlungen seitens des US-Präsidenten hat wie befürchtet zu einer umgehenden Eskalation geführt. Ein Angriff in der Provinz Helmand hat nach Auskunft eines Augenzeugen und zweier afghanischer Regierungsangestellter mindestens 40 Zivilisten das Leben gekostet, bei denen es sich um Teilnehmer einer Hochzeitsgesellschaft gehandelt haben soll. Angreifer waren afghanische Spezialeinheiten, die am Boden sowie aus der Luft von der US-Armee unterstützt wurden. Laut einem Statement des US-Kommandos in Afghanistan handelte es sich um "gezielte Präzisionsangriffe", wobei die Angaben, wer die Zivilisten getötet hat, wie üblich weit auseinandergehen. [4] Wer gehofft haben mochte, daß die direkten Gespräche zwischen den USA und den Taliban den seit 18 Jahren währenden Waffengang deeskalieren oder gar beenden könnten, sieht sich getäuscht. Die Kriegslage in Afghanistan spitzt sich zu.


Fußnoten:

[1] www.deutschlandfunk.de/afghanistan-armut-elend-und-kein-frieden-in-sicht.1773.de.html

[2] www.ecoi.net/de/laender/afghanistan/themendossiers/allgemeine-sicherheitslage-in-afghanistan/

[3] www.n-tv.de/politik/Bundeswehr-haelt-Truppen-in-Afghanistan-article21293956.html

[4] www.heise.de/tp/features/Afghanistan-Der-hohe-Blutzoll-der-Bevoelkerung-4537974.html

25. September 2019


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