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KRIEG/1725: Afghanistan - Rückzug des Westens ... (SB)



Wenn die Vereinigten Staaten sich bis auf ein Restkontingent aus Afghanistan zurückziehen, gibt es auch für uns keinen Grund mehr, diesen Einsatz fortzusetzen.
Harald Kujat (Früherer Generalinspekteur der Bundeswehr) [1]

Der ehemals ranghöchste Offizier der Bundeswehr steht mit der eingangs zitierten Einschätzung nicht allein. Gleichlautend äußerte sich auch der vormalige NATO-General Egon Ramms: "Der Truppenabzug würde bedeuten, dass die Amerikaner wesentliche Unterstützungsleistungen für die anderen dort eingesetzten Nationen wie beispielsweise Deutschland nicht mehr leisten könnten. Der Einsatz 'Resolute Support' hätte dann letztendlich keinen Sinn mehr." [2] So sieht es auch Stefan Liebich, der außenpolitische Sprecher der Linksfraktion im Bundestag: Allein könne die Bundeswehr am Hindukusch nichts ausrichten. Die maßgebliche Frage, welches die ursprünglichen Ziele der deutschen Kriegsbeteiligung in Afghanistan waren, tritt angesichts der Fahrt aufnehmenden Absetzbewegung vollends in den Hintergrund. Rette sich wer kann, heißt die Devise, da es letzten Endes nur noch darum geht, wie die westlichen Besatzungsmächte ihre eigenen Kontingente sichern und versorgen können. Wenn Schutz und Unterstützung deutscher Soldaten nicht hundertprozentig gewährleistet sei, müsse die Bundeswehr den Einsatz in Afghanistan beenden. Das stehe "außer Frage", plädiert Kujat für einen Schlußstrich. Er rechnet nicht damit, daß einzelne NATO-Staaten wie etwa Großbritannien ihre Kontingente aufstocken, um den Abzug der US-Soldaten auszugleichen. [3] Wenngleich niemand von "Niederlage" spricht, da es sich nach offizieller Lesart um eine Unterstützungs- und Ausbildungsmission, nicht aber um die Kriegsführung eines Besatzungsregimes handelt, ist das endgültige Scheitern nur noch eine Frage der Zeit.

Den Stein ins Rollen gebracht hat Donald Trump. Er hat den Abzug der US-Truppen aus Syrien befohlen und plant offenbar auch, die Hälfte des amerikanischen Kontingents aus Afghanistan heimzuholen. In der vergangenen Woche hatte ein US-Regierungsvertreter einen "bedeutenden" Truppenabzug aus Afghanistan angekündigt. Das Wall Street Journal berichtete, daß Trump den Abzug von mehr als 7000 amerikanischen Soldatinnen und Soldaten plane. Gegenwärtig befinden sich rund 14.000 US-Soldaten im Rahmen der NATO-Mission "Resolute Support" und von Anti-Terror-Einsätzen im Land. Eine offizielle Bestätigung der Abzugspläne liegt aber noch nicht vor. So erklärte der Oberbefehlshaber der US- und NATO-Truppen in Afghanistan, General Scott Miller, bei einem Besuch in der ostafghanischen Provinz Nangarhar, er habe keinen Abzugsbefehl erhalten. Bei einem Treffen mit dem Provinzgouverneur fügte Miller jedoch hinzu, daß die US-Truppen künftig auch im Fall einer Verkleinerung des Kontingents weiter an der Seite der afghanischen Sicherheitskräfte stünden.

Noch scheint unter den US-Militärs die vage Hoffnung nicht restlos erloschen zu sein, ihr irrlichternder Präsident könne sich eine abermalige Kehrtwende einfallen lassen. Trump hatte seinen Vorgänger Barack Obama wegen der US-amerikanischen Präsenz am Hindukusch heftig attackiert und vor seiner Amtseinführung im Dezember 2016 erklärt, daß die Politik von "Intervention und Chaos" beendet werden müsse. Um so überraschender kam dann im Sommer 2017 seine Warnung vor einem Machtvakuum in Afghanistan, der die Entsendung von 3000 zusätzlichen Soldaten folgte. Inzwischen scheinen jedoch selbst für Trump die Würfel gefallen zu sein. Seit 2001 sind mehr als 2400 US-Soldaten im Leichensack aus Afghanistan zurückgekehrt, und so dürfte der Präsident schon aufgrund wachsender innenpolitischer Turbulenzen entschlossen sein, mit dem Rückzug von mehreren tausend Militärangehörigen bei seinen Anhängern zu punkten.

Der Marionettenregierung in Kabul steht das Wasser bis zum Hals, da ihre Existenz ganz und gar von westlichen Truppen und Geldern abhängt. Zwar verkündete Präsident Aschraf Ghani, ein Rückzug der Amerikaner würde "keine Auswirkung auf die Sicherheit" in Afghanistan haben, da die Regierung die "vollständige Kontrolle" im ganzen Land ausübe. Absurder konnte die Durchhalteparole nicht sein, da die Taliban schon jetzt so große Teile des Landes kontrollieren wie seit 2001 nicht mehr. In den meisten Landgebieten und Provinzen hätten sie die Vorherrschaft erlangt oder die Kontrolle bereits vollends übernommen, nur in den Städten und Distriktzentren könne sich die Regierung noch militärisch behaupten, so der Sicherheitsexperte Thomas Ruttig vom "Afghanistan Analysts Network". Schon die Ankündigung eines US-Teilabzugs könne einen Domino-Effekt auslösen und die Regierung ins Wanken bringen, falls sich Milizen und Warlords auf die Seite der Taliban schlagen. Als erste innenpolitische Konsequenz auf die aktuelle Entwicklung gab die Regierung bekannt, die für April geplante Präsidentschaftswahl werde "auf Grund bestimmter Umstände" um zwei bis drei Monate verschoben.

Selbst die Mutmaßung, daß sich die Regierung in den Städten noch militärisch halten könne, steht auf tönernen Füßen. 22 große Anschläge haben in diesem Jahr die Hauptstadt erschüttert, deren Sicherheitslage sich dramatisch verschlechtert. Kabul ist einer der gefährlichsten Orte der Welt. Bombenanschläge, Raketenangriffe, Entführungen - das alles ist Alltag in der afghanischen Hauptstadt. Am 24. Dezember stürmten bewaffnete Männer ein Grundstück der Regierung, nachdem sie zuvor eine Autobombe gezündet hatten. Stundenlang lieferten sich die Angreifer Schußwechsel mit Sicherheitsleuten, mindestens 43 Menschen wurden getötet, 25 weitere verletzt.

Die britische Regierungschefin Theresa May hat sich bislang stets nach Kräften bemüht, Trumps Forderungen nach einem größeren militärischen Engagement zu erfüllen. So wurde das britische Kontingent im Juli 2018 um 440 Soldaten auf 1100 aufgestockt. London war von der Ankündigung der US-Administration nicht unterrichtet, daß die Zahl der US-Soldaten erheblich reduziert werden soll. Nach Angaben des Senders BBC hatten jedoch hochrangige britische Offiziere schon seit längerem befürchtet, daß der US-Präsident die bisherige Politik in Afghanistan für obsolet erklären könnte. Wie Verteidigungsminister Gavin Williamson nun betonte, werde der Kampf gegen die radikalen Islamisten in Afghanistan fortgesetzt. Allerdings werde sich die britische Truppenstärke auch nach den jüngsten Ankündigungen aus Washington nicht erhöhen, grub er Spekulationen das Wasser ab, London könnte den militärischen Aderlaß durch eine Aufstockung seines Kontingents kompensieren.

Deutsche Soldatinnen und Soldaten sind seit 17 Jahren am Hindukusch stationiert, wo sie bis 2014 im Windschatten der US-Armee gegen Taliban und in jüngerer Zeit auch den IS kämpften. Seither ist der deutsche Einsatz mit dem Hauptstandort Masar-i Scharif offiziell eine Ausbildungsmission für afghanische Sicherheitskräfte, auf die der Blutzoll der Kriegsführung gegen die aufständischen Kräfte abgewälzt wurde. Am schlimmsten wird die Zivilbevölkerung von diesem Konflikt in Mitleidenschaft gezogen, die nach UN-Angaben allein im abgelaufenen Jahr rund 20.000 Opfer zu beklagen hat. Für die Bundeswehr schlagen beim verlustreichsten Einsatz ihrer Geschichte bislang 58 Todesfälle zu Buche, mehr als zehn Milliarden Euro hat die deutsche Präsenz am Hindukusch bislang gekostet.

Da die Bundeswehr eine Parlamentsarmee ist, muß der Bundestag ihre Auslandseinsätze genehmigen. Die Zustimmung zu einem Einsatz ist grundsätzlich auf zwölf Monate begrenzt und muß dann bei Bedarf verlängert werden. Die Verlängerung der Mission in Afghanistan hatte der Bundestag im März 2018 beschlossen. In der SPD hatte es damals acht Gegenstimmen gegeben, die Fraktion der Grünen war mit 18 Ja- und 33 Nein-Stimmen gespalten, nur Die Linke lehnte die Verlängerung des Einsatzes geschlossen ab. Die Bundeswehr beteiligt sich daran mit 1100 Soldaten, wobei laut Mandat bis zu 1300 Soldaten möglich wären. Sie könnten sich ohne die Amerikaner und deren Hilfe beim Schutz, bei der Aufklärung und der Logistik nicht halten.

Die Bundeswehr war seit 1992 an 53 internationalen Einsätzen beteiligt, die nach offizieller Version der Stabilisierung ehemaliger Bürgerkriegsländer, Krisenbewältigung oder auch Bekämpfung von Terrorismus dienten. Wie aus der Antwort auf eine parlamentarische Anfrage des Linken-Abgeordneten Andrej Hunko hervorgeht, haben diese Auslandseinsätze zusammen mindestens 21,6 Milliarden Euro gekostet, soweit dies überhaupt ermittelbar war. Bei diesen Kosten handelt es sich um Zusatzausgaben speziell für die Einsätze, etwa für Transport, Aufbau und Unterhaltung von Feldlagern oder auch Zulagen für die Soldaten. Nach einer Aufstellung des Verteidigungsministeriums wurde mit 10,2 Milliarden Euro fast die Hälfte davon für die NATO-Missionen "ISAF" und "Resolute Support" in Afghanistan ausgegeben. Dahinter folgen die Balkaneinsätze im Kosovo (3,5 Milliarden), in Kroatien und Bosnien-Herzegowina (1,2 Milliarden) sowie die Anti-Terror-Mission "Enduring Freedom" in Afghanistan, Kuwait und am Horn von Afrika (1,1 Milliarden).

Derzeit sind 3500 deutsche Soldaten an dreizehn Missionen beteiligt, die mit Abstand meisten in Afghanistan und im westafrikanischen Mali. Hunko kritisierte diese Einsätze mit den Worten: "Nirgendwo wurden nach meiner Einschätzung die politisch formulierten Ziele an den Einsatz erfüllt. Ich fordere jetzt eine kritische Evaluierung der bisherigen Einsätze, statt neue Einsätze vorzubereiten. [4] Daß die Bundesregierung diese Auswertung verweigern wird, liegt zum einen daran, daß selbst die offiziell ausgewiesenen Ziele in der Tat verfehlt wurden. Vor allem aber waren diese politisch formulierten Absichten stets ein Deckmantel für die zugrunde liegenden Interessen, wie allein schon der Wandel der kommunizierten Begründungen belegt. Wurde die Bundeswehr zunächst in angeblich humanitärer Mission zum Wiederaufbau nach Afghanistan entsandt, so bedurfte es etlicher Jahre und eines gestürzten Bundespräsidenten, bis deutsche Politik offen aussprach, daß "unsere" Wirtschaftsinteressen auch am Hindukusch oder am Horn von Afrika verteidigt würden.

Und wenn das schiefgeht, wie absehbar in Afghanistan? Dann bleibt der Trost, daß deutsche Politik noch immer die größte Erfahrung im Umgang mit verlorenen Kriegen hat und die Flinte niemals ins Korn wirft.


Fußnoten:

[1] www.tagesspiegel.de/politik/us-aussenpolitik-unter-donald-trump-welche-folgen-haette-ein-teilabzug-der-usa-aus-afghanistan/23799292.html

[2] www.saarbruecker-zeitung.de/politik/themen/kujat-erwartet-bundeswehr-abzug-aus-afghanistan_aid-35349665

[3] www.spiegel.de/politik/ausland/afghanistan-generalinspekteur-erwartet-abzug-der-bundeswehr-a-1245454.html

[4] www.saarbruecker-zeitung.de/politik/themen/auslandseinsaetze-der-bundeswehr-kosteten-21-6-milliarden-euro_aid-34762289

28. Dezember 2018


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